Anläßlich des 150jährigen Geburtstages des Malers, Karikaturisten und Illustratoren Hermann Schlittgen soll hier eine Internetpräsenz entstehen, die es eigentlich schon lange geben sollte. Und immer wieder wird die Frage gestellt, warum erst jetzt? Während sich Gelehrte und "Kunstkenner" stritten, wer denn nun den Impressionismus von Paris nach München brachte; und wer es denn nun gewesen ist, den so belächelten Edvard Munch und seine neue Kunst in Deutschland zumindest annähernd dem deutschen Publikum nahe brachte - immer wieder stößt man dann auf den Namen Hermann Schlittgen, der, viel gereist, seine Spuren nicht nur in München und Wasserburg hinterlassen hat. Möge dies ein Beitrag sein, um den so interessanten Künstler und seine Werke ein wenig näher zu bringen.

Thomas Boyde - Leipzig, Juni 2009

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Am 23. Juni 1859 wurde der Maler Hermann Schlittgen in Roitzsch geboren

"Du bist ja gar nicht in Roitzsch geboren, sondern bloß bei Roitzsch, auf dem Felde!" Tatsächlich gebar Schlittgens Mutter den Knaben während der Getreideernte am 23.06.1859. Kein sonderlich begrüßenswerter Umstand, denn Hungersnöte und Kriege durchzogen Deutschland. Schlittgens Eltern starben beide 1866 an der durchziehenden Cholera. Der Junge wuchs dann bei seinem Roitzscher Onkel Rudolph auf, der, wie die Roitzscher zu sagen pflegten, "heimlich Gelder liegen hatte und ein großer Geizhals war!". Ein Glücksfall für Schlittgen war der Anfang seiner Schulzeit:

"Unser alter Lehrer starb, und ein neuer kam, ein großes Ereignis für mich, es wurde entscheidend für mein ganzes Leben!"

Der "Neue" hieß Wilhelm Viole, ein künstlerisch begabter Mann, der Schlittgens Malereien, Gedichte und Illustrationen in Schulheften ohne Widerspruch hinnahm. "So fahre fort! Dein Freund Viole!" - und der schüchterne Junge hatte einen Gleichgesinnten gefunden. Karikaturen und Skizzen wurden dann in Schulbüchern gezeichnet, die Viole für besonders begabte Schüler eingerichtet hatte. Mit sauberer Tuschezeichnung und reich verzierten, bunten Zierbuchstaben und feinem Rankenwerk erstellte Schlittgen nicht nur die Zweckinschrift dieser Ausgabe, sondern illustrierte auch deren Beiträge. Der eher verträumte junge Schüler besaß eine enorme Beobachtungsgabe, und schon als kleiner Junge sah er durchziehende Truppenkolonnen an der Bitterfelder Chaussee und war begeistert von gefangenen Franzosen, die auf den Roitzscher Gütern untergebracht waren. Der junge Hermann stand oft dabei und konnte nicht genug staunen, wie diese "Rothosen" mit den Armen gestikulierten und so schön mit den Augen rollen konnten.
Als 14jähriger hatte Schlittgen die Gelegenheit, auf der Königlichen Kunstakademie in Leipzig ein Studium zu beginnen. Der "Verein zur Unterstützung unbemittelter talentvoller Knaben" sorgte für Zeichen- und Schulutensilien, seine Unterbringung im Barfußgäßchen bei einem pensioniertem Staatsrat verdankte Schlittgen seinem alten Freund Wilhelm Viole.
Nach Beendigung des Studium 1876 hieß es nun Geld verdienen. Der Direktor der Akademie Ludwig Nieper ernannte Schlittgen zunächst zu seinem Faktotum. Zeichnungen für die "Ludwig-Richter-Bücher", "Hausfreund", "Schalk" oder für die "Gartenlaube" erbrachten nur einen geringen Verdienst. Mit gewissem Übereifer und Überschwänglichkeit folgte Schlittgen einigen Vorbildern, verschuldete sich und versetzte sogar sein Bett. Der Bruch mit Roitzsch lag also nahe, als das sein Onkel erfuhr. Dieser erwartete zudem weitere Hilfen auf dem Gut und Viole verstand die "neue Kunst" nicht. Es blieb ihm also nichts weiter übrig als zu fliehen.
Nach kurzen Aufenthalten in Berlin und Weimar kam der junge Feuerkopf nach München. Sein Talent hatte schnell den für sein ganzes Leben entscheidenden Sieg als Zeichner bei den "Fliegenden Blättern" gewonnen. Charakteristisch waren seine "feschen Leutnants" und "besseren Damen". Scharfe und prägnante Bilder, oft militärisch provozierend, fanden in den "Fliegenden" großes Interesse und waren hausgemacht für den jungen Künstler. Und Bismarck äußert sich mit tiefschürfender Betrachtungsweise: "Sehen Sie diesen Schlittgenschen Leutnant, da ist nicht ein Strich, der unwahr wäre, der ganze Prachtmensch atmet Leben und Natürlichkeit von den spitzen Lackstiefeln, den englischen Beinkleidern bis hinauf zu der typischen Art, wie er den Glassplitter im Auge trägt; und doch prägt sich in der Zeichnung eine so treffende, aber dezente Satire, ein so packender Humor aus, dass man sich mit innigen Wohlbehagen in das Bild vertieft."
Doch das Ziel seiner Sehnsucht als Künstler war die Malerei. Und so ging er nach Aufenthalten in Flandern im Oktober 1884 nach Paris, das damals die hohe Schule der Malerei war. In der Ecole Julian fand er die französische Überlieferung - Paris aber gab ihm mehr: vor allem den Anschluss an die neue Zeit, die neuen Ideale in der Kunst, die er gesucht hatte. Er trat als Maler in der Weltausstellung 1889 zum ersten Mal hervor und wurde ehrenvoll für sein Bild "Die Glasbläser von Kramsach" ausgezeichnet. Dem rastlos Strebenden winkte der Lohn der Meisterschaft. Nach München zurückgekehrt, wurde Schlittgen ein Pionier der modernen Kunst, wie sie von Paris nach Deutschland kam. In den Sezessionskämpfen hatte er eine wichtige und bedeutende Rolle gespielt.
Die Begegnung mit Edvard Munch war für Schlittgen etwas Besonderes. Der bis dahin in Deutschland unbekannte Norweger erregte mit seiner Kunst großes Aufsehen und meist Unverständnis. Die Treffen in einem unscheinbaren Weinlokal, im Berliner "Schwarzen Ferkel", boten Gelegenheit, die Werke Munchs zu verstehen. In Weimar hatte Munch in einem lebensgroßen Porträt Schlittgen dargestellt und es als "Der Deutsche" bezeichnet. Wohl war dies als eine Geste der Anerkennung Munchs für Schlittgens Feingefühl zu verstehen, auch wenn dieser ganz und gar nicht mit dem Gemälde zufrieden war. Munchs Werke zählen heute zu den Wertvollsten in der Kunstgeschichte.
Auf einer Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes, der Vereinigung aller Sezessionen Deutschlands, erhielt Schlittgen für ein Porträt seines Sohnes 1906 den Villa-Romana-Preis. Der Leipziger Maler Max Klinger erwarb 1905 mit privaten Mitteln aus dem Kreise seiner Künstlerfreunde die klassizistische Villa mit vierzig Zimmern und 15.000 Quadratmetern Freigelände am Stadtrand von Florenz als Atelierhaus. Nahezu zeitgleich mit Käthe Kollwitz verbrachte Schlittgen 1 Jahr dort und genoss alle Bequemlichkeiten der Häuslichkeit und der vielen Ateliers, wo er mit seiner Familie zurückgezogen arbeiten konnte.
Viele Jahre litt Schlittgen an einem Augenleiden, konnte so seiner Arbeit nicht nachgehen und nutzte die Zeit, Europa zu erkunden. Seine Bestimmung als Maler aber gelang Schlittgen nach seinem eigenem Urteil erst, als er kein Illustrator mehr war und 61jährig nach Wasserburg am Inn zog. Sich gänzlich der Malerei widmend verbrachte er viele Jahre in dieser Stadt und trug entscheidend zum kunsthistorischen Bild bei. Am 8. Juni 1930 verstarb Schlittgen und hinterließ in Wasserburg ein zeichnerisches und malerisches Werk.
Und Roitzsch? Schlittgen erinnert sich: "Mein Onkel Rudolph, der nun schon lange tot ist, hat mich hart aufgezogen und doch lebt er in meiner Erinnerung als ein ganz interessanter Mensch. Ich selbst habe Roitzsch nicht mehr wiedergesehen seit jener letzten großen Szene nach meiner Flucht aus Leipzig. Aber ich hänge mit ihm zusammen, ich komme nicht von ihm los. Und sein Haus und seine Felder, auf denen ich meine jungen Kräfte verausgabt habe, sie kleben an mir, sie sind mit mir auf Lebenszeit verwachsen." 1937 fand eine Sonderschau im Bitterfelder Museum statt, in der nicht nur einige Arbeiten Hermann Schlittgens gezeigt wurden, auch Wilhelm Viole erhielt einen respektablen Platz für seine Werke.

Thomas Boyde, Leipzig, Juni 2009