"Erinnerungen"

1. Ausgabe:Albert Langen, München, 1926
2. Ausgabe:Stromverlag Hamburg-Bergedorf, 1947




Inhaltsverzeichnis
    Meine Geburt
    Mein Vater, meine Mutter
    Onkel Rudolph
    Beim Herrn Staatsrat
    Die Kunstakademie
    Freiheit
    Beim Bruder
    Weimar
    München
    Im Infanterie-Leibregiment
    Illustrator
    Nach Flandern
    Paris
    Berlin
    Ecole Julian
    "Allotria"
    Die Glasbläser von Kramsach
    Wieder in Paris
    Internationalismus in München
    Der Leibl-Kreis
    Winter in Berlin
    Im "Schwarzen Ferkel"
    Ausflug nach England
    Ein Sommer mit Wilhelm Leibl
    Sezessionen
    Italienische Reise
    Kunstkenner
    Monte Carlo
    Spanien
    Das Idyll am Chiemsee
    Villa Romana
    Venedig
    Der Fremdling
    Ein vornehmer Porträtist
    Natur
    Lori
    Wasserburg am Inn




Meine Geburt  

Es war am 23. Juni 1859 und ein schwüler Sommertag. Die Sonne brannte mit heißer Glut auf die Felder, auf denen die Schnitter das Korn mähten und die Frauen die Garben banden. Der Tag vor Johannis: Sonnwende. Sächsische Landschaft bei Roitzsch zwischen Halle und Bitterfeld, öde, flach, Getreide- und Zuckerrübenfelder, endlos, endlos; die Feldgrenzen gerade Linien, in der Ferne am Horizont ein wagrechter Strich, alles mit dem Lineal gezogen, mit dem Winkel, es stimmt ganz genau, kein Fleckchen Erde ist da, das nicht ausgenutzt wäre. Überall wächst der Segen in schönster Ordnung, nur der allernötigste Raum gelassen für die Wege, damit Menschen und Tiere sich nach hinten und nach vorn bewegen können; keine Zier, kein Baum, kein Hain, der lieblich winkt: sein Schatten könnte das Wachstum hindern; also lieber Sonne, Licht zum Gedeihen, alles Nutzen und Ertrag. In der Ferne nach Halle zu etwas Unerhörtes, ein Fleck, der alles verdirbt, ein kleiner Berg, der aussieht, als hätte ihn einer hingesetzt, um die ordentlichen braven Menschen, die dieses nüchterne Land bewohnen, zu ärgern. In mäßiger Ferne, eine halbe Stunde weit entfernt, das Dorf. Das größte der ganzen Provinz Sachsen, ein Ort von 3000 Einwohnern. Es liegt ganz in Grün eingehüllt, nur die Kirche und die Zuckerfabrik blicken heraus, der Kirchturm altersgrau, gotisch in einfachen Linien.
Mittag, zwölf Uhr. Geläute klingt aus dem Dorf, die Gutsglocken rufen zum Essen. Die Schnitter auf dem Felde legen die Sensen zur Erde, die Frauen binden noch die Garbe, die sie eben zusammengerafft, und alles bewegt sich zur Stelle, wo im Schatten einer Garbenpyramide das Essen und die Flaschen mit Leichtbier versteckt liegen; man setzt sich im Kreis herum und beginnt das Mittagsmahl. Schon ist man fast zu Ende, da fällt erst auf, daß meine Mutter fehlt, man ruft, und sie antwortet nicht. Dann erhebt sich eine Frau, geht zurück zur Arbeitsstelle und findet sie auf einer frischgeschnittenen Garbe sitzen, mit einem neugeborenen Knäblein an der Brust.
Die Frau setzt sich neben sie, die andern essen ruhig weiter und legen sich dann auf derselben Stelle hin und schlafen, wie es ihre Gewohnheit ist. Die Neuigkeit, die ihnen die Frau zuruft, macht gar keinen Eindruck auf sie. Wie alles wieder an die Arbeit geht, ist meine Mutter nicht mehr da, sie ist von ihrem improvisierten Wochenbett aufgestanden, hat den Neugeborenen in ihr Kopftuch gebettet und ist auf dem Wege nach dem Dorf. So erblickte ich das Licht der Welt. Grell, leuchtend war es; ich mag schön geblinzelt haben. Eigenhändig und eigenfüßig trägt mich die Mutter nach Hause. Ich liege im Eßkorb und baumle an ihrer Seite im Schatten, schön eingewickelt, mit dem Deckel darauf. Vorsichtig wird sie ausgeschritten sein, den Korb behütend, damit ich nicht zu arg geschüttelt werde.
Im Dorfe gab es gar keine Aufregung, in unserm Häuschen auch nicht, die Geschwister machten wohl etwas erstaunte Gesichter, aber es rief kein Mensch: "Hurra!", als ich dazukam. Es war nun ein Kind mehr da, das war alles. So wurde mir mein Eintritt in die Welt erzählt, als ich es begreifen konnte. "Ja, deine Mutter, das ist eine Frau," sagte man respektvoll, und oft wurde ich geneckt: "Du bist ja gar nicht in Roitzsch geboren, sondern bloß bei Roitzsch, auf dem Felde."
Nun, es hat mir nichts geschadet, denn Kraft, Gesundheit und Natürlichkeit gab mir die Mutter aus ihrem Vollbesitz, als eine echte Rudolph. Von einer langen Ahnenreihe her aufgestapelt, um es mir eines Tages zu schenken, in freier Luft, unter blauem Himmel, im Sonnenbrand.
Ich sah einmal als Kind einen Familientag der Rudolphs. Dieses Zimmer voll starker großer Männer und prächtiger blühender Frauen, die weither gekommen waren, machte auf mich einen solchen Eindruck, daß ich mich fast fürchtete. Bauern, größere und kleinere, und Schäfer und einige Riesen, die in die Großstadt verschlagen waren.
So ein Schäfer auf einem großen Rittergut, wo die Schafzucht im großen betrieben wird, ist eine wichtige Persönlichkeit, ein Vertrauensmann. Nur ganz tüchtige, verlässige Männer kann man dazu brauchen.
Oft habe ich gefühlt, daß mir der Schäfer ein wenig im Blut liegt. Schäferlicher Abkunft ist vielleicht meine Liebe zur Natur, besonders zu den Tieren. Dann der Träumer, der Spintisierer*, der Beobachter. Gilt doch bei den Menschen in unserm Norden der Schäfer für den Philosophen des Bauernstandes, er genießt einen besondern Respekt als eine Art Fetischmann, der durch seine engere Beziehung zur Natur ihre geheimnisvollen Kräfte kennt und sie den Menschen nützlich machen kann. Ob Schwermut, an der ich immer etwas gelitten habe, bei Schäfern vorkommt, weiß ich nicht, doch ist es nicht unmöglich bei der Einsamkeit des Lebens und der tieferen Betrachtung der Dinge, zu der sie durch ihren Beruf gezwungen werden.

Mein Vater, meine Mutter  

Meine Mutter konnte ich schon mit ein paar Strichen zeichnen, als eine lebendige Lichtgestalt, schön in ihrer stillen Anmut, handelnd ohne viel Worte zu machen. Tiefschwarzes, blauglänzendes Haar und blaue Augen; meine Schwester Wilhelmine, die ihr sehr glich, galt als das schönste Mädchen der Gegend.
Der Vater war ein Fremder, aus Schlesien zugewandert, wie es hieß, der Sproß einer reichbegüterten Familie. Man rühmte seine Begabung, seinen Witz, mit dem er sich wohl auch manchen Feind gemacht hatte. Sein Leichtsinn, wohl auch seine Unkenntnis der Geschäfte und seine Gutmütigkeit führten zu seinem Untergang. Alles mögliche hatte er angefangen und nichts war ihm geglückt, gute Freunde sollten ihn auch hintergangen haben, und so sank er immer tiefer bis zum Trinker.
Ich habe ihn in der Erinnerung als einen heitern, guten Mann, wenn er nüchtern war. Da ließ er mich auf den Knien reiten und rief lachend dazu: "Husar! Husar!" Er arbeitete als Taglöhner, und kam er abends betrunken nach Hause, gab es Unfrieden; meine Mutter litt sehr darunter.
Wir besaßen ein Häuschen, dahinter war ein kleiner Garten mit vorbeifließendem Bach. Oft fiel der Vater in das Wasser und meinte dann, die Mutter hätte das als Brücke dienende Brett für ihn gelockert. Er schlug sie dann, und sie weinte und klagte: "O wär' ich erlöst!"
Im Jahre 1866 erschien im Gefolge des Krieges die Cholera in unserer Gegend, die viel stehendes sumpfiges Wasser hat, und wütete entsetzlich unter den Roitzschern. Ich erinnere mich noch genau aller Einzelheiten. Wir waren in der Schule, als der Schreckensruf zu uns drang: die Cholera ist da! Wir liefen schreiend nach Hause: die Cholera, die Cholera ist da! Meine Mutter hatte noch ahnungslos einen großen Pflaumenkuchen gebacken, den wir ohne Angst noch denselben Tag vollständig aufaßen.
Eines der ersten Opfer war mein Vater. Er kam abends zeitiger als gewöhnlich nach Hause und stieg betrunken in das obere Zimmer; wir hörten ihn schrecklich poltern und schreien. Den andern Morgen ging meine Mutter zu ihm hinauf und kam weinend herunter: "Der Vater hat die Cholera."
So ging es einige Tage weiter, der Vater hatte nach mir verlangt, doch ich durfte nicht hinauf; die Geschwister waren auswärts im Dienst oder in der Lehre. Am Morgen des vierten Tages war er tot, ich habe ihn nicht mehr gesehen.
Den nächsten Tag legte sich die Mutter, sie war angesteckt. Eines Morgens war alles still im Haus, ich wartete unten, aber niemand kam. Da schlich ich mich hinauf und sah die Mutter tot im Bett liegen. Mit Geschrei lief ich zu den Nachbarn. Ein ordentliches Begräbnis gab es nicht, die Leichen wurden nachts abgeholt und still begraben. Als es dunkel war, brachten Männer einen Sarg, und die Mutter wurde hinausgetragen. Ich blieb allein im Hause zurück. Niemand kümmerte sich um mich, alles hatte Angst vor Ansteckung. Jeder dachte in dieser Zeit nur an sich selbst. Verwandte von mir legten das Essen für mich an den Hauseingang und große Tüten Chlor dazu, den ich im ganzen Hause umherstreuen mußte.
Ich lebte ganz allein in diesem Totenhause, nur die gute Schwester Wilhelmine kam manchmal zwei Stunden weit her, von Delitzsch, um nach mir zu sehen. Es herrschte ringsum, weit und breit solcher Schrecken, daß die Menschen ihre Nächsten vergaßen. Der ganze Ort roch nach Chlor, auf den Straßen, in den Häusern lag dick die weißliche Masse. Der starke Geruch war betäubend, noch heute in der Erinnerung bedrückt er mich, wenn ich an die erschreckten Menschen, an die Trostlosigkeit und Totenstille der damaligen Zeit zurückdenke.
Einmal lief ich in der Dunkelheit im Ort herum. Vor einer Wirtschaft stand eine schwarz behangene Bahre. Die Träger waren hineingegangen, um Schnaps zu trinken. Aus dem Leichentuch sahen unten zwei lange nackte Beine hervor. Der Tote war unser Nachbar, ein baumlanger Mann; die Bahre war zu kurz für ihn. Erschreckt lief ich nach Hause. Wochenlang lebte ich so in der unheimlichen Einsamkeit, dann ließ die Seuche nach und hörte endlich ganz auf. Alles atmete wieder frei, doch war der ganze Ort in Trauer. Ich wurde nun aus meinem Gefängnis geholt und zur Großmutter gebracht, die gelähmt im Bett lag und während der Schreckenszeit auch von aller Welt verlassen war. Ich mußte sie bedienen, nachts auf einem niedern Kasten schlafen, der quer am Fußende ihres Bettes stand. Wenn ich morgens aufstehen sollte, stieß sie mit einer langen Stange nach mir, bis ich wach wurde.
Sie lebte nur noch einige Monate, dann nahm mich in Güte ein kinderloser Onkel, der Bruder meiner Mutter, zu sich. Ich sehe mich noch heute, wie ich vor ihm stand und um meine Aufnahme bat. "Ist jut," sagte er, "komme nur bei mir." Auf einem Schubkarren holte ich meine paar Sachen und war nun in meiner neuen Heimat.

Onkel Rudolph  

Mein Onkel war ein Kossate; ein kleiner Bauer, der mit zwei Kühen sein Feld besorgte. Doch hieß es im Ort, er sei im stillen reich, er habe heimlich Gelder liegen und sei ein großer Geizhals. Letzteres konnte ich bald sehen. Er war ein eifriger Kirchgänger, und ich mußte mit ihm jeden Sonn- und Feiertag zweimal, vor- und nachmittags, den Gottesdienst besuchen. Ich kann wohl sagen, daß ich in der Hauptsache die freien Stunden meiner Jugend in der Kirche zugebracht habe. Der Onkel war schwerhörig und mißtrauisch. Nach jedem Kirchgang, wenn die andern Männer zum Bier gingen, setzte er sich an sein Schreibpult und zählte Geld. Er formte die blanken Taler zu großen Säulen, stieß sie sanft wieder um, strich mit den Handflächen durch den Silberhaufen und baute die Säulen von neuem auf. Wie ein Kind saß er da und spielte, das war sein Sonntagsvergnügen, nachdem er seinem Gott gedient hatte. Ich stand manchmal schüchtern da und staunte diese Wunder von Reichtümern an. "Hermann," sagte er dann, "das kriegste alles, wenn du gut wirst!" Er hatte mich gern, doch war er ein harter und strenger Mann, der für meine Art kein Verständnis hatte.
Denn frühzeitig, unbewußt klopfte der Künstler in mir an. Hier, in dieser kalten, freudlosen Umgebung, fing ich an zu träumen, zu dichten und zu zeichnen. "Ein Künstler ja, was ist das," dachte ich oft, "wie sieht der wohl aus?" Es wurde im Ort erzählt, daß vor Jahren ein reisender Maler durchgekommen war; ich fragte überall, wie er aussah, wie er angezogen war, und nach allen möglichen Einzelheiten. Doch wußte man nichts mehr, man hatte alles vergessen, niemand hatte sich für den Mann interessiert. Er hatte einige Bildnisse gemalt, eines davon hing beim Onkel über dem Sofa. Es war hart, geleckt und ohne Charakter und gewiß kein Kunstwerk, doch staunte ich es voll Ehrfurcht an, war es doch das erste Stück Malerei, das ich sah, mit wirklichen Farben und Pinseln von einem wirklichen Künstler gemalt. Wie ein Bote erschien es mir aus einer fernen Welt voll Schönheit. Später las ich gierig Geschichten, in denen Maler vorkamen. In damaliger Zeit erschien ein Roman in der "Gartenlaube": "Künstler und Fürstenkind." Ein in niedrigem Stande geborener Maler, ein Muster von Talent, Edelmut und Männlichkeit, liebt eine echte Prinzessin, wird von dieser wiedergeliebt und erringt sie nach langen Kämpfen mit ihrer fürstlichen Familie und der hochmütigen Kamarilla. Ich dachte mir, alle Künstler wären solche Helden, und mein innigster Wunsch war, auch ein solcher zu werden. Oft träumte ich davon, wie ich einst als berühmter Maler, mit meinem Fürstenkind an der Seite, im Dorfe einziehen, und was für Augen der Onkel, die Tante und das ganze Dorf machen würden.
Als ich Andersens Märchen zu lesen bekam, gefiel mir am besten die Geschichte vom häßlichen kleinen Entlein, das sich plötzlich zum Schwan verwandelt. "Das bin ich," dachte ich mir und mein Dasein als häßliches kleines Entlein wurde freundlicher, als ich mir so schön ausmalte, wie ich, wenn ich größer wäre, als schöner weißer Schwan davonziehen wollte, in die Ferne, wo ich andere Künstlerschwäne finden würde. Ich zeichnete und las, dichtete und träumte. Wenn mich der Onkel dabei erwischte, gab es Prügel mit dem Knebel, einem Werkzeug, kurz, dick, hart und unelastisch, womit man in der Erntezeit die Garben bindet, das war seine Lieblingswaffe. Im Hofe hing ein alter Säbel aus der Franzosenzeit. Oft dachte ich: wenn er doch einmal den nähme und mich totstieße. Von Kindheit an hatte ich eine große Liebe zu den Tieren. Entsetzt war ich, wenn der Onkel meinen Freund, den Hofhund, zur Strafe für ein kleines Vergehen mit dem Halsriemen am Querbalken des Scheunentores aufhenkte, so daß das arme Tier in der Luft schwebte, und der rohe Mann nun mit aller Gewalt darauf losschlug.
Hatte unsere Katze Junge geworfen, so mußte ich die Kleinen in der Düngergrube, die neben dem Kuhstall war, ertränken. Ich konnte mich noch so sehr dagegen wehren, der Onkel drang darauf, daß ich diese Tat vollbrachte, die mich immer lange noch mit Schaudern erfüllte. Der Onkel wollte wohl meine Weichheit damit kurieren.
Geld bekam ich natürlich nicht, und so nahm ich es mir, um mir Bleistift und Papier zu kaufen. Die Tante hatte im Tischkasten eine Geldkasse, meist Groschenstücke; es war die Einnahme aus dem Milchverkauf. Ich fing es schlau an. Erst schob ich ein Zehnpfennigstück hinter in den Kasten, wo allerhand Arzneitüten und Papierwische lagen; blieb es einige Tage liegen, dann nahm ich es. Die Tante hatte es wohl bemerkt, ich sah's an ihrem traurigen Blick; sie litt darunter und sagte doch nichts aus Gutmütigkeit und vielleicht, weil sie sah, wie ich's anwandte. Sie war eine herzensgute Frau. Wir beide fühlten uns als Leidensgenossen, sie sprach sich nie aus, doch besiegelte sie durch manche gute Tat unser heimliches Einverständnis. Bald konnte ich mir einige Groschen verdienen, indem ich auf die Schulhefte schön verschlungene Aufschriften zeichnete; von den Schulkameraden, die es zahlen konnten, erhielt ich für das Stück zehn Pfennige.
Ich war der beste Sänger im Schülerchor, das heißt der lauteste. In der Kirche und bei Begräbnissen übertönte meine Stimme die aller andern Sänger. Nur einen alten Mann, der unter dem Chor saß, konnte ich nicht bezwingen, er schrie entsetzlich, setzte immer zu früh ein, sang falsch und brachte die fromme Gemeinde in Verwirrung. Er hatte dafür den Spitznamen "der Sänger" erhalten. Bei Begräbnissen bekamen wir Jungen jedesmal zehn Pfennige, doch die nahm mir gewöhnlich der Onkel weg. Meine größte Freude in der Kirche war, wenn ich zum Bälgetreten befohlen wurde. Diese Bälge mußten die Orgel mit Luft versorgen. Zwei Querbalken standen in einem halbdunklen Nebenraum der Kirche hoch in die Luft, man mußte sich auf einen stellen, der dann langsam, knarrend niederging; man hörte, wie der Blasebalg pfeifend die Luft in die Orgel trieb, die dabei allerhand quirilierende geheimnisvolle Töne von sich gab. War der eine Balken niedergetreten, erhob er sich langsam wieder. Nun mußte man schnell auf den zweiten hüpfen und so abwechselnd immer hinüber, herüber. Das war ein Fauchen, ein Gequietsche und ein Gurgeln, dazu der feierliche Orgelton und der abgetönte ferne Gesang der Gemeinde; ein betäubendes Rauschen, das mich in ein Zauberland versetzte.
Zu diesem Amt konnte man nur ganz verlässige Jungen brauchen; es war ein wirkliches Ehrenamt, denn einige Male kam es vor, daß die Balken nicht rechtzeitig getreten wurden, dabei ging der Orgel plötzlich die Luft aus. Mit lautem Mißton stieß sie ihren letzten Seufzer in die erschreckte fromme Gemeinde aus.
Ich besuchte die Volksschule; die freie Zeit mußte ich mit dem Onkel aufs Feld; abends war ich todmüde und konnte kaum noch Schularbeiten machen. Mein Zeichenheftchen führte ich immer heimlich mit mir und stahl dem Onkel manche Stunde weg. War die harte Sommer- und Herbstarbeit vorüber, dann begannen wir drei, Onkel, Tante und ich Knirps, das Getreide zu dreschen; klapp, klapp — klapp! Zwei schwere und ein leichter Schlag; mir kleinem Kerl wurde der Dreschflegel gar schwer.
So ging's den halben Winter lang, ich freute mich, wenn ich die Garben herunterholte und bemerkte, daß die Schicht immer niedriger wurde. Dann kam die herrliche Stunde, wo ich die letzte holte.
Nun kam etwas Ruhe ins Haus bis zum Frühling. Mächtige Haufen Kartoffeln mußten von langen gelben Keimen befreit werden, doch war das leichte Arbeit, und ich konnte dabei manches Schöne treiben.
Nachts schlief ich auf dem Getreideboden, einem großen Raum unter dem Dach, wo das Korn zum Trocknen ausgebreitet lag. Ganz hinten in der Ecke stand mein Bett. Ich fürchtete mich entsetzlich, da ich ohne Licht hinauf mußte. In dieser unheimlichen Finsternis rannte ich über den Boden, verkroch mich schnell ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Hier lag ich oft lange zitternd, ehe mich der Schlaf übermannte. Die ganze Nacht polterten die Mäuse durch Boden und Sparrenwerk. Hier habe ich die schrecklichste Zeit meiner Kindheit verbracht; in dieser schauerlichen Einsamkeit, Stille und Nacht; in Gesellschaft dieser unruhigen Wesen und solcher, die Angst und Phantasie mir noch dazu schufen. Sogar auf die harmlosen Feldmäuse übertrug sich meine Furcht. Bei der Roggenernte lagerten wir einmal in der Mittagspause im Felde und ruhten. Ich war sehr müde und lag im leisen Schlaf. Da fühlte ich, wie eine Maus langsam in das eine Hosenbein hineinkroch und an der nackten Haut hinaufkrabbelte. Ich war vor Schrecken wie gelähmt. Als sie immer mehr in die Höhle hinaufkam, wurde sie unruhig, fing schließlich an zu rasen und suchte den Ausgang, den sie in der Dunkelheit nicht fand. Nun erwachte ich aus meiner starren Angst, fing an fürchterlich zu schreien und mich zu schütteln und wurde endlich von dem unheimlichen Gast befreit, der, ebenso entsetzt wie ich, aus dem andern Hosenbein heraussprang. Noch lange hatte ich ein Grausen vor diesen Tieren. So floß mein Leben hin bis zum elften Jahre. Der Siebziger Krieg kam und versetzte auch unser Roitzsch in große Begeisterung. Eisenbahnzüge kamen ununterbrochen aus dem Norden bei uns vorbei und beförderten die Soldaten nach dem Kriegsschauplatz; wir Jungen standen an der Bahn und riefen in einem fort: Hurra! Dann hörte es plötzlich auf und die Züge kamen von der andern Seite und brachten Gefangene, darunter Turkos; nun ballten wir die Hände und drohten und schimpften.
Dann kamen gefangene Franzosen auf die Güter im Ort. Diese lebhaften Leute stachen gehörig von unserm heimatlichen Phlegma ab. Ich stand oft dabei und konnte nicht genug staunen, wie diese Rothosen mit den Armen gestikulierten und so schön mit den Augen rollen konnten. Schon als kleiner Junge hatte ich Freude an den Soldaten. Im Jahre 1866 waren lange Truppenkolonnen auf der Chaussee Bitterfeld—Halle in der Nähe unseres Ortes vorbeimarschiert, den Schlachtfeldern zu. Es war eine fürchterliche Hitze, die Soldaten stampften schwer bepackt in der dicken Staubwolke; einmal taumelte einer aus dem Zuge und fiel lang hin in den Straßengraben; so lag er einige Zeit, den Kopf auf dem Tornister, die hohe Pickelhaube neben sich gestellt, den Waffenrock geöffnet. Man gab ihm aus der Feldflasche zu trinken und marschierte weiter. Er lag allein, die Truppen zogen stumm vorüber, dann starb er. Das ging alles so ruhig, als wäre es gar nichts.
Damals kamen nachts riesengroße pommersche Landwehrleute in ihren hohen Tschakos* mit dem Kreuz daran ins Quartier in mein Vaterhaus. Den nächsten Morgen putzten sie in unserm Gärtchen ihre Gewehre und schimpften über ihren Hauptmann, der sie schlecht behandelte. Dann schliffen sie ihre Bajonette; das war für mich schauerlich schön, meine Phantasie versetzte mich in einen wilden Bajonettkampf, und ich konnte diese Helden nicht genug bewundern. Später bekamen wir im Manöver einige Male Einquartierung; ich sah die Merseburger blauen Husaren; einmal kam ein Regiment Dragoner durch, die von der Übung in ihre Quartiere ritten. Die Dragoner saßen müde auf den Pferden, waren aber lustig, rauchten ihre Pfeifen und hatten den Helm im Genick. Das gefiel mir so, daß ich mitlief, stundenlang, bis hinter Bitterfeld; ich konnte mich gar nicht trennen. Als ich in der Nacht nach Hause kam, erhielt ich vom Onkel eine Tracht Prügel.
Alles Fremde, das durch den Ort kam, zog mich an sich. Wie merkwürdig waren immer die Seiltänzer, die slowakischen Rastelbinder in ihrem gestickten Nationalkostüm und mit dem Ruf: ,,Mausefall, Rattefall", die Zigeuner, welche oft in großen Trupps in der Nähe des Dorfes lagerten. Einmal im Herbst war auf den Feldern eine große Zigeunerzusammenkunft zur Feier einer Hochzeit. Diese fremdartigen malerischen Männer und Weiber mit ihren nackten Kindern, deren Tanz und Gelage bis tief in die Nacht bei Fackelschein, eigenartiger Musik, lärmend und voll toller Freude dauerte, machten einen großen Eindruck auf mich, das dünkte mich alles so herrlich und romantisch.
Dann war ich Zeuge eines großen Unglücks. Eine Seiltänzerfamilie gab vor der ,,Krone", dem Dorfwirtshaus, ihre Vorstellung. Ein hohes Seil war gespannt, das die älteren Jungen rechts und links halten mußten. Der Seiltänzer war auffallend unruhig und rief schon beim Betreten des Seiles immerfort:
,,Festhalten, festhalten!" In der Mitte fing er plötzlich an zu schwanken und schrie voll Schrecken: ,,Haltet, haltet fest!" Die Balancierstange flog in der Luft hin und her, und es war geschehen. Der arme Mann lag unten auf dem harten Boden. Die Familie, Frau und Kinder, stürzten hinzu, ihr Geschrei und Wehklagen war schrecklich zu hören und der Anblick furchtbar. Der schweratmende zerschlagene Mann, der noch in den letzten Zügen mit der Hand den Jungen drohte, die durch ihre Nachlässigkeit den Sturz verursacht hatten, und an ihn sich anklammernd Frau und Kinder in ihren grellbunten Flitterkleidern, alles das war grotesk und herzzerreißend. Nie mehr in meinem Leben konnte ich solche Schaustücke sehen. Einmal, als ich mit dem Onkel auf dem Acker arbeitete, ereignete sich ein anderes Unglück. Ein großer Sturm brauste über die Felder. Wir waren in der Nähe einer Windmühle, die plötzlich anfing, sich wie im Tanz zu drehen. Ihre Flügel sausten wie ein Riesenrad durch die gewaltig sich aufbäumende Luft, und mit einem lauten Krachen schlug sie dann zu Boden. Das dauerte nur ein paar Sekunden, wie eine gespenstische Erscheinung. Dann lag sie still da, ein großer Holzkasten, aus dem zwei Holzstummel, die Reste der Flügel, wie ein paar flehende Arme gen Himmel ragten.
Ich war im Augenblick wie betäubt von diesem großartigen Bild. Dann lief ich zur Unglücksstelle und sah nun, wie oben aus dem Loch über der Treppe Müller und Müllerin herauskrochen und nicht herunterkonnten. Da saßen nun beide und weinten. Das wirkte auf mich aber gar nicht traurig; dieser ungewohnte Hergang, der ganze Aufbau der Szene, die phantastische Linie der liegenden Mühle mit den beiden jammernden Menschen darauf, dazu der düstere tosende Hintergrund der Landschaft, all das war unheimlich schön. Die beiden armen Leute bekamen auch bald wieder ihre Mühle aufgebaut und wurden wieder fröhlich. Unser alter Lehrer, der "Herr Kantor", starb, und ein neuer kam, ein großes Ereignis für mich, es wurde entscheidend für mein ganzes Leben.
An der Spitze seiner Familie zog er erhobenen Hauptes in das Dorf ein, den Künstlerhut unter dem Arm. "Schiller", dachte ich mir gleich. Ein schöner Dichterkopf mit Dichterhaaren und Dichterblick, eine in dieser Umgebung ungewöhnliche, außerordentliche Erscheinung.
Wilhelm Viole war ein künstlerisch begabter Mann, er zeichnete und dichtete und machte einen etwas verkümmerten und verkannten Eindruck. Es konnte nicht lange dauern, da mußte er merken, daß in seiner Herde eine ihm verwandte Seele war.
In einem Schulheft hatte er Verschen von mir gefunden. "Wer hat das gemacht?" fragte er mich. "Ich, Herr Kantor". "Das ist nicht möglich". "Jawohl, ich war es, ich habe noch viel mehr". "Nun, bringe es mir". Ich brachte es ihm, es war ein ganzer Stoß, auch Zeichnungen dabei. Er gab sie mir den nächsten Tag zurück, ein Zettel lag dabei: "Fahre so fort! Dein Freund Viole". Er hatte wohl bemerkt, daß ich sehr verschüchtert war. Nun ging der Briefwechsel in den Schulheften hin und her; was ich nicht gewagt hätte auszusprechen, hier hatte ich den Mut, es auszudrücken, von meinem Künstlertraum und von meiner traurigen Lage konnte ich ihm schreiben; ich hatte ein Herz gefunden, dem ich vertrauen konnte. Er tröstete mich und machte mir Hoffnung, seine Briefchen trug ich immer bei mir und las sie immer wieder. Er gab mir Bücher und zeigte mir Zeichnungen von Ludwig Richter und Oskar Pletsch, er lehrte mich, wie man mit Bleistift, mit Feder und Tusche und mit dem Pinsel zeichnet und was das Versmaß für Füße haben muß. Ich liebte ihn wie meinen Vater, aber niemals sprachen wir und machten Pläne, diese Chimären wurden alle brieflich behandelt. Er fühlte meine Lage und tröstete mich und machte mir Mut mit seinem stillen gütigen Blicke. Wenn der Onkel mit dem Düngerwagen vor dem Schulhaus vorbeizog und ich hinterherlaufen mußte, um das zu sammeln, was die Kühe fallen ließen, sah ich ihn oft am Fenster stehen und mir freundlich zunicken, als wollte er sagen: Wir sind Künstler und müssen das Unvermeidliche mit Würde tragen. Draußen auf dem Felde sah ich Schönheiten, die meinem empfänglichen Gemüt Freude und Trost gaben. Oft stand ich in der Arbeit still und schaute in die Natur und träumte, bis mir der Onkel einen Puff gab. Wie herrlich waren oft die Abende, als wir vom Felde heimkehrten. Mein Onkel saß müde und stumpf auf dem Wagen, und ich mußte schwärmen, nachdem ich lange stumm geschaut hatte. Ich wollte ihn teilnehmen lassen an meiner Freude und zeigte ihm die herrlichen Farben. Er sah sich's an, nickte manchmal, denn er war ein intelligenter Mann, bis er endlich unwillig sein: ,,Nu is aber jut!" von sich gab.
Als er merkte, daß der Kantor mich liebte und auszeichnete, wurde er nachsichtiger gegen mich; daß ich jahrelang der Erste in der Schule war, erfüllte ihn sogar mit Stolz, ja, als er sah, daß ich nicht bei ihm bleiben wollte, sprach er die Absicht aus, mich zu einem Anstreicher in die Lehre zu geben. Sein Plan, mich als Schreiber in das Landratsamt nach Bitterfeld zu bringen, fand nicht meinen Beifall; ich wehrte mich dagegen, denn ich ahnte wohl, daß dort nicht schöne Künste getrieben wurden.
Der Kantor war ein Freigeist und hatte einen schweren Stand bei dem orthodoxen Pfarrer, der ihn bei jeder Gelegenheit seinen Haß fühlen ließ, sogar in der Kirche bei der Predigt, in der er versteckte Anspielungen anbrachte, welche nur die Eingeweihten verstanden. Der Kantor saß dann da, und man sah auf seinem feinen Gesicht die Quittung für das Empfangene; ein flüchtiges ironisches Lächeln flog darüber, manchmal warf er mir einen leichten, kaum bemerkbaren Blick zu: Hast du verstanden? Er sprach nie darüber, und das wirkte bei mir noch mehr, ich nahm im stillen heftig für ihn Partei. Die Folge davon war, daß ich anfing, an meinem Glauben irre zu werden; ich dachte mir: die Sache, die der böse Pfarrer vertritt, muß etwas Falsches in sich haben, der gute Kantor wird das Richtige vertreten. Es war die Wirkung eines guten Menschen auf ein kindliches Gemüt.
Der Pfarrer lehrte uns auch in der Konfirmationsstunde die Religion nicht, sondern er befahl sie uns förmlich in herrischer Weise, die bei mir gerade das Gegenteil bewirkte; ich wurde störrisch und dachte mir: nun gerade nicht! Auch war die ganze religiöse Betätigung sehr oberflächlich und gab mir nichts, was mein Herz rühren konnte. Und zu Hause sah ich den Geiz des frommen Onkels.
In der Konfirmationszeit mußten immer zwei Kinder in der Kirche während des Gottesdienstes vorn am Altar eine Art Glaubensbekenntnis hersagen. Eines stand rechts daran, das andere links.
Lieber Mensch, was bist du nach deinem Glauben? Ich bin ein Christ. Warum bist du ein Christ? Weil ich christlich getauft bin, an Christum glaube und dermaleinst in Christo selig sterben werde. So ging es eine Weile fort, es wurde heruntergeleiert, wir verstanden den Sinn kaum. Ich war von Natur aus etwas schüchtern, und der Gang an den Altar war mir schrecklich, denn alles das, was ich da laut in die Kirche schreien mußte, war mir unklar, ich fühlte mit Schmerzen, daß ich nicht den richtigen Glauben hatte, und dachte immer: der Herr Kantor sieht und hört mich, und ich konnte keinen Ausdruck von Andacht finden.
Ebenso, wie die Religion, wurde uns die monarchische Staatsform eingepaukt. In den Lehrbüchern, in allen gedruckten Schriften, die wir zu Gesicht bekamen, waren die Fürsten und Prinzen und alles was mit ihnen zusammenhing, als eine Art Götter gezeichnet, die über der Menschheit thronen, fehler- und schlackenlos, schön, rein, edel, gut und herablassend. Ihre Taten waren geschildert wie die der Heiligen in katholischen Legendenbüchern. Der Kantor, ein alter Achtundvierziger, ließ, wenn die Gelegenheit kam, sein feines Lächeln spielen. Ich erinnere mich noch genau, daß ich beinahe ohnmächtig in den Staub sank, als ich, noch in meiner Kindheit, auf unserm Bahnhof den ersten lebenden Prinzen sah; ich dachte mir, er müsse jeden Augenblick Flügel bekommen und himmlisch leicht wie ein Engel davonfliegen. Wie falsch und dumm solche Verschönerung und Versüßlichung war, habe ich an mir selbst erfahren. Als ich später unschöne Handlungen und allzu menschliche Taten der offiziell verzeichneten hohen Herrschaften erfuhr, bäumte sich mein Gefühl auf, ich ärgerte mich über den Schwindel, der mit uns getrieben wurde und kritisierte dann mehr, als vielleicht gerecht war, auch an den Unschuldigen.
Mit Dankbarkeit gedenke ich des Hauses Steiner im Ort. Steiner war unser bedeutendster Kaufmann, der ein schönes Haus am großen Platz besaß. Der älteste Sohn August, ein schwärmerischer Junge, gleich mir, wurde mein bester, ja einziger Jugendfreund. Er hing in treuer Liebe an mir, glaubte immer an meine Zukunft als Künstler und steckte mir manches Geldstückchen zu, wenn ich um Zeichenpapier, bunte Tusche und dergleichen Not hatte, er nötigte mir einen Teil seines Taschengeldes dazu auf, gern hätte er alles für mich hergegeben. Wenn ich zum guten Kantor Viole mehr eine respektvolle Liebe fühlte, so konnte ich hier, in Gemeinschaft eines fast gleichaltrigen Freundes, ein Stückchen warme Heimat finden, die ich sonst hätte ganz entbehren müssen. Hier in diesem gastfreien Hause wurde gesungen, musiziert und Theater gespielt, auf dem Dachboden lagen köstliche Schätze, alte Bücher und Zeitschriften, und jede freie Stunde krochen wir beide hinauf in dieses herrliche Paradies. Seltene Treue hat mir der Freund gehalten, auch in Zeiten, wo es hieß: "Es wird nichts aus ihm!", hat er zu mir gehalten und alle verlacht.
Nun kam die Zeit meiner Konfirmation, und es wurde beraten, welcher Beruf sich für mich eigne. Maler zu werden war unmöglich. Der Onkel stöberte immer in der Halleschen Zeitung herum, ob er nichts für mich fände, etwas, wo ich meine Zeichnerei verwerten könnte. Da stieß er eines Tages auf eine Annonce: ein Graveur sucht einen Lehrling. Den nächsten Sonntag fuhren wir beide nach Halle. Er sprach nie viel, im Abteil sagte er nur: "Nu wirste Künstler."
Wir stiegen hoch oben hinauf in den vierten Stock in die ärmliche Wohnung eines armen Petschaftschneiders. Ein alter kränklicher Mann und eine dicke, energische Frau, die mir sogleich Furcht einflößte, empfingen uns. Man wollte mich nehmen, drei Jahre Lehrzeit und dreihundert Mark Lehrgeld waren die Bedingung. Die Frau sagte: "Er muß in der Wirtschaft mithelfen." Das hohe Honorar machte den Onkel stutzig, sonst hätte er mich diesem unseligen Beruf ausgeliefert. Wir wurden von der Frau sehr ungnädig entlassen. Auf der Heimfahrt brummte der Onkel: "Nu is nischt mit dem Künstler!" Als ich zum Kantor kam, um ihm von der verunglückten Fahrt zu erzählen, traf ich ihn in freudiger Stimmung. Ein Jugendfreund hatte ihm geschrieben, ein Lehrer, der vor 25 Jahren nach Rußland ausgewandert war und es dort zu hoher Stellung als Staatsrat und Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Adels- und Pagenschule zu St. Petersburg gebracht hatte. Der hatte sich in Leipzig zur Ruhe gesetzt und wollte nun seinen alten Freund wiedersehen. "Das ist etwas für dich, der muß dir helfen," sagte der Kantor. Der Staatsrat wurde zum Besuch eingeladen und erschien den nächsten Sonntag.
Ein großer, sehr dicker Herr mit weißem Haar und russischem Kotelettenbart; lebhaft, aufgeregt, originell; mehr Russe als Deutscher. "Etwas verrückt," lautete das Urteil der Familie Viole.
Meine Werke wurden ihm vorgelegt und ich ihm vorgeführt. Auch mußte ich ihm einige meiner Gedichte vorlesen. Er gefiel mir gut, ich ihm auch. Gnädig, herablassend und wohlwollend, wie ein russischer Großfürst, kam er mir entgegen. Er küßte mich nach russischer Art auf beide Wangen und sagte: "Mein Sohn, du bist ein Genie. Ich werde wie ein Vater für dich sorgen." Er ließ meine Zeichnungen in seinem riesigen russischen Pelz verschwinden und dampfte nachts nach Leipzig zurück.
Es dauerte nicht lange, da kam ein Brief von ihm. Der Direktor der Königl. Kunstakademie, dem er die Arbeiten vorgelegt, hatte mich für begabt erklärt; er gibt mir eine Freistelle an der Akademie und das Stipendium der Johanna Weidemannin von einhundertvierundfünfzig Mark jährlich auf drei Jahre; der Verein zur Unterstützung unbemittelter talentvoller Knaben sorgt für meine Zeichen- und Schulutensilien und der Herr Staatsrat nimmt mich zu sich und überwacht meine Erziehung als Mensch.

Beim Herrn Staatsrat  

Eine schwarzseidene Bauernmütze auf dem Kopf, die robusten Glieder im schwarzen Konfirmandenanzug, ein buntes Tuch um den Hals gewickelt: so zog ich im Frühling des Jahres 1873 in Leipzig ein. Mit mir führte ich eine Kiste voll Schinken und Würste und ein Bett, das war die Mitgabe des Onkels für die Lehre.
Der Staatsrat bewohnte die Mansarden eines kleinen Rokokohauses im Barfußgäßchen, das als hübscher Überrest aus alter Zeit mitten in den Anlagen stehen geblieben war, wie ein Schmuckkästchen, mit seinem hohen gegliederten Giebeldach, angelehnt an die häßlichen hohen Mietskasernen der inneren Stadt. Unsere Fenster gingen hinaus in das Grüne der Promenade, welche an Stelle des Stadtwalles ringsum die Altstadt umgibt; eine breite Treppe an unserm Häuschen unterbrach hoch oben den Häuserblock. Ungewöhnlich wie sein Äußeres war sein Inhalt. Der Hauptteil des Hauses wurde bewohnt vom Tuchappreteur Schölpple, dem Schwager des Staatsrats, und einigen kleinen Nebenwohnern. Zu ebener Erde lag die Appreturwerkstätte. Unten biederer Bürgerstand, oben im Kopf des Hauses romantische Boheme. Unser Heim war eine geheiligte Stätte der Kunst, hier hatte Richard Wagner gewohnt; wenigstens erzählten es die Hauseinwohner mit Stolz.
Da für mich oben kein Platz war, mußte ich in der Werkstatt in einem der Appreturkästen schlafen, wo ich fürchterlich von Wanzen gepeinigt wurde, die hier im alten Holz ein behagliches, ungestörtes Dasein führten. Zerstochen und zermartert dachte ich oft mit Sehnsucht an meinen Getreideboden zurück und fand, daß die heimatlichen Mäuse doch nicht so schreckliche Tiere waren wie die sächsischen Wanzen.
Der Nimbus des Staatsrats schwand bedenklich, als ich erfuhr, daß seine Pension mit Beschlag belegt war und davon seine Schulden bezahlt wurden, und als ich sah, mit welchem Appetit er sich über meine Wurstkiste hermachte. "Hermann," sagte er, "ich betrachte dich als mein Kind, wir teilen alles." In seinem weiten russischen Schlafrock, der mit dem Fell von ungeborenen Schafen gefüttert war, lag er die meiste Zeit auf seinem Bett und pflegte seinen ungeheuren Leib. Ich war Faktotum und Zimmermädchen, besonders war mir die Pflege des Samowars, der russischen Teemaschine, anvertraut, der niemals ausgehen durfte. Der Staatsrat gab Privatunterricht und brachte mich zu meiner Weiterbildung in einigen Anstalten unter, in denen er lehrte. Einige Stunden mußte ich in einem Privatinstitut nehmen, wo sitzengebliebene Mittelschüler gedrillt wurden, dort herrschte eine gereizte und verbitterte Stimmung, unter der auch ich Unschuldiger zu leiden hatte. Dann mußte ich zu verschiedenen Stunden in eine Handelsschule, wo ich Französisch, Englisch und die Buchführung lernen sollte. Der Staatsrat meinte, die Künstler wären meist unpraktische Leute, und die doppelte Buchführung sollte mich zu einem ordentlichen Menschen machen.
Auch an einem Kurs in der russischen Sprache mußte ich bei ihm teilnehmen, da er die Absicht hatte, mich nach meiner Ausbildung nach St. Petersburg zu schicken; er meinte, daß ich bei seinen Verbindungen in aristokratischen Kreisen dort leicht als Porträtmaler meinen Weg machen würde. Dann kam als Hauptsache noch die Kunstakademie dazu, so daß ich die ganze Zeit hin und her laufen mußte. Für die meisten Fächer fehlte mir die genügende Vorbildung, ich schneite mitten in den Kurs hinein, so daß trotz meines stark entwickelten Bildungsdranges diese Schulzeit für mich zu einer Qual wurde. Da ich überall Freistellen hatte und mir das von taktlosen Lehrern oft vorgehalten wurde, nahmen oft auch die Mitschüler sich etwas gegen mich heraus. Das Paradies, das ich ersehnt hatte, kam mir nicht sehr rosig vor. Ich hatte einmal im Institut eine Gedichtsammlung geliehen, die mir abhanden kam. Vor der Klasse wurde ich beschuldigt, ich hätte das Buch verkauft. Das ging mir sehr nahe, ich rannte wie wahnsinnig in der Stadt herum, um es in den Antiquariaten zu suchen, fand es aber nicht. Ich war ganz verzweifelt, bis mein Staatsrat für mich eintrat und erklärte, ich sei eines so schlechten Streiches nicht fähig. Dann kam ein anderes Erlebnis. Ich hatte im Institut einen Freund gefunden, den Sohn eines reichen Hauses, dem ich bei den deutschen Aufsätzen half, wofür ich mit Butterbroten honoriert wurde. Er lud mich ein, ihn draußen auf dem Sommersitz seines Vaters zu besuchen. Ich fuhr hinaus, sah vom Torgitter aus ein wunderschönes Haus, im Park promenierten feine Damen und Herren, hübsche junge Mädchen in hellen Kleidern spielten lustig mit den Jungen. Mein Freund kam ans Gitter, ich dürfe nicht hinein kommen, es wäre Besuch da. An seiner Verlegenheit merkte ich, daß er sich meiner schämte. Ich weinte bitterlich und fuhr nach Hause. Der Staatsrat erklärte immer, sein Unglück sei die Folge einer ganz verfehlten Erziehung, die meinige sollte gerade das Gegenteil davon werden, dann würde ich ein ordentlicher Mensch. Ich merkte bald, daß seine Eltern mild und nachsichtig mit ihm gewesen waren.
Er hatte in Moskau eine Schwester, die an einen deutschen Großkaufmann verheiratet war und ihn seiner Zeit nach Rußland gerufen und dort seine Stellung begründet hatte. Seine hochbetagte Mutter lebte bei dieser Schwester. Eines Tages erhielt er die Nachricht von ihrem Tod, die ihn sehr ergriff. "Hermann", sagte er, "auf den Tod meiner Mutter mußt du ein Gedicht machen, das ist ein großer Vorwurf." Er hielt immer viel von meiner Dichtkunst. Alles andere hätte ich lieber gemacht als dieses Gedicht. Ich kannte die Frau nicht, wußte gar nicht, was ich eigentlich sagen sollte und quälte mich ab, mich in die nötige Trauerstimmung zu versetzen. An alle schrecklichen Verluste dachte ich, die ich bisher zu beklagen hatte, tagelang lief ich voll Sorge herum, wie ich den Staatsrat befriedigen könnte. Es dauerte lange, und ich bekam schon vorwurfsvolle Blicke. Er wird meinen, ich könne nichts, dachte ich mir und zwang mich endlich zu dieser schrecklichen Arbeit. Und so entstand ein langes Gedicht, worin ich versuchte, die Mutter zu konterfeien mit allen Tugenden, ich stattete sie mit aller Schönheit dieser Welt aus.
Endlich war das Gedicht fertig, und ich konnte es vorlesen. Der Staatsrat saß da in seiner Trauer, wie seelisch gebrochen, sein Auge ruhte mit Wärme auf mir, ich sollte ihm etwas Tröstung und Ruhe bringen. Und nun fing ich an, meine schauderhaften Verse vorzulesen, ich fühlte dabei selbst, daß sie einem Bänkelsängerlied glichen, wie sie zu Moritatenbildern auf dem Jahrmarkt gesungen werden. Und es nahm kein Ende. Der Staatsrat fing an, mich ängstlich anzusehen, er wurde nervös. Und meine Verse rannen ruhig weiter in ihrer Gefühllosigkeit, bis der Staatsrat anfing zu weinen. Ich ahnte, das war mein Werk. Meine furchtbare Dichtung stimmte ihn noch trauriger. Noch vor meinem Schlußvers sagte er: "Hermann, hör' auf. Gehe in dein Zimmer."
Dort zerriß ich mein Gedicht. Der Staatsrat sah mich noch einige Zeit von der Seite an und seufzte manchmal vor sich hin. Dann wurde er wieder ruhig. Gedichte hat er bei mir nicht mehr bestellt. Als Dichter hatte er mich aufgegeben. Der Verein zur Unterstützung unbemittelter talentvoller Knaben hatte auf die Empfehlung des Akademiedirektors hin auch einen Teil der Kosten meines Lebensunterhaltes übernommen. Am Ende eines jeden Vierteljahres mußte ich mich bei dem Vorstand persönlich einfinden, meine Rechnungen vorlegen, die er prüfte und bezahlte, und dazu meine Schulzeugnisse vorzeigen. Diese Zeugnisse machten mir nun immer große Sorge; wären sie nicht gut ausgefallen, so hätte mir der Verein sicher Wohlwollen und Unterstützung entzogen. Ein wahres Wunder war es für mich, zu sehen, wie aus meinen mangelhaften Leistungen in den meisten Fächern so herrliche Zeugnisse entstehen konnten. Diese Güte meiner Lehrer und Schuldirektoren rührte mich und machte mich viel Ungemach vergessen. Sie dachten wohl, der Junge soll ein guter Künstler werden, das ist die Hauptsache. Glücklich ging ich immer zu dem vornehmen alten Herrn, dem Inhaber eines großen Handelshauses, der ein schönes Heim in der Villenvorstadt bewohnte. Das war das erste Patrizierhaus, das ich betrat. Wie weich ging es sich da auf den dicken Teppichen, wie feierlich, still und weltabgeschieden war die Stimmung in diesen Räumen. Hier standen kostbare alte Möbel, wie ich sie in dieser Schönheit noch nicht gesehen hatte, und an den Wänden hingen Ölgemälde guter Meister. Hervorragende Kunstwerke geben einem Raum einen eigenen Zauber, sie strahlen sofort ein Licht auf den Besitzer aus, den die Kunst, die er liebt, sogleich in eine höhere geistige Sphäre rückt.
Wie liebenswürdig der Handelsherr mich immer empfing, zuerst die Geldsache erledigte und dann zum Schluß so fein und diskret meine Zeugnisse ansah. Dann blickte er mich so freundlich an, streichelte mich ein wenig, gab mir die Hand und ermahnte mich, fleißig und brav zu bleiben. Beim Staatsrat hatte ich dann auch einen guten Tag, als ich von meinem Erfolg berichten konnte und das Geld hinlegte. Soviel er sonst an mir auszusetzen hatte, an diesem Freudentage war ich ein vollkommener Musterknabe.
Der Staatsrat war ein Weltverbesserer. Eines Tages kam er mit einem Pack Büchern über die Lapinzucht* in Frankreich und Belgien nach Hause. "Diese Zucht werde ich in Deutschland einführen, dem armen Mann muß billige Nahrung geboten werden." Er dachte dabei wohl auch an sich, denn bei uns ging es recht knapp zu.
,,Ich werde dem deutschen Volke damit ein Geschenk machen", prahlte er. Es dauerte nicht lange, da kamen aus Belgien einige halbverhungerte Exemplare an, die als Stammväter einer großartigen Massenzucht figurieren sollten. Im Hofe unten hauten wir aus alten Kisten die Käfige nach wissenschaftlichen, hygienischen Grundsätzen. Ich wurde zum Lapinwächter und -pfleger ernannt. Die Tiere, die sich bald vermehrten, entwickelten einen so unheimlichen Appetit, daß dem Staatsrat angst und bange wurde. Nun mußte ich abends mit einem großen Sack auf den Marktplatz gehen, wo nach Räumung der großen Gemüsestände die Abfallblätter herumlagen, die ich sammeln mußte. In der Dunkelheit schlich ich durch Nebengassen, den Sack auf dem Rücken, und doch wurde ich von Schulkameraden gesehen, die meine Schande überall erzählten. Wir hatten keinen Erfolg. Als der Winter kam, gingen die Tiere langsam ein. Wenn ich morgens von der Fütterung herauf kam, fragte mich der Staatsrat traurig: "Wieviel sind's noch?" "Zwölf, zehn, sechs." Es wurden immer weniger. Als nur noch einige da waren, nahmen wir sie in die Wohnung. Sie machten eine große Unreinlichkeit, ich litt darunter, da ich die Zimmerpflege unter mir hatte. Meist saßen die Tiere ruhig unter dem Sofa, doch hatten sie eine eigene Art, plötzlich hervorzuschießen.
Der Staatsrat erhielt manchmal Besuch von ehemaligen Schülern, oft hohen russischen Würdenträgern. Eines Tages erschien solch eine Exzellenz, geschniegelt und in Lackstiefeln. Nach der üblichen russischen Küsserei mußte er im "Salon" auf dem Sofa Platz nehmen. Ich stand am Samowar und beobachtete den feinen, liebenswürdigen Herrn, der sich lebhaft mit dem Staatsrat unterhielt.
Da, mit einem Male, schießt mit den diesen Tieren eigentümlichen Niestönen zwischen seinen Beinen ein Karnickel hervor, macht mitten im Zimmer halt, legt einige Rosinen und verschwindet ebenso schnell wieder unter dem Sofa. Der Herr war furchtbar erschrocken; dann erzählte ihm der Staatsrat die traurige Geschichte seiner Lapinzucht. Nicht lange mehr, da war ich von dieser Sorge befreit. Um diese Zeit war meine Leidenschaft das Theater. Wenn mein Herr ausgegangen war, stahl ich mich oft fort und verbrachte den Abend in Glück und Wonne oben auf dem "Topf", wo ich Friedrich Haase, die Ellmenreich und vor allem die Niemann-Raabe, die Schwärmerei meiner Jugend, sehen konnte. Ich war mit den Stücken nicht wählerisch, konnte es auch nicht sein, da ich mich immer nach dem Staatsrat richten mußte. Einmal komme ich auch in solch einer wunderbaren Stimmung nach dem Theater heim und sehe ihn mit Schrecken schon in der Tür stehen. "Wo warst du ohne meine Erlaubnis?" "Im Theater." "Was wurde gegeben?" "Pariser Leben." Ich habe ihn nie so böse gesehen, ein Donnerwetter ging auf mich herab. Er gäbe sich die größte Mühe, einen anständigen Menschen aus mir zu machen, und ich machte an einem Abend alles wieder zunichte.
Sonntags ging ich oft in das Städtische Museum. Da machte ich Augen. Da sah ich andere Bilder als das glatte, starre Bildnis meines Onkels in Roitzsch. Ich hatte meine Lieblingsbilder, stundenlang stand ich davor und dachte mir: wenn ich doch auch einmal so etwas machen könnte. Unser Mansardenstübchen war das Stelldichein aller möglichen interessanten und uninteressanten Personen, Freunde und Freundinnen des Staatsrats. Um den immerheißen Samowar saßen polnische, russische und deutsche Musiker und Schriftsteller, verkannte und verbummelte Genies, darunter auch einige nette Leute. Es wurde auf dem Flügel musiziert, in Massen Tee getrunken und Unmengen von russischen Zigaretten geraucht.
Die Unterhaltung war meist nicht geeignet für das Ohr eines so jungen Menschen, wie ich es war. Zum Glück wurde sie oft in Sprachen geführt, die ich nicht verstand. Auch sonst herrschte im Hause ein lockerer Lebenswandel. In einer Ecke der Mansarde wohnte ein junger, sympathischer Handwerker mit seiner älteren Frau, die den ganzen Tag nichtsnutzig herumlag und mich auf Schritt und Tritt verfolgte. Ich war damals noch nicht siebzehn Jahre alt. Sie wollte mich immer küssen, ich schüttelte sie ab, sie aber ließ nicht nach, ich konnte mich kaum vor ihr retten. Eines Abends trat der Mann mir wütend entgegen, er drohte mir mit geballter Faust, ich solle mich vor ihm in acht nehmen, ich wüßte schon, was er meinte. Ich sagte ihm, ich wüßte nichts, denn seine Frau wollte ich doch nicht anklagen. Mit wilden Worten ließ er mich stehen.
Einige Zeit hatten wir einen polnischen Komponisten bei uns herumliegen, seine schöne Frau, die den ganzen Tag weinte, sollte eine polnische Gräfin sein; sie waren irgendwo durchgebrannt und von allen Mitteln entblößt. Ich hatte gerade mein Stipendium erhalten, der Staatsrat überredete mich, es den armen Menschen zu geben; ich tat es, und man dankte mir nicht einmal dafür. Polen und Stipendium verschwanden kurz darauf und wurden nicht mehr gesehen. Später sah und hörte ich nichts mehr von all diesen groß- und schönredenden Menschen. Ein einziges Mal nur wurde ich nach langen Jahren an diese Zeit erinnert, als mich in München ein Greis besuchte. Er blieb in der Tür stehen, breitete die Arme aus und rief pathetisch: "Hermann, kennst du mich nicht mehr?" Ich hatte keine Ahnung. Er umarmte und küßte mich heftig, und nun kam es heraus: es war eines der damaligen Genies, ein verkannter Schriftsteller. Er stellte sich mitten in das Atelier und rief mit tragischer Gebärde:
"Weißt du auch, wer vor dir steht? — Ein Bettler." — Einige Zeit hauste neben uns ein stellenloser alter Schauspieler mit Familie, die der Staatsrat auch halb und halb mit durchschleppen mußte. Der älteste Sohn, Lehrling in einem großen Bankhause, war mein Freund.
Von einer Reise kam der Schauspieler nicht zurück, er hatte seine Familie verlassen, die in das tiefste Elend geriet. Der Junge, ein hübscher gewandter Bursche, verließ sein Bankhaus und ging als Kellner in ein feines Restaurant. Er weinte sehr vor seinem Eintritt, aber er tat es für seine Mutter und seine Geschwister.
Abends stand ich draußen auf der Straße und sah durch eine Vorhangritze, wie mein Freund elegant mit Tellern beladen durchs Lokal lief und damit hantierte, als hätte er nie etwas anderes getan. Ich staunte ihn nur so an und war doch traurig.

Die Kunstakademie  

Ich war noch nicht vierzehn Jahre alt, als ich die Kunstakademie bezog. Die Pleißenburg, ein festes Bollwerk aus alter Zeit, diente als Kaserne, und nur ein Teil des oberen Stockwerkes war der Akademie überlassen. Hier oben hat Goethe als Leipziger Student beim alten Oeser gezeichnet, er nennt die Räume in "Dichtung und Wahrheit" "wundersam und ahnungsvoll". Wir mußten eine dunkle Treppe hinaufsteigen, ehe wir in unsere lichten Räume gelangten. Ein Stockwerk unter uns befand sich das Militärgefängnis, behütet von einem finsteren Profoßen, der uns heitere Kunstjünger immer mißmutig und verächtlich musterte, wenn wir an seinem unheimlichen Reich vorbeikamen.
Sahen wir oben aus dem Fenster herab, dann krabbelten die Hände der Gefangenen aus den Eisengittern heraus und mimten bittend zu uns hinauf, ihre Köpfe konnten wir nicht sehen. Wir angelten ihnen an Bindfaden Zigarren und die Reste unseres Radierbrotes hinab, manchmal auch Würstchen, wenn wir selbst welche hatten.
Als ich das erste Mal da oben in meiner Bauernmütze erschien, wurde ich mit spöttischen Blicken empfangen, auch mein Gebaren kam meinen neuen Kameraden höchst merkwürdig vor. Ich hatte kein Reißbrett, kurz entschlossen befestigte ich meinen Bogen mit Kopierzwecken auf den blanken Tisch und fing sogleich frisch mit der Zeichnerei an. Wir mußten drei Kurse durchmachen, je zwei Jahre Kopiersaal, Antikensaal und Natursaal. Im Kopiersaal hatten wir einen alten Kupferstecher zum Lehrer, der sein ganzes Leben in Rom verbracht hatte, ein Überbleibsel aus der Zeit der Italienfahrten deutscher Künstler.
Er fror fortwährend wie Dürer nach der "italienischen Sonnen", ging in einem großen Campagnamantel umher, den Hals mit einem langen farbigen Schal umwickelt, mit einem ewigen Katarrh und roter Nase.
Er hatte sein Lebenswerk, den Stich nach Raffaels "Verklärung Christi", vollendet und saß hier auf seinem Altersposten, da seine Hand den Stichel nicht mehr führen konnte. Er war meist traurig und niedergeschlagen, nur wenn er auf Rom zu sprechen kam, wurde er Feuer und Flamme. Aus reiner Begeisterung für sein geliebtes Land gab er Schülern, die den Wunsch hatten, später auch einmal eine Italienfahrt zu unternehmen, unentgeltlich Unterricht in der italienischen Sprache. Wie lebte er da auf, wie glücklich fühlte er sich da! Wie schwelgte er in seinen Erinnerungen! Mit Begeisterung beschrieb er das Leben des römischen Volkes, seine Eigenheiten in Sitte und Sprache, erzählte er von den herrlichen Speisen und Weinen, deren Duft er feinschmeckerisch durch die Nase zog. Dabei schloß er die Augen und schnalzte leicht mit der Zunge. Oder er schwärmte in weichen Tönen von der Schönheit der Römerin oder der Campagnalandschaft mit ihren eigentümlichen Bewohnern. Da lehnte er sich zurück, blieb ein Weilchen still, dann stieß er aus seinen Eckzähnen ein scharfes: "Ecco!" hervor. Da habt ihr's, das habe ich erlebt!
Als er dann in Ekstase die Kunst der Alten pries, vor allem die seines geliebten Raffael, dessen Werke er zeitlebens in Kupfer gestochen hatte, dann ging ein eigener Zauber von ihm aus, etwas Reines, Verklärtes, und machte uns den alten mißmutigen Herrn vergessen, der er sonst war. Dies waren wohl seine letzten glücklichen Stunden, denn das Land seiner Sehnsucht hat er nicht wieder gesehen. Er blieb bis an sein Ende hier oben in dieser nüchternen Akademie, in unfreundlicher Umgebung, denn er paßte nicht hierher. Er war im fortwährenden stillen Kampf gegen den Direktor, da er sich nicht unterordnen konnte, und unsere Arbeiten konnten ihn auch nicht erheben, denn wir machten es ihm doch nicht genau genug.
Er weihte uns in die Techniken ein, wir mußten alles mögliche kopieren, vor allem die Handzeichnungen alter Meister, hauptsächlich Dürer und Raffael. Die beliebtesten Blätter waren der alte Mann im Bart und der Hase von Dürer, welche mit Pinsel, brauner Tusche und Weißerhöhung Strich für Strich nachgezogen werden mußten. Beim Hasen wurden die Haare gezählt, auch bei den Runzeln des alten Mannes mußte man gehörig aufpassen, daß keine vergessen wurde. Das war die reinste Zuchthausarbeit, aber noch nicht so schwierig wie das Kopieren eines Kupferstiches mit der Feder. Da war ein fast lebensgroßer Kopf, die Linien gingen über das ganze Gesicht. Man fing links an und fuhr los, der Strich wurde dicker und dünner je nach Licht und Schatten, hauchte gegen das höchste Licht in Punkten aus, fing drüben wieder an und ging so weiter, bis er irgendwo hinter dem Ohr erstarb. Das war eine Fahrt! Man mußte den Atem anhalten, um nicht auszurutschen. Dann gab es die Rieselmanier. Man fuhr schnell mit dem Kreidestift auf einem Papier mit rauhem Korn auf und ab, wobei es einen leichten Klang gab, der an das Rieseln eines Baches erinnerte. Das war die Technik der Lithographen.
Dann die Fliegenschißmanier: das Tupfen kleiner schwarzer Punkte mit der Feder.
Das Pimpeln, ähnlich dem Vorhergehenden, nur mit Kreide oder Bleistift, wurde beim Glattmachen der Zeichnungen angewandt. Zum Schluß die Spezialität der Akademie, der Glanzpunkt, die Krone aller technischen Fertigkeiten: das Wischen. Man nahm Lederläppchen oder Wischer, tunkte sie in ein Häufchen schwarzen Kreidestaub und wischte damit. In dieser Technik wurden die Zeichnungen nach der Natur gemacht, aber besonders wurde sie im Antikensaal angewandt, wo naturgroße Kartons nach bekannten Figuren, betender Jüngling, Laokoon und andere damit gezeichnet wurden. Die Flecken, die beim Wischen entstanden, mußten mit Knetbrot und Kreidestift ausgepimpelt werden. Was ist da für eine schöne Zeit verpimpelt worden! Monatelang wurde oft an einer Figur gearbeitet. Mir ist damit auf viele Jahre die ganze Antike verleidet worden; noch lange konnte ich kein antikes Bildwerk mehr ansehen, ohne an die Wischmanier zu denken.
Im Natursaal wurde nach der Natur gezeichnet, nur einige Auserwählte sah man mit Pinseln malen, sie wurden gehörig angestaunt. Es waren ein paar Lithographen oder Holzschneider, die sich mit Entbehrungen etwas Geld erspart hatten, um einige Zeit die hohe Kunst zu üben und, wenn es gelang, darin zu bleiben.
Aber das Glück, eine Palette in der Hand tragen zu dürfen, dauerte meist nicht lange; ging das Geld aus, mußten sie wieder an ihre Steine und Holzplatten zurückkehren. Auch wollte es mit der Malerei nicht recht gehen, der Kontrast zu ihrer gewöhnlichen Arbeit war zu stark. Die Farbe wollte nicht recht fließen, im Schweiße ihres Angesichts quälten sie sich ab, sie stöhnten und seufzten. Einer war dabei, der sich durch Illustrieren von Damenalmanachen einen gewissen Namen gemacht hatte; seine Spezialität waren süßliche Miniaturzeichnungen, die in Stahl gestochen wurden.
Mit schmalen spitzen Pinseln wollte er die Farbe meistern, es ging nicht. Traurig saß er oft vor seiner Staffelei. Er war älter wie wir, ein blasser, schöner Mann mit tiefschwarzem Haar und langem Bart. Ein Christuskopf für junge Mädchen. Zu seinem Kummer um die Malerei kam noch die Liebe.
Eines Tages erzählte er traurig von seiner Geliebten, er hatte mit ihr gebrochen. Die Mutter war zu ihm gekommen und hatte die Ehe verlangt.
"Ich kann nicht heiraten," hatte er gesagt, "ich habe keinen Farbensinn." —
Wenn man diese drei Kurse absolviert hatte, war man Künstler. Wer es schriftlich bescheinigt haben wollte, bekam ein großes Diplom mit Siegel und Unterschrift des Direktors. Tagsüber waren wir wenige Schüler, die Hauptmasse kam erst abends angestampft, es waren meist Dekorationsmaler, Lithographen, Graveure, Xylographen, die nach ihrem Tageswerk im Abendkurs etwas von der hohen Kunst profitieren wollten. Wir reinen Künstler sahen auf diese Ungeweihten von oben herab. Die Ärmsten; wie viele mußten später umlernen, als zu ihrem Schaden die Zinkographie erfunden wurde. Es waren so nette Leute mit großen Idealen und Künstlerträumen darunter, wenigen nur wurde das Glück zuteil, aus dieser Enge emporzukommen. Max Klinger kam als Einjähriger zum Abendakt, er war als Künstler schon bekannt, wir sahen ihn scheu an und lachten, als der gute alte Kupferstecher seine Arbeit korrigierte. Klinger fing seinen Akt oben an und führte den Kopf ganz aus, ohne vom übrigen Körper nur einen Strich vorgezeichnet zu haben. Das erregte das Mißfallen des Alten, doch ließ sich Klinger nicht stören und zeichnete die nächsten Abende ruhig so weiter, bis er unten bei der großen Fußzehe aufhörte. Der Direktor war früher selbst Xylograph gewesen, dann Maler geworden. Es sollten einige Altarbilder von ihm existieren, wir haben nie ein Werk seiner Hand gesehen. Er kam auch aus Rom, wo er sich der Nazarenerschule angeschlossen hatte. Er war ein tüchtiger Lehrer, der auf strenge Zeichnung sah, doch war sein ganzes System etwas altmodisch und schulmäßig, alles wurde nach Schablone und Tradition behandelt, es fehlte ein frischer Hauch aus der Natur, der uns alle aufgerüttelt hätte. Es lag wohl hauptsächlich daran, daß er selbst zu wenig Künstler war, um durch sein Beispiel anzuregen, und unter den Schülern waren die Talente auch recht dünn gesät. Wenn Goethe schreibt: "Ich illuminierte die Zeichnung und umriß die Landschaft," dann denke ich immer: Aha, das hat er in Leipzig gelernt.
Ich war immer guten Muts und ein froher Liedersänger. Eines Tages sollte uns König Albert besuchen. Der Direktor arrangierte alles etwas gemacht und theatralisch, es sollte recht künstlermäßig bei uns aussehen, mit etwas genialem Anstrich. Majestät hatten gewünscht, wir sollten uns nicht stören lassen. Wir mußten wie gewöhnlich an unserer Staffelei stehen, die Skizzenbücher lagen aufgeschlagen auf den Stühlen herum, um den ungezwungenen heitern Künstlerton zu zeigen, der bei uns herrschte, sollte ich ein Liedchen singen, wenn der König im Nebensaal war. Als der große Augenblick gekommen war, stimmte ich mein damaliges Leiblied: "Mein ganzer Reichtum ist mein Lied" von Herwegh an:

"Ich bin ein freier Mann und singe
Mich wohl in keine Fürstengruft,
Und alles, was ich mir erringe,
Ist Gottes freie Himmelsluft."

Der arme Direktor, ein streng konservativer Mann, mag nebenan schwere Minuten ausgestanden haben, als dieses Freiheitslied erscholl, vorgetragen mit der Begeisterung der Jugend.
"Frisch, frisch," hatte er mir geraten, "nur nicht genieren, tun Sie, als ob kein König nebenan wäre." Ehe ich an die Stelle kam:

"Vor Thronen spielt' ich niemals auf"

betrat der König, freundlich grüßend, den Saal. — Mein Ruf als Dichter und Künstler, der mich unter diesen "Bourgeois" überhaupt nur in Respekt versetzen konnte, wurde in den Lehranstalten, die ich besuchte, wieder aufgefrischt, als ich zum Sedanfest 1875 ein glühendes Vaterlandslied dichtete, das der Staatsrat an verschiedene Zeitungen einschickte, die mir zusammen ein Honorar von 30 Mark sandten, wofür ich mir meine erste Uhr kaufte. Auch hatte er es dem Institutsdirektor zugesteckt, der mir befahl, es beim Festakt vorzulesen. Ich war schüchtern, las es zitternd vor, hatte viel Erfolg, und meine Stellung war für lange Zeit wieder befestigt.
Der Direktor, ein fortgeschickter Pastor, war ein Original. Er hatte die Gewohnheit, immer an der Oberlippe zu lecken, die zu kurz war. Blitzschnell schoß die Zunge heraus, und so war der ganze Mensch. Blitzschnell erschien er in den Klassen, plötzlich stand er da, niemand hatte ihn gehört. Er war der Schrecken.
Morgens vor Beginn des Unterrichts mußte ein Schüler auf dem Podium ein Gebet sprechen, war er fertig, husch, stand der Herr Pastor neben ihm und haute ihm ein paar Ohrfeigen herunter, wenn er nicht andächtig genug gewesen war. Mein alter Staatsrat hatte nun seine "umgekehrte Erziehungsmethode" einige Jahre angewandt und immer seufzend geklagt, daß auch sie bei mir nichts getaugt hätte. Eines Tages gestand er mir, daß er sich verliebt habe und nächstens heiraten werde. So gern er mich hätte, wäre es doch nicht möglich, daß er mich mit in die Ehe brächte, da schon einige Kinder der Frau da wären. Niemand war froher als ich. Wir mußten uns nun trennen.
Seine Braut war die Witwe eines bekannten Weinrestaurateurs, das Lokal in Leipzig berühmt wegen seiner feinen Küche, in die sich wahrscheinlich der Gourmand verliebt hatte. Ich war zur Trauung eingeladen. Als das Paar das Haus betrat, brachte ich nach russischer Sitte mit einem Willkommvers Brot und Salz dar, das war meine letzte offizielle Handlung als Faktotum, Samowarchef, Karnickelhüter, Fußnägelschneider, Buckelkratzer, Launenblitzableiter. Mein alter Freund war gerührt, er weinte und küßte mich nach russischer Art. Wie oft hatte ich von ihm hören müssen:

"Der Frosch hüpft wieder in den Pfuhl, Und saß' er selbst auf goldnem Stuhl!"
Und nun sprang der Frosch vom "goldnen Stuhl" in die Freiheit.

Freiheit  

Mit der Heirat des Staatsrats hörten auch meine wissenschaftlichen Kurse auf, er erklärte meine Bildung für abgeschlossen. In Wahrheit bestand sie aus allerhand bunten Flicken, die ziemlich wahllos durcheinander und übereinander genäht meine Blöße bedeckten.
Ich war nun siebzehn Jahre alt geworden, mein Stipendium war zu Ende, und es trat die Schicksalsfrage an mich heran: wovon willst du leben?
Mein alter Erzieher, mit dem ich Freud und Leid und alles, was ins Haus kam, geteilt hatte, war für mich verloren. Er hatte noch an mich gedacht, indem er mir einige Freitische verschaffte, wahrscheinlich durch die Vermittlung seiner Gattin; unter anderen in einem großen vornehmen Restaurant, wo ich jeden Freitag die Spezialität, Sauerbraten, erhielt. Ich bekam einen großen Teller Fettes, das ich hinunter würgte, so zuwider war es mir. Ein alter Herr, der mir gegenüber saß, empörte sich einmal und rief mir zu, ich solle mir doch das nicht gefallen lassen. Ich wurde puterrot und konnte nichts erwidern. Da stand er auf, ging an die nahe Küchenöffnung, woraus die Speisen kamen, und machte einen Mordsskandal über die Gemeinheit, einem jungen wehrlosen Menschen für sein gutes Geld solch ein Essen zu geben. Die Wirtin schämte sich, sie sagte nichts und schickte mir einen Teller mit gutem Braten. Es schmeckte mir aber nicht mehr, und ich ging und ließ mich hier nicht mehr sehen. Eine andere Empfehlung der Frau Staatsrat war ein Charcutierladen*, der für mich lange Zeit eine große Hilfe war. Jeden Tag konnte ich dorthin gehen und mir eine Portion Aufschnitt holen. Die Inhaberin, eine nette Frau, war feinfühlig; waren Leute im Geschäft, sagte sie lächelnd: "Es wird aufgeschrieben!" Von den guten Sachen, die sie mir gab, lebte ich oft wochenlang ausschließlich. Zum Danke zeichnete ich ihr Bildnis in Wischmanier, über das sie hochbeglückt war. —
Der Staatsrat hatte sich mit seiner Liebesheirat stark verrechnet, er erhielt einen prima Tisch, wurde aber sonst sehr kurz gehalten. Er fing an zu kränkeln und sehnte sich nach der Freiheit zurück. Wenn ich ihn an seinem Krankenlager besuchte, hielt er oft lange meine Hand in der seinigen, drückte sie und sagte: "O Hermann, unser Junggesellenleben war doch schön." Das Nichtstun und die neue Umgebung bekamen dem geistig lebhaften Mann nicht. Er starb kurze Zeit darauf. Ich habe ihn sehr betrauert, denn trotz seiner Schrullen liebte ich ihn und war ihm dankbar, denn was wäre aus mir geworden, wenn ein gütiges Geschick uns beide nicht zusammengeführt hätte.
Nun hieß es: Geld verdienen, ganz gleich auf welche Art. Meine künstlerische Ausbildung war halb oder ein viertel oder noch weniger fertig. Ich beherrschte allerdings außer der Wischmanier so ziemlich alle Techniken, die man mit trockenen oder flüssigen schwarzen Massen auf Papieren mit und ohne Korn anwendet. Aber das waren brotlose Künste. Ich versuchte es mit anatomischen Zeichnungen. Das war eine kribbelige Arbeit, für die ich gar kein Talent hatte. Der Direktor ernannte mich zu seinem Faktotum, doch das war mehr ein Ehrenposten. Ich mußte ihn in der Gewerbeschule, die er auch übernommen hatte, in seinem Zeichenunterricht vertreten, dafür erhielt ich zwanzig Mark monatlich. Er suchte mir zu helfen, wo er konnte. Er empfahl mich dem Archäologen Professor Overbeck, bei dem wir Akademieschüler Vorlesungen hatten. Der brauchte einen jungen Künstler, der für ein Buch die Meisterwerke der griechischen Skulptur auf Holz zeichnen sollte. Ich verdarb es gleich zu Anfang mit ihm. Als er mir Photographien nach Reliefs vorlegte, die arg lädiert waren, fragte er: "Können Sie das getreu zeichnen?" "Gewiß, Herr Professor, ganz genau." "Wie wollen Sie die fehlenden Stellen behandeln?" "Die bessere ich aus!" sagte ich naiv. Ich wollte es recht gut machen und nun sah ich, wie der Archäologe vor Schrecken erbleichte.
Solche Gelehrten füllen ihr Leben aus mit Kopfzerbrechen, Hypothesen und Streitschriften oft über ein einziges kleines Bruchstück, und da kommt ein junger Mensch daher, der alles Fehlende ergänzen will.
Den ganzen hochgelehrten Stand der Archäologen hätte ich auf einen Ritt unnütz gemacht, denn wozu hätte es noch welche geben sollen, wenn keine leeren Stellen mehr zum Raten dagewesen wären.
Ich wunderte mich sehr, als der berühmte Mann mich ungnädig entließ und mein Direktor die Hände über dem Kopf zusammenschlug, als er hörte, welch unerhörte Lästerung des Heiligsten ich vor dem großen Tempelhüter begangen hatte. Er verschaffte mir nun die Illustration eines Buches. Umgeben von Ludwig Richter-Büchern fertigte ich die Zeichnungen unter seiner Aufsicht an. Ich stöhnte dabei; viel lieber hätte ich mir Menzel zum Vorbild genommen, der mein Abgott war. Damals erschien der "Zerbrochene Krug" mit seinen wundervollen Illustrationen. Ich schwärmte so viel von meinem geliebten Meister, daß ich den Spitznamen "Menz" erhielt: ich war nicht böse darüber.
Dem Direktor mußte ich bei seinen Arbeiten helfen. Er malte schon lange an einem großen Altarbild, einem Christus am Kreuz, und einigen kleinen Bildern mit Stoffen aus der Bibel. Er tat sich recht schwer, die kleinen Entwürfe wurden mechanisch auf die Leinwand vergrößert: ich mußte die Quadrate ziehen und die ganze langweilige Arbeit verrichten. Alles betrieb er so geheimnisvoll, daß kein Schüler außer mir sein Atelier betreten durfte.
Einmal hatte ich aus Versehen nicht angeklopft, als ich hinein kam. Da lag ein männlicher Akt in der Stellung des Gekreuzigten am Boden auf einem großen Karton, und der Direktor zog mit Kohle die Konturen des Körpers nach. "Zur Nachprüfung," sagte er schlagfertig. — "Geld verdienen!" dachte ich nun Tag und Nacht; es fing an, mir recht schlecht zu gehen.
Ich versuchte es bei der "Gartenlaube". Dieses Blatt spielte damals eine große Rolle; schon als Kind hatte ich von dem Glück geträumt, wenn hier einmal eine Zeichnung von mir erscheinen würde.
Ich ging zum alten Keil, dem Herausgeber, und legte ihm Zeichnungen vor; ich sei noch zu jung, sagte er. Ebenso erging es mir bei Payne vom "Hausfreund", der gern Romanzeichnungen von mir gehabt hätte, denn ich wollte sie billig liefern. Er wolle sich's überlegen, ich solle wiederkommen. Bei meinem zweiten Besuch sagte er:
"Junger Mann, ich sehe, Sie wären geschickt für so etwas, aber es fehlt Ihnen etwas. Sie sind noch zu jung. Sie können die Liebesszenen nicht richtig darstellen, es fehlt Ihnen noch die Erfahrung, Sie haben noch nicht geliebt." Ich sollte erst das Leben kennenlernen und dann wiederkommen. "Doch hüten Sie sich, daß die Frauen Sie nicht ruinieren, wie so manchen Künstler; es wäre schade um Sie." Mit diesem guten Rat entließ er mich; traurig und niedergeschmettert zog ich ab. —
Nun fing ich etwas mit der Wischerei an. Ich kaufte die Photographie der damals beliebtesten jungen Schauspielerin in Leipzig; ihren Namen habe ich nicht vergessen, sie hieß Fräulein Zipser. Die vergrößerte ich in der glattesten, ausgepimpeltsten, fleckenlosesten Wischtechnik, mit zum Schluß dezent aufgetragenen rosa Lippen und Wangen. Das Bild machte mir viel Mühe, es wurde im Schaufenster eines Buchhändlers in der Nähe des Theaters ausgestellt. Fräulein Zipser schrieb mir einen liebenswürdigen, anerkennenden Brief; Aufträge trafen nicht ein, nach vier Wochen ersuchte mich der Buchhändler um baldigste Abholung. Wir lebten damals in der Zeit des Kulturkampfes, die "Gartenlaube" und andere Familienblätter brachten viele Bilder gegen die Pfaffen. Ich dachte mir: versuch's mal damit. Ich zeichnete eine Komposition auf Holz: ein angetrunkener Bauer sitzt sonntags auf dem Betschemel eines Feldkreuzes und ist eingeschlafen, der Pfarrer steht davor und macht ein böses Gesicht.
Ich versuchte es wieder bei Keil, zuerst gefiel es ihm, doch lehnte er es schließlich ab. Nun ging ich zu Payne, der es annahm. Ich erhielt fünfzig Mark Honorar in lauter Fünfzigpfennigstücken; mit dem Geld in den Taschen klimpernd lief ich zu allen Kameraden und machte ihnen diese Musik vor. Berauscht von diesem Erfolg zeichnete ich sofort ein neues Bild aus der damals in Familienblättern auch beliebten Spitzbuben- und Handwerksburschenromantik. Ein Landstreicher liest an der Amtstafel eines Städtchens seinen eigenen Steckbrief und fährt entsetzt zurück. Damit hatte ich wieder Glück bei Payne. Meine weiteren Versuche mit derartigen krampfhaften Ideen hatten aber keinen Erfolg mehr, und ich mußte damit aufhören. Die plötzlich erlangte Freiheit nach so langer Knechtschaft tat mir nicht gut. Hatte ich etwas Geld verdient, war es schnell vertan, und dann mußte ich lange einsam in meinem Zimmer sitzen und darben.
Ich bewohnte in einem originellen, runden Häuschen in den Anlagen, wahrscheinlich einem Gartenpavillon aus der galanten Zopfzeit, ein Zimmerchen, das meine Freunde den "Tortenschnitt" getauft hatten. Von der Mitte aus, durch die eine schmale Wendeltreppe hinaufführte, waren die Zimmer abgeteilt, und das Ganze hatte in der Form wirklich etwas von einer Torte. Zu ebener Erde war eine öffentliche Badeanstalt mit Tortenschnittkabinen. Die Polizei erschien öfter, es sollte da unten nicht ganz geheuer zugehen. Mein Zimmerwirt, der Besitzer, spielte immer den Biedermann und war empört über die polizeilichen Besuche.
Durch meine Institutsfreunde wurde ich in eine Schülerverbindung eingeführt, wo es flott zuging. Wir spielten die Studenten. Da die Söhne bekannter Leipziger Familien bei uns "aktiv" waren, gab der Wirt unbegrenzten Kredit. Mit den Farben schmückten wir uns nur innerhalb der vier Wände des Kneiplokals, hinaus ins Freie wagten wir uns nicht damit, höchstens einmal in dunkler Nacht. Einer von uns, auch ein Akademieschüler, hatte die ungeheure Kühnheit, sich am Tage in unserer Couleur auf der Straße zu zeigen. Er lief mit gemalten Schmissen herum und kam zur Sommerszeit oft in meinen Tortenschnitt, um mit Aquarellfarben die Narben neu zu malen, da sie ihm vom Schweiß immer weggespült wurden. Ich lebte nun so dahin von meinen geringen Einnahmen und dem ausgiebigen Pump beim guten Michel, unserm Kneipwirt, der nach langen Jahren seine Rechnung mit Zinsen bei mir in München einkassiert hat.
Der Tortenschnitt war der Sammelpunkt aller Genies, es wurde geschwärmt, gelesen und gefaulenzt. Die großen Ferien und die Feiertage verbrachte ich beim Onkel Rudolph in Roitzsch, wo ich in Studentenmütze und -band herumstolzierte, aber immer heimliche Angst hatte, es könnte mir einmal ein wirklicher Korpsstudent begegnen. Eine Weihnachtsfahrt nach Hause werde ich nie vergessen. Ich sollte in Halle umsteigen und stehe und warte auf den Zug. Nach meiner Gewohnheit schaue ich und betrachte das Treiben der Menschen und vergesse alles dabei, der Bahnsteig wird leer, ich stehe allein und warte auf den Zug. Ich wußte nicht die Zeit, denn meine schöne Sedanuhr war längst versetzt und verfallen. Endlich frage ich und höre mit Schrecken:
der Zug ist schon längst abgefahren. Was nun tun? Geld hatte ich keins, auch kannte ich keine Seele in Halle. Da gab es nur eins: zu Fuß nach Roitzsch, dreiundzwanzig Kilometer, ein weiter Weg in der Nacht.
Ich nahm meinen Koffer auf die Schulter und marschierte los. Es war eine schöne klare Winternacht. Die Sterne leuchteten und der fest gefrorene Schnee knisterte lustig unter meinen Tritten. Ich fragte mich durch die Vorstadt und kam endlich ins Freie. Auf der schönen geraden Chaussee marschierte ich nun in die stille Nacht hinein, rechts und links dämmerten die Dörfer hervor, hundertfach huschten die vom Weihnachtsbaum erhellten Fenster an mir vorbei, bald noch in fester Gestalt, bald in der Ferne in der weißlichen Dämmerung verschwindend. Mein Koffer drückte mich schwer, doch wie schön war das, was ich sah, und bald vergaß ich die Last auf den Schultern. Die Straße war einsam und keine menschliche Seele zu sehen, denn es war die Zeit der Bescherung. Ringsum tiefe Stille, nur aus der Ferne erklang, von Kinderstimmen gesungen, das Weihnachtslied.
Ich stampfte weiter, eine Stunde, zwei, drei; dann kam etwas Ermüdung über mich.
An der Straße lag ein großes Gehöft. Eine Frau trat aus der Tür, der Lichtschein traf mich. Ich saß auf einer Bank und wollte ein wenig ausruhen.
"Nu, wo kommen Sie denn her um diese Zeit?" fragte die Frau. Sie sah mir wohl an, daß ich kein Handwerksbursche war. "Von Halle." "Und wohin?" "Nach Roitzsch." "I du meine Güte! Warum fahren Sie denn nich mit der Bahn?" Sie war eine freundliche Frau, und ich erzählte ihr lachend mein Unglück. "l nu, da kommen Sie doch herein," sagte sie, "das gibt es doch nicht, so allein am Weihnachtsabend durch die Kälte laufen."
Ich ließ mich nicht lange bitten, und drinnen saß ich eine Stunde lang mit der Familie unter dem Weihnachtsbaum. Man bot mir zu essen und zu trinken an, und ich schlug's nicht aus, denn ich war hungrig.
Mit guten Wünschen wurde ich entlassen und nun marschierte ich mit neuen Kräften weiter. Nach fünfstündigem Marsch erschien ich um Mitternacht zu Hause. Zuerst wollte niemand mein Abenteuer glauben, doch endlich erklärte man: das ist wieder echt. — Die vorgeschriebene Studienzeit von sechs Jahren war nun von mir absolviert und ich fühlte nichts als Lücken. Mit dem fertigen Künstler war es nichts, hatte ich doch noch nicht einmal eine Palette in der Hand gehabt. Aus München drangen von Kameraden Sirenenklänge zu uns, und oft wurde ich von großer Sehnsucht dahin gepackt, denn dort war es größer und freier. Die Mängel unserer Lehrer und unserer ganzen Art waren mir schon längst klar geworden, aber es war keine Hoffnung, jemals hier herauszukommen. Auch quälten mich meine Schulden. Es waren ja nicht viele, aber sie erschienen mir unheimlich, gigantisch. Ich kam mir oft vor wie ein Verbrecher.
Ostern kam heran, und ich erhielt das Einjährigenzeugnis. Ich faßte nun einen großen Entschluß: Fliehen! Zuerst wollte ich zum Onkel und ihn bitten, die Schuld zu zahlen und mir etwas Geld zu geben, damit ich nach München fahren konnte. Dort würde ich schon selbst weiter kommen. Diese Bitte war nicht unbescheiden, hatte er doch für mich Ziehgeld genommen, ein Unrecht, denn ich hatte mein Brot bei ihm schwer genug verdienen müssen. Auch hatte er mich bisher noch mit keinem Pfennig unterstützt. Da ich vom Verkauf unseres kleinen Anwesens noch einige hundert Mark Erbschaft zu erwarten hatte, war er auch sichergestellt. Mitzunehmen hatte ich nicht viel. Das Bett des Onkels war längst versetzt und verfallen; mein Hab und Gut konnte ich leicht in meinen Koffer packen. Eine Rolle Zeichnungen, das Resultat meiner Studien, wurde draufgebunden. Meinem Direktor wollte ich von Roitzsch aus schreiben, denn ich hatte Angst, daß er mich zurückhalten würde, wenn ich ihm meinen Entschluß offenbart hätte.
Bald erfuhr er meine Flucht und erklärte vor der Klasse: "Nun wird er zugrunde gehn."
Auch dem Hauswirt durfte ich nichts sagen, der hätte mich erst recht nicht fortgelassen. Es stand bei ihm eine kleine Schuld, die wollte ich ihm schicken, wenn alles geregelt war. Abschied nahm ich nur von Liddy, meiner blonden, reinen Jugendliebe. Ich hatte sie schon geliebt, als sie im kurzen Kleid beim Staatsrat Klavierunterricht genommen hätte. Die Mutter war vermögend und wünschte, daß wir uns verlobten. Aber ich bekam Angst um meine Kunst. Ich erklärte ihr meinen aussichtslosen Beruf und sagte, wir sollten warten, zehn Jahre, dann hätte sich mein Schicksal entschieden. Wir weinten sehr beim Abschied. Liddy hat sich einige Jahre darauf auf Wunsch der Mutter verheiratet und schrieb mir nach zehn Jahren einen reuevollen Brief. Sie war sehr unglücklich geworden. —
Nun hatte ich die Schiffe hinter mir verbrannt. Zu Ostern war ich in Roitzsch.
Am ersten Feiertag komme ich nachmittags nach der Kirche nach Hause und sehe schon von draußen meinen Hauswirt am Fenster sitzen. Drinnen war große Aufregung, der Onkel in Zorn, die Tante in Tränen. Der Leipziger saß ruhig da und musterte mich mit frechen Blicken. Der Onkel rief: "Also solch ein Kerl bist du. Durchbrennen und nicht zahlen! Und das schöne Bett versetzt!" Die Hauptsache drehte sich um das Bett. Der Sachse hatte alles geklatscht. Er hatte mich schlechter gemacht, als ich war. Er erhielt seine dreißig Mark und ging. Nun brach erst recht das Gewitter über mich herein. Mein Bitten, mein Weinen half nichts. "Wie sein Vater! Wie sein Vater!" schrie in einem fort der Onkel. Dann legte er mir zwanzig Mark hin. "Hier, mach daß du weiter kommst, und betritt mein Haus nicht mehr."
Ich nahm das Geld und sagte: "Ihr werdet mich nicht wiedersehen."
Bis zur Dunkelheit schlich ich mich um den Ort herum, denn überall war meine Schande schon bekannt, da der Leipziger in der Wirtschaft alles erzählt hatte. Dann nahm ich Abschied von meinem alten Kantor und meinem Freund Steiner, die mir treu geblieben waren, und verließ Roitzsch für immer. Mit dem Nachtzuge fuhr ich zu meinem Bruder nach Berlin.

Beim Bruder  

Ich saß nun im Abteil vierter Klasse auf meinem Koffer, meine Rolle Zeichnungen im Arm, die mir vielleicht weiter helfen könnten.
Meine Fahrtgenossen waren in fröhlicher Feststimmung, ich verbarg mich hinten in einer Ecke und dachte über mein Schicksal nach; die Aussicht in die Zukunft kam mir düster und hoffnungslos vor, meine Fähigkeiten so kümmerlich, daß ich mir selbst nur ein bescheidenes Plätzchen im Vorhof der Kunst einräumte.
Wie glücklich war ich noch am Morgen des Ostertages gewesen, als ich in der Kirche beim Orgelklang davon träumte, wie ich nun bald in München die höhere Weihe erhalten würde. Das sollte mein Auferstehungstag sein. Wie würde ich dort arbeiten und mir die Zufriedenheit des Meisters erwerben, bald würde man mir Stipendium und Freiplatz geben, oder ich wollte mir das Wenige irgendwie erarbeiten, was ich brauchte, denn ich war von Leipzig her an karge Kost gewöhnt. Und nun mußte ich Obdach bei meinem Bruder suchen, einem armen Feuerwehrmann, der für Frau und Kinder zu sorgen hatte. Wie oft hatte er mich eingeladen, ihn doch einmal zur Festeszeit zu besuchen, und nun war ich da. Lange durfte ich ihm nicht zur Last liegen, sofort mußte ich irgend etwas suchen, wo ich aus meiner Handfertigkeit Gewinn ziehen konnte.
Ich war noch nicht in Berlin, da kam meine Natur schon wieder obenauf. Ich drückte meine geliebten Zeichnungen ans Herz und sagte mir: dort in der großen Stadt wird es doch irgendwo ein Plätzchen für dich geben, eine Stelle, wo du mit Zeichnen ein paar Mark täglich verdienen kannst. In Leipzig war ich nie verzagt, hatte den Glauben an mich nie verloren und sollte nun hier verzweifeln? 0 nein!
Bei meiner Einfahrt in Berlin lagen Onkel und Roitzsch schon weit hinter mir, frisch nahm ich den Koffer zur Hand und die Zeichnungen über die Schulter und marschierte im Morgengrauen des zweiten Osterfeiertages den weiten Weg durch die Stadt nach Berlin-Nord, wo mein Bruder im billigen Viertel wohnte.
Auch saßen in der Nähe zwei Onkel mütterlicherseits, wohlhabende Hausbesitzer, doch wollte ich aus Stolz keinen um Hilfe angehen.
Mein Bruder war erfreut, als ich kam, und erstaunt, daß ich mich nicht angemeldet hatte. Wie gut und lieb er war, als ich ihm nach einigen Tagen die Wahrheit bekannte. "Bleibe bei mir," sagte er, "bis dir's besser geht." Nun kamen die Werktage, und ich lief in der großen Stadt umher, blieb vor den Läden stehen, betrachtete die Aufschriften der Firmen, sah die eiligen Menschen kommen und gehen und wartete auf einen Zufall, ein Wunder, ob ich nicht einmal etwas sehen würde, was mich auf eine Idee brächte, oder ob mich nicht einmal ein Mensch anreden würde, ich solle ihm eine Zeichnung anfertigen. Es kam nichts; es vergingen zwei Wochen, drei. Ich fing an, unruhig zu werden, zermarterte mein Gehirn, lag nachts schlaflos und suchte nach dem rettenden Gedanken. Ich hörte in der Stille den ruhigen, glücklichen Schlaf der Familie und kam mir hier als ein unwürdiger Eindringling und Schmarotzer vor.
Eines Abends wollte ich wieder müde und zerschlagen heimkehren, als ich im Schaufenster einer Buchhandlung ein neues Witzblatt ausliegen sah. Es waren die ersten Nummern des "Schalk, Blätter für deutschen Humor". Ich kaufte mir eine davon und besah sie zu Hause ganz genau. Hübsche Zeichnungen waren darin, von Düsseldorfer und Berliner Meistern, in der neu erfundenen Zinkätzung, einige frisch mit einer neuen Note: Modernes Leben! In Leipzig war es so, als bestünde die Welt aus lauter Aposteln, Botenfrauen, zerfallenen Häusern und idyllischen Kackhäuschen; hier war eine Saite angeschlagen, die schon lange in mir geklungen hatte. Dieses neue Blatt ging mir nun gehörig im Kopf herum. Ich fing an, wieder heiter zu werden, ich bekam ein wonniges Gefühl, wenn ich die Zeichnungen betrachtete, und sagte mir ganz im stillen: das kannst du vielleicht auch! Schon in Leipzig hatte ich viel auf der Straße und in den Wirtschaften skizziert und eine gewisse Fertigkeit im Festhalten bewegter Menschen und anderer Dinge mir angeeignet. Das, was ich hier im Blatt sah, hatte ich ja auch schon gemacht, nur nicht so gut. Auch in der Federtechnik war ich geübt, hatte ich doch schon als Kind Bilder aus der "Gartenlaube" mit Tusche und Feder kopiert.
Es dauerte nicht lange, da war die erste Zeichnung geboren. Es hingen ihr noch einige Leipziger Eierschalen an, sie war noch etwas steif und ungelenk, die modernen Kleider saßen noch nicht recht am Leibe, aber sie hatte eine gewisse Lebendigkeit und war als Anfang nicht übel. Ich entdeckte meine Mängel und sah mir nun die Leute auf der Straße genauer an. Meine Männlein und Weiblein bekamen mehr Richtigkeit und Ausdruck, sie fingen an, sich freier zu bewegen, sie nahmen natürliche Stellungen an. Die in Leipzig beliebten Spielbein rechts-, Standbein linksposen konnte ich nicht gebrauchen, ich mußte die Natur beobachten und es so machen, wie ich es da sah. Endlich meinte ich, nun könnte ich's versuchen. Ich schickte einige Zeichnungen an die Redaktion des "Schalk" nach Leipzig. Nach einigen Tagen banger Erwartung traf ein Brief des Herausgebers Dr. Julius Lohmeyer ein und — Geld! Die Bilder hatten gefallen, einige davon waren angenommen, und ich wurde aufgefordert, mehr zu schicken. Welch ein Freudentag war das für mich und für meinen Bruder, wie glücklich war ich erst, als in einer der nächsten Nummern mein Name als Mitarbeiter unter berühmten Meisternamen stand. Ich trug das Blatt überall mit mir herum und las immer wieder: Ludwig Knaus, Hermann Schlittgen. Nun erschien die erste Zeichnung und dann in fast jeder Nummer eine. Ich schickte sie zu meinem alten Kantor nach Roitzsch und erwartete von ihm ein freudiges Zeichen über meinen ersten Erfolg. Endlich kam ein Brief, kalt und voll Tadel, eine förmliche Absage an mich. Er war nicht zufrieden mit meiner Richtung, er hätte mich auf den Weg der reinen deutschen Kunst geführt, die ich nun so leichtsinnig verlassen hätte, um mich diesem Flitterwerk hinzugeben. Ich schrieb ihm, daß ich meinem innern Drang folge, ich sei jung und stünde in der neuen Zeit, er möge mir seine Freundschaft nicht entziehen, ich könne nicht anders. Alles hatte er mir vergeben, meine Leipziger Streiche hatten seinen Glauben an mich nicht erschüttert, und nun mußte ich ihn verlieren, als ich bewies, daß er sich nicht getäuscht hatte.
Das Honorar war für mich als Anfänger recht gering, und doch kam es mir vor, als sei ich nun in einen sichern Hafen eingelaufen und alle Not für immer vorbei. In der Ferne winkte wieder München, aber für eine so weite Reise langte das Geld nicht, und es wurde beschlossen, vorerst einige Zeit in Weimar zu bleiben, das am Wege lag. Die dortige Kunstschule hatte einen guten Ruf, sie galt als frisch und modern, und in letzter Zeit waren einige tüchtige belgische Maler dahin berufen worden. Dort kannst du etwas profitieren, sagte ich mir, nahm Abschied von meinem guten Bruder, der mich nun schon anstaunte, als wäre ich ein großer Meister, und fuhr nach Weimar, in dessen Straßen ich zu Pfingsten stolz erhobenen Hauptes wandelte.

Weimar  

Hier herrschte nun ein anderer Ton als in Leipzig, und ich bildete mir ein, ich sei eine Stufe höher gestiegen nur dadurch, daß ich einfach da war. Wenn dort das Genietum sich schüchtern nur in einigen Exemplaren hervorwagte, war hier das Städtchen angefüllt mit stolz einherschreitenden, selbstbewußten jungen Künstlern, die mit den noch lauteren Musikschülern und den ganz auf der Höhe schreitenden Lisztjüngem sich als Herren der kleinen Residenz fühlten. Hier wurde nicht mehr in gedämpften Tönen geschwärmt wie im "Tortenschnitt", sondern laut und vernehmlich mit jeder Gebärde und mit jedem Wort betont: Der Künstler ist der erste Mensch auf der Welt, dann kommt lange nichts! Hier auf dem klassischen Boden fühlte jeder von uns etwas von den Geistesheroen in sich, selbst wenn er sie nur dem Namen nach kannte. "Sturm und Drang" war uns nötig, meinten wir, ebenso wie den großen Dichtern. Unsere Außenseite war etwas rauh und burschikos. Ein junger aufgeblasener Berliner Maler sagte mir einmal: Die Düsseldorfer Künstler sehen aus wie Kaufleute, die Münchner wie Künstler und wir Berliner wie Offiziere in Zivil. Wir jungen Weimaraner sahen damals meist aus wie Handwerksburschen. Das Geld war auch hier so knapp wie in Leipzig, und unter den Weimarer Wirts- und Geschäftsleuten war mancher, der den jungen Künstlern die Schuld wohl aufschrieb, aber auch einmal bezahlt haben wollte.
Ich vergesse nie das Bild voll tragischer Komik, das ich jeden Ersten des Monats von meinem Fenster aus sehen konnte. Des Morgens zu einer gewissen Stunde zog ein Freund die Straße hinauf zur Kunstschule, immer gefolgt von einigen Gläubigern. Im Sekretariat erhob er die Monatsrate seines Stipendiums; diese Leute hatten es erfahren und ihn an seiner Wohnung abgelauert; sie ließen ihn nicht mehr locker bis an die Tür, um ihn abzufangen, wenn er mit dem Geld wieder herauskam. Der Winter kam, und es wurde recht kalt. Ich hatte in der Schützenstraße zu ebener Erde ein Zimmer gemietet; es war, wie fast alles in Weimar, klassischer Boden. Im Hause war in früherer Zeit die städtische Zeichenschule installiert, welche von Goethe als oberstem Inspektor oft besucht wurde. Hier auf dem nackten Steinboden, ohne Heizung, fror ich entsetzlich, wenn ich meine Zeichnungen anfertigen mußte. Mein Freund auf der andern Seite des Ganges, der junge Dichter Schulte vom Brühl, war praktisch gewesen; er hatte sich ein großes Faß angeschafft, es mit Stroh ausgefüllt und saß nun vergnügt drinnen, dichtete und dampfte eine lange Pfeife, die außen am Faß herabhing. Wenn ich fror, lachte der Dichter vergnügt und riet mir, ich sollte mir auch ein Faß anschaffen, aber ich war für diese steife Umhüllung ein zu unruhiger Geist. Unser Mittagbrot nahmen wir jungen Künstler, Maler und Musiker, bei einer verwitweten Frau Baurat ein; es war bei ihr schmutzig und schlecht, aber billig. Eines Tages zog ein Teil ab, zu ihrer Konkurrenz, der verwitweten Frau Pastor, bei der es noch schlechter, aber noch billiger war. Die bei Frau Baurat verbliebenen Freunde erzählten uns, daß die gute Frau über unser Fortgehen geklagt, aber doch einen gewissen Trost gefunden hatte: "Na, um den Herrn Schlittgen nun is mir's weeß Kott gar nich leid; er hat so immer so viel Kemüse kekessen."
Ich mußte mich mit den Illustrationen abplagen. Der Schalk florierte zum Schluß nicht mehr; als alle bekannten Namen, einer nach dem andern, abfielen, war ich der Hauptzeichner geworden, wohl hauptsächlich deshalb, weil ich der billigste war. Ich erhielt für die Zeichnung nur noch fünf Mark; des Morgens, wenn ich erwachte, mußte ich mir sagen: bis heute abend mußt du eine fertig haben. Dabei blieb für die Kunstschule nicht viel Zeit übrig, tagsüber war ich dort kaum zu sehen, da wir auch sonst viel Zeit mit Bummeln vertrödelten.
Abends saß ich fleißig im Akt und der Perspektivlehre. Aber die Hauptsache, nach der ich strebte, die Malerei, erblickte ich sehnsüchtig wieder nur von weitem, von glücklichen Freunden ausgeübt, die sorglos im Malsaal vor ihrer Studie standen. Die Hauptanziehung der Schule waren die beiden jungen belgischen Maler Linnig und Struys, die vor kurzem hierher berufen waren, aber bald wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Nach Jahren hörte ich von Struys, als ich an der belgischen Küste lebte. Seine Bilder hatten gewöhnlich einen etwas sensationellen Anstrich, doch waren sie von großem Können und einer seltenen Formbeherrschung. Auf der Weltausstellung in Paris 1889 hatte er für sein großes Bild "Das Testament", worauf ein Geistlicher dargestellt war, der auf dem Bett vor einem Sterbenden sitzt und ihm die Hand führt, wie er seinen letzten Willen schreibt, die höchste Auszeichnung für jedes Land, die Ehrenmedaille, erhalten. Als Struys von Paris in seine Vaterstadt Löwen, in welcher er jetzt lebte, zurückkehrte, wurde er von den Vereinen, die Feuerwehr an der Spitze, am Bahnhof empfangen und mit Musik im Triumph durch die Hauptstraßen zu seinem Heim geleitet, ein rührender Beweis von Künstlerverehrung. Gegenüber unserer Kunstschule wohnte Franz Liszt in einem schönen, fürstlichen Gartenhaus; in den herrlichen Bosketts, Laubengängen und Obstbaumanlagen sahen wir ihn mit seinen Schülern und Schülerinnen, wie ein großer Meister aus der Renaissancezeit, umgeben von seinem Hof. Oft traf ich ihn nachts, wenn ich heimkehrte, wie er langsam durch die Straßen der Stadt ging, den Hut in der Hand, die Arme verschränkt, den Blick im Sternenhimmel verloren, das echte Bild eines träumerischen, großen Künstlers. Der Großherzog war stolz auf sein Ilmathen und liebte seine Künstler; er war nachsichtig gegen ihre tollen Streiche, über die sich seine biederen Untertanen entsetzten. Der Direktor erzählte, daß er ihn bei einer Audienz gefragt habe: "Nun, was machen meine jungen Künstler? Sie haben lange keine Laternen eingeschlagen; sollen es nur tun, sollen es nur tun." Die aufbrausende stürmische Lebendigkeit der Künstler war wie ein lauter Protest gegen die lahme, einschläfernde Spießbürgerlichkeit der Kleinstädter, die sich hier noch dazu in einer echt sächsischen Klatschhaftigkeit äußerte. Wie konnte es Goethe hier fast sein ganzes Leben lang aushalten, fragte man sich da und verstand seine Flucht nach Italien, die vielleicht nicht allein von der Frau von Stein veranlaßt war. Als er von Rom zurückkam, wo er fast ausschließlich mit freien deutschen Künstlern verkehrt hatte, war er gefeit, unempfindlich geworden und konnte nun ruhiger leben. Als die Weimarer von seiner Künstlerliebe zu Christiane hörten, sagten sie: Er ist in Rom verdorben, dort ist er in schlechte Gesellschaft geraten.
Hier im schönen Ilmtal hat sich die kleine, tüchtige Landschafterschule Weimars gebildet: Theodor Hagen, Buchholz, v. Gleichen-Rußwurm und vor allem Christian Rohlfs, ein geborener Kolorist, der sich später unter dem Einfluß von Claude Monet zu einer der interessantesten Erscheinungen der heutigen deutschen Malerei entwickelt hat. Rohlfs mußte jahrzehntelang ein elendes Leben führen, das Hungerdasein des verkannten Künstlers; man ließ ihn ruhig im Krankenhaus von Weimar am Hungertyphus liegen, vor seinem sichern Untergang rettete ihn nur seine angeerbte eiserne holsteinische Bauernnatur. Erst sehr spät kam er zur Anerkennung und konnte sich an seinem Ruhme sonnen. Im Alter von siebzig Jahren malte er noch frisch wie ein Junger und stampfte auf seinem Holzbein in die Landschaft hinaus.
Der Park an der Ilm, vom Schloß bis hinaus nach Oberweimar, ist reizend, die Anlagen mit ihren geschmackvoll hingesetzten Baumgruppen schon allein ein herrliches Studienfeld. Auch hier hat Goethe den Meister gezeigt, nach seinen Angaben wurde der Park angelegt; man fühlt ordentlich, wie er an die schönen Linien gedacht hat, die sich später hier bilden würden, wenn die Bäume wachsen und sich entfalten, damit es eine Landschaft gibt, für den Künstler zum "Umreißen" und zum "Illuminieren". Ein feiner Duft von Schönheit und Geistigkeit liegt über dieser, einzigen Stadt, die heilige Erinnerung an etwas Großes und Erhabenes, das einmal da war und nie wiederkehren wird. Inzwischen hatten mir alte Leipziger Kameraden die schönsten Dinge aus München gemeldet, und ich beschloß nun, Ostern 1880 dahin aufzubrechen. In Weimar war ich nicht viel weiter gekommen, nicht einmal zur Anschaffung von Malzeug hatte ich es gebracht. Das sollte nun in München anders werden.

München  

Auf meiner Fahrt nach München mußte ich mich erinnern, daß es gerade ein Jahr her war, als mir der falsche Sachse diesen furchtbaren Streich beim Onkel gespielt hatte. Wie weit lag schon diese Zeit zurück! Ich war in gehobener Stimmung und lachte über meine damalige Not. Ich saß am Fenster des Abteils und schaute. Wie großzügig kam mir die Landschaft von Oberbayern vor, in ein Land von Riesen glaubte ich einzufahren, nachdem ich das ruhige, etwas kleinliche Franken hinter mir hatte. Die Flüsse, die dort müde vorwärtsschlichen, rauschten hier im schnellen Lauf vorüber, die Bäume wuchsen höher und standen in mächtigen Gruppen beieinander; alles atmete Kraft, und ich dachte mir, in einem solchen Lande müßten auch die Menschen größer und freier sein.
Als ich in München einzog, erwarteten mich die Leipziger Freunde Arthur Langhammer und Fritz Bergen am Bahnhof. Das war ein Wiedersehen! Ich sah es ihnen gleich am Ausdruck, an der Haltung an: das war kein "Leipzig" mehr, kein Gedrücktsein, das war freies Künstlertum. Beide, etwas älter als ich, waren den graphischen Steinen entronnen und hatten sich als Illustratoren schon einen gewissen Namen gemacht. Bergen war der Glückliche gewesen, den Payne an meiner Statt für die Romanillustrationen angeworben hatte und der nun hauptsächlich infolge dieses Auftrages schon einige Jahre in München leben konnte. Ganze Schichten von Holzstöcken lagen auf seinem Tisch, die er mit Liebesszenen bezeichnete; ich beneidete ihn nicht darum, aber daß gerade er mehr Erfahrung in der Liebe haben sollte, ärgerte mich im stillen doch etwas, und ich empfand es immer als eine gewisse Ungerechtigkeit des Schicksals und des Herrn Payne, denn in Liebessachen war Fritz viel ungeschickter und unerfahrener als ich, das wußte ich besser. Nun, es war so, wie es geworden war, und ich hatte ja meinen "Schalk" und dachte mir, Bergen mag sich mit seinen Liebesszenen abplagen, jahrelang, immer dasselbe süße Romanzeug aus dem Englischen übersetzt, von Frauenzimmern geschrieben, langweilig schon zum Lesen, wieviel mehr noch zum Illustrieren: ich beneide dich nicht darum, Fritz, mein Schalk zahlt zwar recht schlecht, aber wir sind flott, wir haben eine herrliche Phantasie in uns, manchmal etwas krampfhaft, da wir fühlen, daß es mit uns zu Ende geht, aber wir schlafen bei unserer Arbeit nicht ein.
Langhammer war ein begabter Zeichner, wie Bergen von einer fabelhaften Leichtigkeit der Arbeit, beide, wie ich, Spezialisten der Feder. Ihre Illustrationen flossen auf das Papier oder den Holzstock, als wäre es gar nichts. Wenn ich an meinem Marterreißbrett saß, dann gab es doch noch manchmal ein leichtes Stöhnen; die beiden Freunde lachten dabei, raschelten etwas auf dem Holz oder Papier herum, und husch war die Zeichnung fertig. Die Holzstöcke gingen bei beiden hinaus in Paketen, als wäre hier eine Schokoladenfabrik. Langhammer, der ein witziger Kopf war, lachte nur, wenn ich ihn fragte: "Wie machst du das nur so, du schüttelst es aus dem Ärmel, ohne Studien, ohne Hilfsmittel." "Nicht an den Dreck denken, hinaus damit und fertig." Denn wir alle waren im Grunde unzufrieden mit unserer Mußarbeit, weil wir zu schlecht bezahlt waren, um ernste Arbeit liefern zu können. Nun, ich war glücklich, endlich hier zu sein. Ich wurde in mein Zimmer geführt, das die Freunde für mich gemietet hatten, bei Frau Rettinger, einer königlichen Hartschierswitwe, die in der Gabelsbergerstraße ein eigenes Häuschen bewohnte mit einem Garten dahinter. Sie empfing mich mit einer Herzlichkeit, als wäre ich ein alter Freund, ich mußte die Biographien der früheren Zimmerherren mit anhören, die alle wahre Musterknaben sämtlicher Tugenden gewesen waren, daß es mir ein wenig ängstlich zumute wurde. Nun mußte ich hinaus, um diese endlich eroberte Stadt zu sehen, ich war in einem Freudenrausch. Wie traulich und gemütlich war das alles, ich fühlte mich als Münchner vom ersten Tage an.
Und erst als mich meine Freunde in das Café Probst einführten, wo die Künstler an vielen Tischen beisammensaßen und mir manche Berühmtheit gezeigt wurde, die mir in der Leipziger Zeit als etwas Hohes, Unnahbares erschienen war, da meinte ich: nun kann es nicht mehr fehlen, hier bist du an der Quelle der Kunst.
Ganz unbekannt trat ich nicht in den Kreis von jungen Stürmern, der mich aufnahm; meine Zeichnungen waren bemerkt worden, und ich wurde dadurch in die Kategorie der "Hoffnungsvollen" eingereiht.
Hier verkehrten die Künstler ganz anders miteinander als bei uns im Norden, man sah Alte und Junge zusammen am Schachbrett und ebenso am Billard. Die alten Herren zeigten keine steife Würde, die berühmten hatten nichts Unnahbares an sich, alles fühlte sich hier als Künstler, als Kamerad, und das erfüllte mein Herz mit Freude. Abends brachten mich die Freunde an ihren Stammtisch im "Europäischen Hof". Hier lachten mir schon alle freundlich zu, auch hier war ich sogleich warm aufgenommen. Wenn in Leipzig und Weimar die Künstler meist aus dem engeren Umkreis der Stadt kommen, so daß man dort fast nur mit Sachsen und Thüringern verkehrte, bildete hier eine Tafelrunde allein eine Versammlung vieler deutscher Stämme. Hier saß ein Bayer, dort ein Ostpreuße oder ein Balte, ein Rheinländer oder ein Friese, ein Schwabe oder ein liebenswürdiger Österreicher, das gab ein interessantes Durcheinander in den verschiedenen Mundarten und Charakteren, das einen besonderen Reiz hatte. Auch Neckereien wegen besonderer Stammeseigentümlichkeiten belebten die Unterhaltung aufs beste.
Daneben hatten engere Landsmannschaften, die sich absolut nicht trennen konnten, ihre eigenen Tische, die Schwaben, die Sachsen und die Plattdeutschen, die ohne ihre Mundarten nicht leben konnten. Groß war auch das Kontingent der Deutschamerikaner, der Norweger und Schweden, der Balten und der benachbarten deutschen Österreicher. Letztere waren sehr beliebt, trotz ihrer Unbeständigkeit und Unzuverlässigkeit, denn ihre Liebenswürdigkeit und großen gesellschaftlichen Talente nahmen alle gefangen. Sie konnten stundenlang im Kaffeehaus sitzen, Zigaretten drehen und reizend plaudern. Sie waren die geborenen angenehmen Faulenzer, lebten meist sorglos in den Tag hinein und scherten sich nicht viel um die inneren Seelenkämpfe des Künstlers. Etwas abseits und für sich lebten die Polen, die Ungarn, die Südslawen, Bulgaren und Rumänen; von den Münchnern mit dem Kollektivnamen "die Schlawiner" benannt. München war damals die beliebteste Künstlerstadt der Welt, und wohl nur das Rom vom Ende des achtzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, in welches die deutschen Künstler pilgerten, hat solche begeisterte Liebe und Anhänglichkeit der Künstler so vieler Nationen erweckt.
München war von einer gewissen Romantik umwoben, und dort gelebt zu haben, war für viele Künstler damals die glücklichste Erinnerung.
Wie oft konnte ich später auf meinen Reisen in Deutschland und im Ausland das hohe Lied auf das gemütliche München singen hören, wie manchen Künstler traf ich, der seine Rührung nicht verbergen konnte, wenn er hörte, ich sei ein Münchner, für den ich durch die "Fliegenden Blätter" gehalten wurde.
Wie es ein Künstlerheimweh gab, das Rom galt, so erfaßte es die Künstler in vielen Ländern nach München. Paris, das später München als Kunstlehrstatt der Welt ablöste, hat niemals diese treue Liebe erweckt außer vielleicht bei den Romanen und "Schlawinern". Die alte Akademie an der Neuhauser Straße, ein ehemaliges Jesuitenkloster, war eigentlich wenig geeignet für ihre jetzige Bestimmung; sie hatte große, doch dunkle Räume, weite Gänge und war eingezwängt in hohe moderne Häuser. Zu wenig Licht und zu viel Gemütlichkeit. Hier hausten die bekannten Malerschulen, obenan die weltberühmte Pilotyschule, die Künstler hervorgebracht hatte wie Gabriel Max, Lenbach, Defregger, Oberländer, alle verschieden in ihrer Art, Persönlichkeiten, keine "Schüler". Nur bei Malern zweiten Ranges spürte man den Meister. Er selbst malte, ein Künstler in allergrößten Formaten historischen Genres, sogenannte "Schinken", komponiert, arrangiert, hingestellt, eiskalt. Nüchterne, trockene Farbe, ohne jeden Reiz; mühsam verarbeitet, verquält. Theater, gespielt von Schauspielern zweiten Ranges. Edle Faltenwürfe, dahinter nobel gestikulierende Arme und Beine; keine Menschen aus Fleisch und Blut, mehr Gliederpuppen, Holz oder Papiermache, die Figuren nicht nach dem Leben, sondern nach Modellen gearbeitet, die eine Stunde lang die Pose aushaken. Nichts Menschliches, Erwärmendes, Ergreifendes, alles hohles Pathos. Jeder seiner besseren Schüler war besser als der Meister. Und doch hat er sie gebildet, hat etwas aus ihnen gemacht, so ganz anders als er selbst, als hätte er ihnen immerfort zugerufen: macht es nicht so wie ich. Ein Wunder geradezu, diese Pilotyschule, ein Unikum. War es vielleicht ein Zufall, daß er zwei Jahrzehnte lang so viele hochbegabte Schüler hatte, und nur sein einziges Verdienst, daß er sie nicht verdarb, daß er sie sich frei entwickeln ließ?
Noch einmal, zwanzig Jahre später, wiederholte sich dieses Phänomen, als Paul Höcker, ein mittelmäßiger Künstler, eine Schule führte, die in kurzer Zeit fast alle ersten "Simplicissimus"- und "Jugend" - Zeichner und die Tüchtigen der "Scholle" hervorbrachte.
Oder gibt es beim Künstlernachschub gute und schlechte Jahrgänge?
Sonst ist es doch so, daß eine Schule gewöhnlich aussieht wie ein Karnickelstall; das Alte und die Jungen alle gleich, nur in der Farbe verschieden, schwarz-weiß, gelb, braun, aber alles Karnickel.
Die anderen Malschulen waren so. Wilhelm Diez, ein hervorragender Zeichner und Maler, hatte auch viele talentvolle Schüler, aber alle waren kleine Dieze und wollten nichts anderes sein; wer dem Meister am meisten ähnelte, war stolz darauf.
Ebenso die Defreggerschule. Dort alles Raubritter und Schnapphähne aus dem Dreißigjährigen Krieg, hier Tiroler Bauern. Wie konnte es einen Meister freuen, sich selbst in schwächlicher Form vervielfältigt zu sehen; ich habe das nie begriffen, wenn ein Künstler diesen Ehrgeiz hatte. Neben diesen Meisterschulen gab es noch einige Malschulen, wo die Anfänger in die Malerei eingeführt wurden, und eine Radierschule von Professor Raab, die im strengen Stil geführt wurde; als einmal ein Schüler sich auflehnen wollte und die Radierungen Rembrandts anführte, fuhr ihn der Alte an: "Ach was, Rembrandt, der liederliche Hund!" Ich trat nun im Herbst 1880 in die Malschule 0. Seitz ein, das heißt, ich zahlte die Aufnahmegebühr und betrat die Schule nicht ein einziges Mal. Jahre nachher lernte ich einmal den Professor kennen, als er ein Jubiläum feierte. Seine Schüler veranstalteten ihm zu Ehren eine Feier, zu welcher ich vom Komitee persönlich eingeladen wurde; ich sagte gleich: "Ich war nie da." "Das tut nichts," meinten die Herren, "er freut sich doch." Und er hat sich sehr gefreut, als er meine Bekanntschaft machte und ich ihm erzählte, daß mein Geld bloß dazu reichte, meine Aufnahmekarte zu lösen, und ich nicht wagte, zu ihm zu kommen, aus Angst, wieder hinausgeworfen zu werden. Denn der "Schalk" lag in den letzten Zügen; die "Blätter für deutschen Humor" gaben noch einige gequälte Scherze von sich und hauchten langsam ihren humoristischen Geist in die Unendlichkeit aus. Ich stand an der Bahre als Waise, alles hatte ich verloren; da lag er, mein Ernährer, der mir zwar recht magere Kost gab, aber mir doch das Leben erhielt. Was sollte aus mir werden, kein lieber Mensch, kein warmes Herz in der Nähe. Keinen Menschen berührte der Todesfall, keiner nahm Notiz davon, nur wenige hatten ihn gekannt, sonst wäre ich vielleicht von einem anderen Blatt an Kindes Statt angenommen worden. Und ich selbst war zu schüchtern, um mich anzubieten.
Warte mal ein bißchen, sagte ich mir, es wird schon irgendwie eine Rettung kommen, wie so oft. Hier hast du noch das Nachgelassene, die letzte Geldsendung, von der kannst du noch einige Monate leben, und inzwischen verzage nicht. — Der Lebensunterhalt war damals mit wenig Mitteln zu bestreiten, auch der ärmste Künstler konnte sich leicht durchschlagen. Für dreißig Pfennige erhielten wir gegenüber der Akademie, im Augustinerbräu, ein gutes, reichliches Mittagessen. Wir holten es selbst in der Küche, um das Trinkgeld zu sparen, und verzehrten es im "Affenkasten", dem für "bessere Menschen" abgesonderten Raum in der Wirtschaft. Wer es verstand, machte der Köchin den Hof, dann gab es eine gute Portion.
Im Sommer draußen auf den Kellern an der Theresienwiese war es auch billig. Da saß man unter den alten Kastanienbäumen an langen Tischen mit den Kameraden und labte sich am guten Bier und hatte Unterhaltung mit den echt Münchner Familien nebenan, mit den reizenden Töchtern, die dem jungen Künstler mit Respekt und Verständnis entgegenkamen. Der Alte saß da und trank eine Maß nach der andern und redete nicht viel, er hatte seine Arbeit, aber die Mutter war gesprächig und fand die jungen Herren so nett, so liebenswürdig, und die Töchter dachten sich: vielleicht ist doch einer darunter. Am Nebentisch dasselbe Spiel, harmlos, gemütlich: genieße die Stunde, nebenan sind liebe Menschen. Nur wenn eine gewisse Sorte Korpsstudenten gröhlend und taktlos ihre rohen Töne hören ließ, wurden wir wild. Es kam so weit, daß ich schon kampflustig wurde, wenn ich eine bunte Mütze sah. Ich bin von Natur kein Krakeeler, aber diese wüsten Gesellen hatten es mir angetan.
Einmal kamen wir nach solch einem gereizten Abend beim Verlassen des Kellers zusammen; es gab eine wahre Schlacht, wir waren vier, die andern zehn; es wurde mit den Stöcken zugeschlagen wie in einer Landsknechtsschlacht mit eisenbeschlagenen Kolben, ich stand am Schluß allein, die Kameraden waren kampfunfähig gemacht, ich erhielt einen Schlag auf den Schädel, der mir bis heute einen Buckel zurückgelassen hat, zur Erinnerung an jene Zeit. Unser Freund Kirchbach mußte in das Krankenhaus geschafft werden, so war er zugerichtet, ich lag einige Tage im Bett und erholte mich bald. Oft kamen wir im "Grünen Baum" zusammen, einer Wirtschaft an der Isar vor dem Isartor, wo es gutes Bier gab. Dort legten die Flößer an, die von Tölz und dem Hinterland kamen und das Holz nach München brachten. Es war das Stammlokal Ludwigs des Ersten gewesen, der hier gemütlich unter seinen Untertanen saß.
Der Verkehr unter den jungen Künstlern war harmlos, ohne Neid. Alles freute sich, wenn einer etwas Gutes machte, es wurde eher zu viel gelobt.
Man sah oft zwei Unzertrennliche, Gleichstrebende; einer war nie allein zu sehen, der andere immer dabei. Oft bewohnten sie aus Sparsamkeit nur ein Zimmer; da gab es leicht Zwistigkeiten und dann große Feindschaft, wie bei unsern Freunden Fritz Wahle und Werner Zehme.
Auf einer Schiefertafel an der Wand wurde weiter verkehrt und aufgeschrieben, was nicht ausgesprochen werden konnte: Heute ist der Zins zu zahlen. Ihr Benehmen imponiert mir nicht. Lassen Sie sich einen zweiten Schlüssel anfertigen, ich bin nicht Ihr Affe. Ersuche um mehr Ruhe beim Nachhausekommen, da ich sonst andere Mittel ergreifen muß. — Monatelang ging es so fort, weil keiner ein Zimmer allein zahlen konnte.
Der Abgott der Münchner Künstler war Lenbach. Er war anerkannt als ihr "Fürst" und beinahe nicht mehr als ihresgleichen, sondern als erhabene Persönlichkeit angesehen, eine Art Rubens oder Tizian. Seine Technik wurde bewundert, jedes neue Werk war ein Ereignis. Er war in seiner Bismarckperiode, es regnete nur so Bismarcks, und es entspannen sich große Debatten darüber, welches wohl der schönste sei.
Etwas konnte er wie keiner: das Auge. Alles andere konnte schwach sein, das Auge war immer ganz außerordentlich. "Habt ihr das Auge auf dem letzten Lenbach gesehen? So ein Auge kann nur er," hieß es in einem fort. Ebenso ausgemacht war es, daß er keine Hände malen und zeichnen konnte; das war sein schwacher Punkt, manche entschuldigten ihn und sagten: er will nicht. Er will nicht durch gutgemalte Hände die Aufmerksamkeit vom Auge ablenken. Als Lenbach eine Tochter bekam, hieß es bei seinen Freunden:
der Kopf ist ausgezeichnet, aber die Hände sind nichts. —
Er hatte einen bekannten Kollegen gemalt, einen Biedermann von ziemlich unscheinbarem Äußern, und alles war wieder hingerissen von dem fabelhaft geistigen Ausdruck der Augen. Wie wurde ich abgerüffelt, als ich die Bemerkung wagte: "Ja, in Wirklichkeit hat der X. aber anstatt Augen mehr Knopflöcher." — Das verstünde ich nicht, das sei eben die große Kunst, den Geist in das Modell hineinzulegen. Für kurze Zeit wurde Lenbachs Ruhm verdunkelt, als Wilhelm Leibl in einem Atelier der Goethestraße sein neues Bild: "Frauen in der Kirche" ausstellte. Das imponierte doch. In wunderbarer Frische, aus einem Guß war hier die Arbeit einiger Jahre zusammengezogen, als wäre sie in kurzer Zeit entstanden. Diese solide, tüchtige Arbeit erschien wie ein Protest gegen die oberflächliche Münchner Malerei. Ein bekannter Münchner Maler von großem Palettengeschick äußerte ganz ernsthaft: Das wäre eine schöne Unterlage zum Lasieren.
Lenbach war gewiß ein großes Talent, er besaß im höchsten Maße die glückliche Gabe der leichten Arbeit; spielend schuf er, das Technische machte ihm keine Schwierigkeit, darin war er "Fürst". Ich sah ihn malen, als er uns eine neue Farbentechnik zeigte. Leicht flog der Pinsel über die Leinwand, in einigen Minuten stand etwas da, was nicht viel war und doch nach etwas aussah; es hätte eingerahmt und ausgestellt werden können.
Lenbach verstand die "Aufmachung". E. Fromentin schreibt in seinem Buche über die Malerei in Belgien und Holland: Rubens malt nicht, er liebkost die Leinwand. Von Lenbach könnte man sagen: er kitzelt die Leinwand.
Diese große Leichtigkeit des Schaffens hat ihm später sehr geschadet und ihn verleitet, die Schwierigkeiten des Malens nach der Natur sich zu schenken. Er konnte mit Hilfe der Photographie und der mechanischen Vergrößerung auf die Leinwand etwas hinzaubern, was einen gewissen Reiz hatte; aber es haperte in der Form und in der Farbe.
Wie anders Leibl, der in heiliger Inbrunst vor der Natur saß und strebend sich bemühte, sie zu meistern. Er war von äußerster Strenge gegen sich und vernichtete oft die Arbeit von Monaten, wenn sie ihm nicht genügte. Neben Lenbach gab es noch einige kleinere Götter, und dann kam die Masse der kleinen Maler, die sich's wohl gehen ließen; denn die Münchner Kunst war damals auf dem Weltmarkt sehr begehrt und hoch bewertet. Es herrschte allgemeiner Wohlstand, die meisten Bilder gingen nach Amerika, von der hohen Kunst bis herab zum schlimmsten Kitsch: das Bauernbild, grob oder sentimental, das Kostümbildchen, der Gretchenkitsch.
Im Kunstgewerbe herrschte die Wurstel- und Schlangenlinie reinster Renaissanceabkunft.
Der glückliche Zustand äußerte sich auch im geselligen Leben, es herrschte elysische Ruhe, es gab keine Reibereien, keinen Neid, jeder war zufrieden und gönnte dem Nachbar das Seine. Alles war glücklich und heiter und genoß den frohen Tag. Nachmittags traf man sich im Kaffeehaus, abends in der Kneipe. Überall ging's lustig zu, es wurde getrunken, geschwatzt und gelacht, witzige Kameraden sorgten für heitere Unterhaltung, Alt und Jung, Meister und Schüler lebten in gemütlicher Eintracht.
Es gab allerhand gesellige Kreise, Künstlerstammtische und Künstlervereine, vor allem die berühmte "Allotria". Es war noch die Zeit der großen Künstlerfeste, wie sie Gottfried Keller im "Grünen Heinrich" beschrieben hat. Wie wurde da monatelang gearbeitet, um einen Abend schön und einzig zu gestalten. Welch ein Wetteifer der Schulen, sich hervorzutun und das Schönste zu schaffen. Welch sprühender Witz wurde da von jungen Künstlern aufgeboten, wenn sie am Festabend eine Rolle spielten. Einige waren berühmt und zogen einen Schweif Menschen hinter sich her, die sich an ihren Einfällen ergötzten. Die Pracht und Schönheit eines solchen Festes war bestrickend und ein Sinnbild des wohligen, sorglosen Künstlerdaseins der damaligen Zeit. Schrecklich war das Ende des ersten Festes, das ich erlebte: die Reise um die Welt. Eine Anzahl junger Künstler hatte sich als Eskimos kostümiert und dicke Pelze von Werg am Körper. Einer von ihnen war ein Freund von mir, ein junger Bildhauer. Um Mitternacht hatten die Pelze Feuer gefangen und die Ärmsten liefen als brennende Fackeln durch den Saal; sieben von ihnen gingen zugrunde, darunter mein Freund, mit dem ich noch kurze Zeit vorher gescherzt und gelacht hatte.
Fernab vom Münchner Kunstgetriebe stand Wilhelm Leibl, der sich, unzufrieden damit, in ein Dorf der bayrischen Vorberge zurückgezogen hatte und dort in der Einsamkeit seine schönsten Bilder malte, die gar nicht münchnerisch und in gar keine beliebte Rubrik einzuschachteln waren. Er war schon damals eine etwas legendäre Persönlichkeit, allerhand Kraftstückchen wurden von ihm erzählt, alles mit einem Anflug von Überlegenheit. Er war für die meisten "der Bauer". Ich sah ihn einmal im "Deutschen Kaiser" am Bahnhof; er kam mit Malzeug bepackt, das er in der Stadt eingekauft hatte, um wieder in seine Einöde hinauszuziehen. Er war in voller Manneskraft, sympathisch, von einfacher, kräftiger Schönheit.
Die fertigen Künstler, welche die Akademie verlassen hatten, saßen hauptsächlich im Schwanthaler Viertel, in der Nähe des Bahnhofs und der Theresienwiese, das damals noch ziemlich idyllisch war; die Häuser hatten Vor- und Hintergärten, in letzteren lagen die Atelierhäuser, die meist aus zwei übereinanderliegenden Ateliers mit Zubehör bestanden; nach Norden lag das Atelier, nach Süden das daranstoßende Wohnzimmer, das wieder hinaus ins Grüne ging. Wie gemütlich war es hier! Man besuchte sich gegenseitig, sah die neueste Arbeit an, kritisierte und debattierte. Es wurden große Kunstgespräche geführt, namentlich wenn man in der Dämmerung zusammenkam und die Zeit bis zum Abend im dicken Tabaksqualm verbrachte. Wir waren alle jung und voller Hoffnung, ein jeder wollte etwas Besonderes werden, ich war der jüngste von den Kameraden; dadurch, daß ich so früh zur Kunst kam, war ich von selbst in die ältere Generation hineingeschoben worden. War ich doch schon mit zwanzig Jahren ein selbständiger und doch nicht fertiger Künstler. Meine Sehnsucht nach der Malerei, die ich nicht stillen konnte, bedrückte mich sehr, und dann wieder hatte ich den Trost: du bist noch jung und lebst noch lange. Das Zimmer bei der guten Frau Rettinger hatte ich verlassen. Sie hatte mir jeden Freitag einen großen Teller mit der beliebten Münchner Mehlspeise Rohrnudeln geschenkt, auf die sie sehr stolz war, runde, harte, trockene Mehlkugeln, die ich nicht mochte. Ich wußte nicht, wie ich sie anbringen sollte, und schob sie in den Kleiderkasten, dessen Schlüssel ich immer bei mir hatte. Wenn der Kasten unten voll ist, dachte ich mir, kannst du sie ja gelegentlich nachts weiterbringen. Einmal kam ich nach Hause, da lag der ganze Tisch voll verschimmelter Rohrnudeln; ich hatte den Schlüssel stecken lassen und Frau Rettinger in ihrer Neugierde den Kasten durchstöbert. Nun war das Unglück da. Schmollend ging sie mir aus dem Weg, ich hatte sie schwer beleidigt. Ich konnte noch so liebenswürdig sein, das alte Verhältnis stellte sich nicht wieder her, sie hatte das Vertrauen zu mir verloren. Nun zog ich zu meinen Freunden ins Schwanthaler Viertel. Ein Atelier konnte ich mir nicht mieten, ich nahm ein kleines Zimmer in einem Vorderhaus, bei einem pensionierten Artilleriehauptmann, einem martialisch aussehenden Mann mit mächtigem schwarzen Schnauz- und Backenbart, der im Siebziger Krieg eine große Heldentat vollbracht hatte, die sogar im großen Generalstabswerk rühmend beschrieben war. Mit stiller Trauer hörte ich, wie der tapfere Mann den ganzen Tag von seinem keifenden Weib mit Schimpfreden überschüttet wurde, die er mit einer wahrhaft heldischen Geduld ruhig über sich ergehen ließ.
Als Hausgenossen hatten die Freunde oft alte Kollegen aus der Cornelius- und Kaulbachzeit, die auch äußerlich den künstlerischen Stil dieser vergangenen Epoche ausdrückten; sie trugen langes Haar, große Künstlerhüte und eigentümlich geformte große italienische Mäntel. Halb scheu, halb stolz schauten sie uns an, wenn wir ihnen auf der Stiege oder im Garten begegneten, doch waren sie freundlich, wenn wir in Artigkeit ihre Bekanntschaft suchten. Dann erzählten sie von der alten großen Zeit. Auch sie waren einmal stürmisch und voller Hoffnungen gewesen wie wir und heute waren sie vergessen. Diese alten Junggesellen hatten meist als Kameraden einen kleinen ruppigen Hund, der auch zur Menschenscheu erzogen war und uns ankläffte, wenn wir vorübergingen. Sie stellten hauptsächlich im "Kunstverein" aus, wo sich auch der Münchner Kitsch sammelte. Ihre trockenen, streng gezeichneten Bilder, Historien, posierende Menschen in großem Faltenwurf, biblische Szenen oder Veduten* aus Italien, einsame Säulen mit Pinien und Zypressen im Hintergrund, mit einem flöteblasenden Hirten oder dergleichen als Staffage in einem gelblich-staubigen Ton mit einem glatten blauen Himmel darüber, zeigten sofort die Herkunft aus der römischen Periode der deutschen Kunst.
Einer von diesen Alten hatte sein Atelier im Gartenhaus über einem unserer Freunde. Oft hörten wir spät in der Nacht noch sein wundervolles Geigenspiel. Unserm Freund gelang es, sich die Freundschaft des Einsamen zu erwerben, und wurde sogar eines Abends zu einem Glas Wein eingeladen. Mitten auf der Atelierwand fiel ihm ein Bild auf, das von einem schwarzen Gazeschleier verhüllt war.
Spät in der Nacht erhob sich der Alte plötzlich, nahm seine Geige und zog feierlich den Schleier vom Bild. Da enthüllte sich das Bildnis eines schönen jungen Mädchens im Biedermeierkostüm. Der Alte setzte sich vor das Bild und spielte seine wundersamen alten Weisen. "Das ist für meine verstorbene Braut," sagte er und zog den Schleier wieder zu. Nun wußten wir, daß diese abendliche Musik das Gute Nacht-Ständchen des Alten für seine tote Geliebte war. Das Atelier dieser Alten war schon äußerlich kenntlich, dichte Efeuranken verdeckten das innere Atelierfenster, damit kein heller Lichtstrahl ihre Erinnerungen und Gedanken störte. So ein armer Weltverlassener lebte dahin, bis eines Morgens die Hausmeisterin erzählte: der Herr oben ist gestorben. Dann kam irgendwoher aus der Ferne ein Verwandter, der beim Ateliernachbar Erkundigungen einzog, denn so ein alter Künstler war meist schon längst seiner Heimat und Familie entfremdet.
Ein paar alte Freunde zum letzten Geleit, die Übernahme des Hundes von einem der Getreuen, der Verkauf der verstaubten Bilder, Studien und des Atelierkrams an einen Trödler, so endete ein Künstlerleben, das ebenso hoffnungsvoll und feurig begonnen hatte wie das unsere. Schon morgens beim Kaffee trafen wir uns im Café Finsterwalder, dem "Metgarten", einem der wenigen Lokale, in denen vor Ostern, zur Zeit der Firmungen, nach alter Sitte noch das Getränk der alten Deutschen, der "Met", ausgeschänkt wurde.
Hier besahen wir die illustrierten Zeitschriften und kritisierten die Illustrationen. Hochgeschätzt waren in den "Fliegenden Blättern" Oberländer und Steub, jeden Freitag hieß es: wie ist der neue Oberländer? Im englischen "Punch" war Charles Keene der beste Zeichner, er brachte Typen aus dem Londoner Volksleben; ich verehrte ihn sehr und liebe ihn noch heute und habe viel von ihm gelernt; seine Arbeiten hatten viel Charakter und einen äußerst lebendigen Strich. Hier lag auch eine amerikanische Zeitschrift "Harpers Monthly" auf, in der besonders ein Zeichner E. A. Abbey hervortrat. Er brachte damals eine Serie Bilder aus Holland; eine Tuschzeichnung, junge singende holländische Mädchen, gegen ein großes Fenster gesehen, machte besonders Aufsehen und schuf eine ganze Münchner Richtung. Hier im Kaffeehaus fing die Münchner Gemütlichkeit schon in der Frühe an, die Fleißigen tranken ihren Kaffee und gingen zur Arbeit, die Faulen blieben sitzen bis gegen Mittag, stöberten in den Zeitschriften herum oder sahen durch das große Fenster auf die Schwanthaler Straße hinaus, wo die jungen Frauen und Mädchen ihre Morgenbesorgungen machten. Mancher saß da, der nicht wußte, wie er sein Talent anbringen sollte, mit Malen oder mit Zeichnen, oder welches Genre wohl für ihn das geeignetste sei; einige wußten ganz genau, was sie wollten, wie Max Liebermann,der damals sein Bild "Christus im Tempel" ausgestellt hatte, das einen großen Protest unter den Münchner Malern und Spießbürgern hervorrief. Schon gegen die "schmutzige" Malerei zog man los, nun noch dieser Christus als "Judenjunge" empörte sie. Über Menzel, der auf einer seiner Lithographien denselben semitischen Typus darstellte, hatten sie sich nicht aufgeregt, aber hier war es ein Jude, der solches wagte. Dieses Bild war schön als Malerei, wohl eines der besten Werke Liebermanns, und gerade die "schmutzige" Farbe war von einer blonden Klarheit, wie sie dieser Meister selten erreicht hat. Ich habe damals mit einigen Freunden, darunter Hans Olde und Josef Sperl, dem Freunde Leibls, tüchtig für dieses Bild gekämpft, und Liebermann hat mir das nie vergessen, er ist mir immer treu geblieben.
Glücklich waren einige, die von ihrem Vermögen zehrten, wie ein junger Landschaftsmaler F. Eines Morgens fiel es auf, daß er so traurig war. Dann erzählte man sich: wißt ihr es schon? Heut früh neun Uhr ist dem F. sein Vermögen alle geworden. Er hatte davon seinen letzten Kaffee bezahlt. Sich halten und bei der Kunst bleiben zu können, das war der Gedanke, der alle beherrschte, die nichts hatten. Es war damals sehr schwer, hochzukommen. Wir mußten ordentlich arbeiten, und viele gingen unter, die es nicht verdienten. Sie verschwanden oft plötzlich, man wußte nicht wohin, und wir hörten nichts mehr von ihnen.
Schrecklich war es oft, wenn einer es fühlte: es geht nicht mehr. Da wurden bittere Tränen vergossen, denn der Abschied von der geliebten Kunst war schwer. Andere, leichtere, ergaben sich dem Kitsch und machten so ihren bequemen Weg. Da hatten wir einen Österreicher unter uns, der den ganzen Tag im Kaffeehaus saß, ein Paket türkischen Tabak und Zigarettenpapier vor sich, und dessen Hauptbeschäftigung darin bestand, die Zigaretten zu verrauchen, die er wie ein Uhrwerk langsam und regelmäßig drehte. Er war ein "Gigerl" und trug Ringe mit Steinen an allen Fingern. Eines Tages rumorte es im Schwanthaler Viertel: K. hat ein Bild gemalt, ein unerhörtes Motiv: eine Theaterloge. Es war damals ausgemacht: so etwas kann man nicht malen, denn erstens geht es nicht und zweitens ist es unmalerisch. Aber unser K. hatte sich nicht daran gekehrt. Er hatte einen Vorwurf gewählt, der für ihn paßte. Er hatte eine Loge im Residenztheater gemalt, deren prunkvolle Rokokoumrahmung ihn gereizt hatte.
Die Logenarchitektur mit rotem Faltenwurf und Goldverzierung war derartig herausmodelliert, daß sie fast plastischer wirkte, wie der glänzende Goldrahmen, der, auch in Rokoko, das Bild umgab.
In der Loge saßen, fast erdrückt von dem gleißenden Pomp der Umgebung, drei Puppen, zwei Damen und in der Mitte ein Herr; für die Figuren hatte die Begabung des Künstlers nicht ausgereicht, sie waren genau so starr und leblos, wie die beiden umgebenden Rahmen, der gemalte und der echte. Eine von den Puppen hielt ein Opernglas, aber so weit ab, daß von der Süßigkeit des Blicks nichts verloren ging. Alle drei waren reich mit Juwelen beladen; die waren am besten gemalt, mit einer fabelhaften Liebe und Geduld, so daß es glitzerte und gleißte, als wären richtige Glassplitter in die Malerei eingesetzt.
Über dieses Bild wurde viel gelacht und viel geschimpft, denn der Maler war ein Schüler von Dietz und hatte schon durch die Wahl des Gegenstandes seine Schule entehrt. So etwas malt doch kein anständiger Dietzschüler: einen Herrn im Frack! Einige Zeit verstrich, da kam eine neue Sensation: das Bild war in der großen Ausstellung im Glaspalast aufgenommen und gut gehängt worden. Das ging noch an, aber nun kam das Unglaublichste: K. verlangt für sein Bild zehntausend Mark. Im Kaffeehaus saß er, überlegen lächelnd, drehte seine Zigaretten, und auf die Sticheleien antwortete er nur: "Ich versuch's halt."
Einige Wochen verstrichen, da kam das Allertollste: K. hat sein Bild verkauft. Ohne Abzug, für bare zehntausend Mark. Ein australischer Krösus hatte sich darein verliebt, wahrscheinlich hatten es ihm die funkelnden Steine und Goldornamente angetan.
K. saß im Kaffeehaus und lächelte und sagte: "Ich wandere aus, ich gehe nach Australien." Er verpackte seine Ateliereinrichtung, kaufte eine Masse bunter Stoffe dazu und vergaß auch nicht seine Dogenmütze; diese Kopfbedeckung sah man damals viel in den Ateliers, die Dogen waren auf Maskenbällen und auf den farbenfreudigen Venezianer Bildern sehr beliebt.
"Die ist da drüben natürlich echt", sagte K. Lange Jahre waren vergangen. Da kam einmal ein Freund von einer Amerikareise zurück und erzählte: In einem großen Hotel in San Franzisko sah er, wie sich die Leute in einen mit kostbaren Stoffen ausgeschmückten Saal drängten. Am Eingang stand auf einem Postament eine Vitrine, aus der etwas Rotes herausleuchtete. "Eine echte Dogenmütze", hörte er die Leute voll Ehrfurcht sagen.
Richtig, es war unser alter K., der hier sein Geschäft aufgeschlagen hatte. Ein echtes Münchner Atelier mit einer echten Dogenmütze waren die Anpreisung, und prunkhaft gemalte Bilder hingen darin. K. lächelte lässig und überlegen und sagte: "Australien habe ich jetzt abgegrast, jetzt kommt Amerika dran." Schlimmer erging es denen, die einmal ein schwacher Strahl des Ruhmes traf und die dann in die Finsternis geworfen wurden: die kleinen Talente mit einer einzigen guten Arbeit oder wenigstens einem Ansatz dazu, wie die beiden Holsteiner Freunde. Der eine hatte ein Bildchen gemalt, eine tote Ratte. Das weiche graue Fell, das Köpfchen mit den Perlenaugen, das glänzende Schwänzchen mit den Rippen waren mit unendlicher Liebe und zartem Farbensinn wiedergegeben.
Das Erstlingswerk des zweiten war ein Seestück: die Welle. Auf einem großen Breitformat rollt, tief gesehen, die Welle mächtig heran und bricht sich am Strand. Beide Bilder wurden gehörig bewundert. Saßen die beiden zusammen, dann sprachen sie: "Meine Welle." "Meine Ratte."
Es gelang ihnen nichts mehr und beide kehrten in ihre Heimatstadt zurück.
Nach Jahren besuchte ich sie. Als das Gespräch auf die alte Zeit kam, sagten sie: "Meine Welle." "Meine Ratte." Dann sind sie in der Vergessenheit gestorben. — Ja, es war schwer, sich durchzuringen. Durchhalten bis zum endlichen Erfolg konnten eigentlich nur die Bemittelten oder die Energischen, die sich bis dahin durchhungerten. Kam einer hoch, so war es noch schwerer, oben zu bleiben. So leicht entflammt die Kollegen waren, ebenso schnell verpuffte ihre Begeisterung und wandelte sich in Spott und Hohn. Wehe ihm, wenn seine Arbeiten schwach wurden, der Sturz war schlimmer, als wäre er nie oben gewesen. Glücklicherweise gibt es viele Kunstakademien in Deutschland, die ihre Professoren hauptsächlich aus der großen Malerfabrik München beziehen. Wenn es einem glückte, in der Zeit seines Aufstiegs einen Ruf zu erhalten, dann war er für sein Leben versorgt, denn die Akademien tun es nicht anders, sie ernennen nur auf Lebenszeit. Wenn sein Talent vergeht, das spielt keine Rolle mehr, er steigt in Rang und Titeln, und wenn er als steinalter Greis stirbt, weiß oft kein Mensch mehr, auf welche Tatsachen hin er eigentlich sein Amt erhalten hat. Wie richtig hat der französische Maler Degas gesagt: es ist leicht, mit zwanzig Jahren Talent zu haben, aber mit vierzig noch welches zu haben, das ist schwer. — Mir fing es an, recht schlecht zu gehen. Ich brachte mich mühsam mit gelegentlichen Zeichnungen für illustrierte Blätter durch, aber ich sah ein: lange wird das so nicht weiter gehen, es wird einmal ein schlimmes Ende nehmen. Dann stand das Gespenst des Militärdienstes vor mir. Ich hatte mein Einjährigenzeugnis, aber wie konnte ich hoffen, mich während der Dienstzeit ein Jahr zu erhalten. Das war gänzlich ausgeschlossen. Dieser Gedanke bewegte mich so, daß ich beschloß, mit dieser Sache ein schnelles Ende zu machen. Die Kameraden erzählten, daß die Ersatzbehörde gegen Kunstakademiker immer sehr nachsichtig war, selten sei einer für den dreijährigen Dienst genommen worden. Ich wag's, sagte ich mir. Ich hatte einen kleinen Fehler, der mir helfen sollte.
Diese unangenehme Militärfrage hoffte ich nun, mit einem Male zu erledigen und für die Kunst ganz frei zu werden. Ich meldete mich im Frühjahr 1881 zur Gestellung. Das Ersatzgeschäft war schon im Schwung, als ich zur Schrannenhalle kam, es wimmelte von Gestellungspflichtigen, viele stürzten mit "Juhu" - Schreien heraus, sie waren schon abgetan. In einem Nebenraum mußten wir uns entkleiden, der Unteroffizier musterte mich gefällig, was mir nicht gefiel. Er sieht meinen Fehler nicht, dachte ich. Dann schob er mich in den großen Raum, wo auf einem Podium die Kommission thronte, in der Mitte Prinz Arnulf von Bayern, der Kommandeur des Infanterie-Leibregiments.
Gleich am Eingang stand der Militärarzt mit seinen Gehilfen, wie der Scharfrichter.
"Was sind Sie?" fragte er mich. Er war ein jovialer Herr und sah mich freundlich an.
"Kunstakademiker." Ein wohlwollender Blick. "Haben Sie Fehler?"
"Ja, hier." Er fühlte, lächelte und schüttelte den Kopf. "Haben Sie keine andern Fehler?" Ich sah, er hätte mich gern frei gemacht. Ich lernte ihn später kennen, er war ein Kunstfreund.
"Nein, Herr Oberstabsarzt."
Nun wandte er sich zum Präsidenten: "Er ist Kunstakademiker, Fehler hat er nicht." Ich merkte, daß meine Lage gefährlich wurde. Ich blickte ängstlich forschend die Kommission an und sah den Prinzen, wie er mich mit kaltem Blick musterte. Dann näselte der Prinz: "Tauglich zur Infanterie." Eine kurze Pause.
Dann drehte er den Kopf ein wenig zu mir: "In welches Regiment wollen Sie?" Da kam ein dummer Trotz über mich, und ich platzte heraus: "Ist mir gleich." Es fing an, mir vor den Augen zu flimmern. "Infanterie-Leibregiment", sagte der Prinz, und ich wurde hinausgeschoben. Mit dem Kleideranziehen war es schwer, ich fuhr mit den Gliedern in alle verkehrten Löcher, so daß der Unteroffizier ein unwilliges Knurren von sich gab. Mir tanzte alles vor den Augen, und ich stürzte die Treppe hinunter. Unten am Eingang bot eine Frau Sträußchen mit weißblauen Schleifen an, mit denen sich die ausgemusterten Burschen Hut und Brust schmückten. Ich rannte vorüber, vor dem Blick schwirrte mir's weiß-blau, blau-weiß, und noch lange hatte ich diesen Farbenschein in den Augen.
Wie im Traume lief ich in den Straßen herum, und es dauerte lange, bis ich zur Besinnung kam. Die Freunde erschraken und sagten: Das haben wir dumm gemacht.

Im Infanterie-Leibregiment  

Es war ein trauriger, echt Münchner Novembertag, als ich im Morgengrauen den schweren Gang antrat. Mein Freund Fritz Bergen begleitete mich.
Im Hofe des Ersatzgebäudes sammelten sich die Rekruten, die Unteroffiziere liefen schimpfend umher und hatten schwere Not, den Haufen in Ordnung zu bringen und nach Regimentern und Kompanien einzuteilen. Unser Regiment erhielt den Ersatz aus dem Gebirge und den Vorbergen: da standen die strammen Oberländer in ihren Kniehosen und federgeschmückten Hüten, mit ihren gefüllten Bündeln und Taschen und schauten und lächelten verschmitzt, als sie mich "Feinen" ankommen sahen. Wir wurden nach der Größe aufgestellt; bei meinem Schub hieß es: vierte Kompanie.
Nun ging der Marsch in Kompanietrupps durch die Stadt zur Kaserne. Mein Freund hatte draußen gewartet und ging an meiner Seite, gesprochen wurde nichts, ich war traurig. Auf dem ganzen Weg ging mir die Melodie des Liedes durch den Kopf: "Es geht bei gedämpfter Trommel Klang" — das ich in unserm gleichmäßigen Schritt vor mir hinsummte. Der Unteroffizier beobachtete uns unwillig von der Seite, doch ließ er uns in Ruhe. Am Eingang der Kaserne drückten wir uns zum Abschied stumm die Hand, der Freund nickte mir zu: Mut!
Wir verschwanden im düsteren Torbogen der Lechlkaserne, eines ehemaligen Klosters; ein großer, viereckiger Hof, im Gebäude zu ebener Erde lag eine Schwadron des dritten Chevaulegerregiments, in beiden Flügeln je eine Kompanie "Leiber", die erste und die vierte, hier waren wir wegen Raummangels untergebracht; das Regiment lag in der nahen Hofgartenkaserne, neben der königlichen Residenz.
Nebenan, abgegrenzt durch eine hohe Mauer, war ein Rest des Klosters noch bewohnt von den Franziskanermönchen, die ein gutes Bier brauten, womit sie auch unsere Kaserne versorgten.
Das Regiment war das Leibregiment des Königs, wir mußten die Wachen in den Königlichen Schlössern stellen. Das Offizierkorps bestand meist aus Adeligen und Hochadeligen, wenige Bürgerliche waren darunter, nur in meiner Kompanie standen drei Bürgerliche und ein Adeliger. Die "Leiber" bildeten sich ein, etwas Besseres zu sein als die andern Regimenter; wir trugen damals noch den Raupenhelm und Gardelitzen an Kragen und Ärmelaufschlägen. Prinz Arnulf, der Kommandeur, wollte das Regiment nach dem Muster der preußischen Garde umformen, und zu diesem Zweck waren viele norddeutsche Unteroffiziere eingestellt. Der Dienst war deshalb schärfer wie in den andern Regimentern; weil fortwährend die Unteroffiziere gefragt werden mußten, wie es in Preußen gemacht wurde, gab es viel Unsicherheit und deshalb unnütze Arbeit. Sonst war der Prinz gar nicht preußisch gesinnt; bei einer Besichtigung des Regiments durch den Inspekteur der vierten Armeeinspektion, den Kronprinzen Friedrich von Preußen, zeigte er seinen Unwillen über den Besuch so offen, daß es uns allen auffiel. Beim Erscheinen des Kronprinzen ließ er ihn erst etwas warten, dann ritt er langsam zu ihm und machte eine nachlässige Meldung. Der Kronprinz war liebenswürdig, tat so, als bemerkte er es nicht, und rauchte bei der darauffolgenden Felddienstübung gemütlich seine kurze Pfeife. Das Chevaulegerregiment, zu welchem die Schwadron gehörte, die unter uns lag, garnisonierte im nahen Freising, es war das Regiment meines Freundes Gustav Graf Adelmann, Sekondeleutnant, wie es damals hieß. Er war ein großer Verehrer der Kunst und kam jeden Sonntag nach München, um bei mir zu zeichnen. Nun, als er sah, in welche Lage ich gekommen war, zeigte er sich als wahrer Freund und Adelsmann. Gleich am ersten Sonntag, als es uns nach sechs Wochen erlaubt war auszugehen, erschien er beim Kompanieappell. Der Feldwebel erteilte gerade gute Lehren, daß keiner mehr als vier Maß Bier trinken und sich mit Menschern herumtreiben dürfe, weil er sonst etwas anrichten würde; er schloß mit dem üblichen Verlesen der Vorschriften, die gewöhnlich mit der Androhung schwerer Festungsstrafe endigten.
"Stillgestanden!" kommandierte er, als Gustav Adelmann erschien.
"Könnte ich meinen Freund Schlittgen abholen?" "Zu Befehl, Herr Leutnant. Schlittgen abtreten." Dann nahm mich Gustav unter den Arm, und wir verließen die Kaserne. Das wirkte auf die neuen Kameraden und die Unteroffiziere und brachte mich gleich zu Anfang in eine gute Stellung. —
Nachdem uns der Unteroffizier in den verschiedenen Korporalschaften untergebracht hatte, waren wir dem Korporalschaftsführer unterstellt, der im Mannschaftszimmer einen kleinen Verschlag innehatte, in dem er wohnte und schlief. Der unsere war ein Sachse, der uns sofort zum Montur- und Stiefelfassen führte; als mir keine von den steinharten Kommißstiefeln passen wollten, schrie er mich an, nachdem er mich schon lange ungnädig beobachtet hatte: "Ja, Lackstiefeln haben wir hier freilich nicht!" Die erste Zeit war es schwer, sich in die neue Umgebung einzugewöhnen, der Gedanke: "drei Jahre" war bedrückend. Ich hatte ja schon manches Schwere durchgemacht, aber immer konnte ich mich als Künstler fühlen und wurde schließlich auch als solcher angesehen und geachtet. In meinen schlimmsten Tagen war ich nie so einsam gewesen wie hier; als ich meine Zivilkleider abgelegt hatte und im "Kommiß" einherschritt, war ja auch ein Unterschied von den andern nicht mehr zu merken. Ich empfand es als Ungerechtigkeit, daß die Einjährigen, die in unserer Kaserne herumstolzierten, etwas Besseres sein sollten wie ich.
Mir war es klar: hier kannst du nur durchkommen, wenn du mit den Wölfen heulst; nur nicht merken lassen, daß du dich als etwas anderes fühlst, sonst bist du verloren. Hier den Schöngeist zu spielen, wäre doch auch lächerlich gewesen; ich nahm mir vor, überhaupt nicht zu sagen, was ich war, was mir auch nicht schwer fiel, da mich niemand danach fragte. Jeder dachte nur an sich, für die Vorgesetzten war ich eine Nummer, ein Teil der Kompaniemaschine; von seelischen Schmerzen und Stimmungen zu sprechen, hatte ich hier keine Zeit und Lust, jeder tat seinen Dienst und weiter nichts. Der Verkehrston war recht ungewohnt, die meisten Unteroffiziere hatten verlernt, ruhig zu sprechen, alles wurde herausgeschnauzt; die alten Soldaten hatten einen Frotzelton, sie machten sich über sich selbst und die andern lustig, und die Rekruten waren meist still, saßen traurig da, hatten Heimweh nach ihren Bergen und verzehrten dabei eine Menge Mit-gebrachtes. Die Kameraden sahen mich etwas mißtrauisch an, sie fühlten, daß ich nicht recht zu ihnen gehörte, waren mir aber nicht feindlich gesinnt.
Nachts war eine fürchterliche Luft im Zimmer, ich versuchte einige Male, ein Fenster zu öffnen, bis der Zunächstliegende es merkte und über die Kälte schimpfte und der Unteroffizier mir gebot, nur das zu tun, was befohlen wird, und mir keine Eigenmächtigkeiten zu erlauben, sonst gäbe es etwas, Gottverdimmich!
Nach den ersten Wochen strenger Einschließung besuchten mich die Freunde und waren erfreut, statt eines verzweifelten Menschen einen lachenden Philosophen zu finden. — Ich mußte in der Winterkälte unten im Kasernenhof mit den andern Rekruten rechts- und linksum lernen und die ganze Kompanieschule durchmachen. Die Unteroffiziere hatten eine schwere Aufgabe, aus all diesen steifen Menschen flotte, gelenkige Soldaten zu machen. Manche, wie die Handwerker, waren geschickt und lernten leicht, aber viele von Natur so hölzern und begriffen so schwer all diese maschinenmäßigen Formationen, daß es fast aussichtslos schien, etwas daraus zu machen. Da war es erklärlich, daß die Unteroffiziere nervös wurden, aber viele beachteten zu wenig die Unmöglichkeit, einem so wenig begabten Menschen etwas beizubringen, wurden ungerecht, argwöhnten Bosheit und Absicht und quälten die Ärmsten aufs gemeinste.
Auch der Leutnant, der die Aufsicht unserer Ausbildung hatte, machte keinen Unterschied, er verlangte von allen dasselbe und ließ seinen Zorn an den Schwachen aus, die wirklich ihr Möglichstes taten und nicht mehr konnten. Wir hatten unter uns einen guten, harmlosen Menschen, der von Beruf Metzger war; er gab sich alle mögliche Mühe, war aber vom fortwährenden Anschreien so unruhig geworden, daß er bei jedem Kommando den Kopf verlor, alles verkehrt machte und die Formation umriß. Anstatt ihn ruhig zu behandeln, wurde er von Leutnant und Sergeant immer mehr angeschnauzt, so daß er oft ganz trostlos dastand und ihm die Tränen herunterliefen.
Ich hatte Mitleid mit ihm und versuchte, ihm beizubringen, wie er es machen sollte, dann brach er, der sonst so gute Mensch, in wilde Reden über den Sergeanten aus: "Ich stech' ihn noch ab wie a Kalbl."
Der Soldat war offiziell "Gemeiner", doch wurden wir in der Regel von den Vorgesetzten mit unserm Namen angerufen. Nur unser Leutnant machte sich ein Vergnügen daraus, uns den Titel anzuhängen: "Gemeiner Schlittgen", mit dem Ton auf dem ersten Wort, je ungnädiger, desto schärfer die Betonung.
Vom ersten Tage an behandelte er mich schlecht, ich habe nicht verstanden, weshalb, denn er erklärte mir oft, ich sei ein strammer Soldat, "Man sieht gleich, was a Preiß ist," sagte er oft und rühmte die Preußen als die geborenen Soldaten. Und doch haßte er sie, und der "Saupreiß" war eine seiner beliebtesten Anreden.
Während einer Schießübung mit scharfen Patronen auf dem Schießplatz kam seine ganze Abneigung gegen mich zum Ausbruch. Ich stand in vorschriftsmäßiger Haltung, das Gewehr im Anschlag, den Finger am Drücker, und zielte. Der Leutnant ging einige Meter weiter links langsam auf und ab und beobachtete mich. Ich war vertieft in mein Ziel und wollte gerade losdrücken, als er mich plötzlich anschrie: "Richtig hinstellen!"
Ich fuhr links herum, die Front gegen ihn, und war so erschreckt, daß ich auch das Gewehr im Anschlag ließ. Er hatte die Gewehröffnung vor dem Gesicht, brach ins Knie und schrie in einem fort: "Gewehr ab, verdammter Kerl, verbummelter Akademiker!"
Das war stark, ich fühlte, wie ich erblaßte und zitterte. Ich nahm das Gewehr ab, und nun kam er dicht heran, Gesicht an Gesicht, der Schaum stand ihm vor dem Munde, und er überhäufte mich mit Beschimpfungen, daß mir fast die Sinne schwanden. Beim Heimmarsch wurde vor der Kantine haltgemacht, und er kommandierte: "Wer einkehren will, abtreten!" Alles ging hinein, nur ich blieb stehen. Auch der Leutnant, der mich von der Seite beobachtete. Er fühlte wohl, daß er zu weit gegangen war, vielleicht hatte er auch Angst vor der Meldung. Ich hatte die Absicht, mich über ihn zu beschweren, und fragte, in die Kaserne zurückgekehrt, einen alten Soldaten um Rat.
"O mei," sagte der, "da kriegst du's noch viel schlimmer, und die andern steigen dir auch aufs Dach. Veracht'n, den Hund, den miserabligen."
Das war weise gesprochen, und ich schrieb mir das hinters Ohr. Verachten, solch einen Feigling, und ihm die Verachtung mit einem kleinen Schein von Gesichtsausdruck zeigen, so machte ich es dann immer. —
Die andern Offiziere der Kompanie waren anständige Leute, auch die Unteroffiziere bei näherer Bekanntschaft nicht so schlimm, sie hatten es nicht gut, waren teilweise verheiratet und die Löhnung recht knapp. Eines Tages hieß es: "Mir kriegen weiße Federbüsch' und Blechhauben wie die Preißen." Der Prinz wollte, wie man erzählte, aus uns die Kopie eines preußischen Gardegrenadierregiments machen, verzichtete aber darauf, als Dr. Sigl, der berühmte Preußenfresser, das vorzeitig erfahren hatte und in seinem "Vaterland" heftig darüber loszog. Nur der preußische "Sechser", die kleine Haarlocke über dem Ohr, mußte her.
Die Kompanie war aufgestellt, der Feldwebel ließ sich von den Chevaulegers Pferdestriegel bringen und striegelte den Soldaten damit die Haare über dem Ohr ins Gesicht, ein Unteroffizier stand neben ihm und schnitt die Spitzen vor den Augen ab.
Als die Kompanie so dastand wie eine Abordnung der Wiener Droschkenkutscher, mußte ich lachen. "Na, ist das nicht fein?" fragte der Feldwebel.
Ich erklärte ihm nun, daß in Preußen die Haarlocke ganz anders aussehe, worauf er mir befahl einen Mann vorschriftsmäßig zu frisieren. Ich machte ihm nun eine kleine, kokette Haarlocke vor, einen richtigen Sechser, doch der gefiel ihm nicht. Die Wiener Schanifrisur dauerte einige Tage, dann verlor sie sich von selbst.
Auch der preußische Parademarsch wurde eingeführt, der auch mißverstanden wurde. Da kam die Kompanie daher, warf die Beine hoch in die Luft, ließ sie niedersausen und die Absätze aufschlagen, daß der Erdboden zitterte und dröhnte. Wenn ich vor einem Offizier vorbeimarschierte, suchte ich den Parademarsch in preußischer Manier auszuführen, wie ich ihn in der Erinnerung hatte oder mir ihn vorstellte. Ich machte das elegant, die Bewegungen elastisch. Die Beine wurden leicht hinausgeworfen und beim Niedersetzen zuerst mit den Fußspitzen die Erde berührt.
Der Leutnant, mein Freund, hatte keinen Schönheitssinn und ärgerte sich darüber. Er schrie verschiedene Male: "Zurück" und trotzdem machte ich es wie vorher, ich konnte es nicht anders, was er wohl als Bosheit auslegte. Einmal, später, wurde ich beim Bataillonsexerzieren von einer Ordonnanz abgerufen, da der Prinz befohlen hatte, ich sollte bei der Ausschmückung des Offizierskasinos behilflich sein. Der Major war unwillig, das Bataillon stand in Bataillonsfront und meine Abberufung störte die Übung. Ich nahm mein Gewehr unter den Arm und bummelte dem Eingang des Kasinos zu; ich fühlte mich nun wieder als Künstler. Da rief der Major plötzlich: "Was ist das für ein schlapper Kerl? Antreten!" Ich fasse mein Gewehr an, mache Kehrt und marschiere auf den Major zu im schönsten Parademarsch, den die deutsche Armee jemals gesehen hat.
Das ganze Bataillon schaute mich an, der Major, starr über diese Verwandlung, kommandierte plötzlich, ehe ich bis zu ihm kam: "Kehrt!"
Meine Kompanie am linken Flügel lachte. — Der Hauptmann war ein braver Mann, ein Held von anno Siebzig. Stolz marschierten wir hinter ihm, wenn er vor der Kompanie ritt, geschmückt mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse.
Ich war der beste Sänger in der Kompanie, und der Feldwebel überließ mir bald die Einstudierung der Soldatenlieder. So schön diese meist waren, manche kamen mir doch recht langweilig vor, weshalb ich hie und da einige lustige Variationen anbrachte.
Der Hauptmann ritt stolz voran und kommandierte: Singen! Nun stimmte ich das Lied an und führte den Gesang. Wenn er dann meine Variation hörte:

"Die Kavall'rie geht vor,
Die Infant'rie gibt Salven ab,
Das ganze Gardekorps,
Das sinkt mit uns ins Grab !"

drehte er sich lachend um: "Was ist das für ein Unsinn. Zu dumm!" und drohte mir mit dem Finger. Er fragte mich einmal nach Herkunft und Beruf, ich erzählte ihm alles, und er war gütig gegen mich. Einmal erhielt ich eine Vorladung zu einer Gerichtsverhandlung wegen einer kleinen Schuld, die ich noch irgendwo stehen hatte. Ich ließ die Sache, die mir anfangs Sorge bereitete, einschlafen; ich dachte mir: einem Soldaten kann man nichts nehmen, der Gläubiger kann warten. Da erschien eines Tages der Gerichtsvollzieher in der Kaserne, um mich zu pfänden. Es war sehr komisch, die Kameraden lachten. Der Feldwebel, der mir sonst sehr gewogen war, nahm diesen Besuch sehr unfreundlich auf und führte mich in Begleitung des Gerichtsvollziehers zum Hauptmann. "Nun ist es aus mit Ihna, dös wird Ihna schlecht bekommen," sagte er unterwegs.
Er war sehr erstaunt, als er sah, wie mich der Hauptmann gütig nach den näheren Umständen ausfragte und dann ruhig erklärte, er wolle das Geld auslegen, ich solle es ihm in wöchentlichen Raten von fünf Mark zurückgeben. Nun war der Feldwebel wie umgewandelt, und wir drei verließen in bester Stimmung die Kompaniekanzlei. —
Der Frühling kam, und wir Rekruten waren Soldaten geworden, die Kompanie marschierte auf dem Hof herum und machte ihre mechanischen Formvariationen mit der Exaktheit einer Maschine. Das ging nach vorn und wendete sich nach rechts und links, löste sich hier auf, dort auf, floß wieder zusammen, gab hier eine kokette Linie, dort einen plötzlichen Ruck, als wollte alles auseinanderfallen, und erschien wieder fest geschlossen in gleichem Schritt und Tritt. Und die Unteroffiziere schimpften nicht mehr so viel, die armen Schwachen hatten nun endlich nach monatelangem Drill begriffen, wohin sie ihre Beine zu setzen hatten, wenn ein Kommandoruf erscholl. Sie waren im zweiten Glied untergebracht, wo sie etwas verdeckt waren und man ihre zappeligen Bewegungen nicht so scharf bemerken konnte. Die ganz Dummen, die der Kompanie Schande machen konnten, wurden versteckt, sie kamen zum Kammer- oder Fatikdienst, wo sie in einem fort Monturen, Stiefel und was der Soldat braucht, drehen und wenden mußten, damit es nicht verschimmelt und kein Ungeziefer hineinkommt, oder in die Küche, wenn sie so schmutzig waren, daß man sich ihrer schämen mußte, oder in die Handwerkerstube.
Der Dienst war nun weniger streng, es begannen die Felddienst- und Schießübungen im Freien, eine in dieser Langeweile interessante Abwechslung. Der Hauptmann hatte mich in letzter Zeit öfter über meinen Beruf ausgefragt, wobei er große Teilnahme zeigte. Da erschien er nun einmal plötzlich in unserem Mannschaftszimmer, gefolgt vom Feldwebel, der ein buntes barbarisches Öldruckbild trug, das ich schon über dem Sofa der Frau Feldwebel gesehen hatte.
Es stellte vor, wie ein Turko in der Schlacht bei Wörth über die Mauer eines Weingartens fliehen will, ein bayrischer Soldat hat ihn hinten bei den weiten Hosen gefaßt und zieht ihn herunter; der Turko schreit gottsjämmerlich, der Bayer lacht.
Dieses Bild wurde vor mir hingestellt und der Hauptmann fragte: "Können Sie das abzeichnen?" "Zu Befehl, Herr Hauptmann." "Machen Sie es in Schwarz recht schön groß für den Kompanierayon. Aber der Soldat muß einer vom Leibregiment sein." Als Atelier wurde mir im Handwerkerzimmer ein Verschlag angewiesen, an dessen Wänden in Stellagen bis oben hinauf Helme ohne Raupen untergebracht waren, die, frisch lackiert, hier trocknen sollten. Der Raum wurde etwas künstlermäßig hergerichtet, mit angehefteten Studien und Skizzen. — War die Kompanie unten im Hof zum Exerzieren aufgestellt, und der Feldwebel befahl: "Handwerker abtreten," und ich blieb stehen, rief er mir unwillig zu: "Hören Sie nicht? Handwerker abtreten!" So marschierte ich mit den Schustern und Schneidern ab.
Das Bild war fertig, wurde im Gang aufgehängt und fand allgemeinen Beifall. Der Hauptmann stand oft davor und freute sich.
"Können Sie auch etwas Eigenes machen?" fragte er mich kurze Zeit darauf.
"Zu Befehl, Herr Hauptmann, alles." "Können Sie die Heldentaten der Kompanie aus dem Kopf zeichnen?"
"Zu Befehl, Herr Hauptmann."
Er gab mir nun einen Stoff an aus der Kompaniegeschichte des Jahres 1870, die Tat eines tapferen "Leibers" beim Sturm auf Bazeilles, wo sich die Kompanie ausgezeichnet hatte. Das machte mir nun schon mehr Freude. Ich bat den Hauptmann um Modelle, und sie wurden in mein Atelier abkommandiert. Wenn es draußen stürmte und regnete, kamen die Kameraden und baten: "Kannst mi net brauchen?" Der Feldwebel überwachte mich. Ich machte zuerst flüchtige Entwürfe, an denen ich herumwischte und korrigierte. Dann warf ich's weg und nahm einen neuen Bogen. "Dös gibt's fei net," sagte er, "glei richtig, sonst melde ich's dem Herrn Hauptmann."
Das Bild wurde fertig und gefiel mehr als das erste. Am Eingang einer Villa in Bazeilles stehen zwei Unteroffiziere sich gegenüber, ein bayerischer und ein französischer, die nach kurzem Bajonettkampf beide fielen, ein historischer Vorgang. Die Offiziere kamen; auch von den andern Kompanien, sahen sich's an und sprachen mir ihren Beifall aus. Der Hauptmann beriet mit mir, welche Episoden sich am besten für Bilder eigneten; es machte ihm Freude, und er fing an, sich für mich mehr zu interessieren. Er fand Gefallen an mir, da er sah, daß ich etwas leistete; er machte mich von den Übungen frei, soweit es ging, und er kam täglich in mein Verließ und sah mir zu. Sogar Prinz Arnulf fing an, mich zu bemerken; er befahl, ich solle einem Leutnant, der einige Zeit Künstler war, bei Ausmalung des Offizierskasinos helfen. Der malte an die frischgeweißte Decke ein Freskobild: Triumphzug des Mars, ich sollte beim Aufzeichnen und Farbenreiben so eine Art Faktotum spielen; gleich den ersten Tag warf ich oben auf dem Gerüst einen Farbentopf um, so daß die Farbe an der Wand herunterrann. Er schickte mich bald weiter und sah mich immer so verdächtig an, wenn ich ihm begegnete; er meinte wohl, ich hätte das absichtlich getan, um von ihm loszukommen. Wirklich freuten mich diese klassischen Vorgänge nicht. Auch der Hauptmann war froh, als ich wieder zu ihm kam.
Viele Taten der tapferen Soldaten vom Leibregiment habe ich noch während meiner Dienstzeit verewigt, die Bilder hängen noch heute, nachdem die Lechlkaserne verschwunden ist, in der Prinz Arnulf-Kaserne an der Türkenstraße, wohin das Regiment übergesiedelt ist.
Hier in meinem Atelier, inmitten der Schuster und Schneider, entstanden auch meine ersten Zeichnungen für die "Fliegenden Blätter".
Wenn draußen bei den Handwerkern ein: "Stillgestanden!" erscholl, das Zeichen, daß ein Offizier eintrat, ließ ich schnell mein Reißbrett im Tischkasten verschwinden und machte mich flugs an mein Schlachtenbild. Der Hauptmann ahnte wohl die Existenz dieses Geheimfachs, aber er drückte ein Auge zu. Als ich einige erlebte Soldatenscherze mit Illustrationen an die Redaktion eingesandt hatte, fragte sie bei mir an, ob ich als ständiger Mitarbeiter bei ihnen eintreten wolle. Ich war nun gerettet und bedauerte nur, daß dieses Glück nicht ein Jahr früher kam, dann säße ich nicht hier. Ich war gerade auf Residenzwache und schrieb an Braun & Schneider, ich sei Soldat und müsse Posten stehn; den ersten freien Tag käme ich zu ihnen. Den Brief gab ich einem Kameraden zum Besorgen mit, und denselben Tag kamen die beiden Herren Schneider und erkundigten sich am Eingang des Wachtlokals bei einem Unteroffizier nach mir. Der zeigte auf das nächste Schilderhaus. "Dort steht er."
Dann blieben sie an der Feldherrnhalle stehen und besahen sich ihren neuen Mitarbeiter, wie er stramm die Honneurs machte, wenn ein Offizier vorüberkam. Bei meinem ersten Besuch und Vorstellung sagten sie lachend: "Wir haben schon das Vergnügen." Meine ersten Zeichnungen erschienen und fanden viel Beifall, namentlich meine Typen aus dem Militärleben, Offiziere und Soldaten. Hatte ich sie doch gut kennen gelernt, vor und hinter den Kulissen, nichts war mir entgangen. Auch die Offiziere freuten sich, daß einer kam, der sie nicht mehr in schlotterigen Uniformen mit unmilitärischen Bewegungen darstellte, sondern echt, wie sie waren, steif und schneidig.
Sie waren stolz darauf, daß ich es war, der das machte, ein "Kind des Regiments". Es hieß später oft, die Offiziere des Regiments hätten mich entdeckt, ich habe nicht widersprochen, um ihnen die Freude zu lassen. Und der gute Hauptmann hatte doch ein großes Verdienst, daß er mir erlaubte, hier an Ort und Stelle meine Studien zu machen. Auch die Prinzen, Prinz Leopold, der Divisionskommandeur, und Prinz Arnulf, nun zum Brigadekommandeur avanciert, kamen, sahen sich meine Soldatenbilder an und sprachen sich freundlich darüber aus.
Nur mein Feind, der Leutnant, haßte mich ruhig weiter. Es war im ersten Herbstmanöver, das ich mitmachte. Wir lagen in einem Dorf in Niederbayern. Ich trete abends nach der Übung in das Nebenzimmer der Wirtschaft, da saß er allein am Tisch, vor sich eine Maß Bier. Als ich ihn erblickte, machte ich schnell Honneur und Kehrt, um schleunigst zu verschwinden. Da befahl er mir: "Schlittgen, antreten." Den "Gemeiner" hatte er sich wenigstens abgewöhnt. "Sagen Sie mal, da sind in letzter Zeit öfter Bilder von einem gewissen Schlittgen in den "Fliegenden". Ist das ein Verwandter von Ihnen?" "Das bin ich selbst, Herr Leutnant." "Sooo! — Na, da werden Sie wohl einmal Ihre Erlebnisse bei uns herausgeben?" sagte er gedehnt und schaute mich dabei so recht herausfordernd von oben herab an.
Ich habe damals an etwas Derartiges nie gedacht, doch schoß mir's gleich durch den Kopf, was ich sagen mußte: "Jawohl, Herr Leutnant, das werde ich tun." "Nun, hören Sie mal: schreiben können Sie von mir, was Sie wollen, aber meinen Namen zu nennen, das verbitte ich mir. Ab!"
Kurze Zeit darauf war der Hauptmann in Urlaub und der Leutnant führte auf einige Tage die Kompanie. Ich hatte schon lange bemerkt, daß er nur darauf lauerte, mir einen großen Schlag zu versetzen, etwas Vernichtendes, was mir hier meine Stellung kosten sollte. Hatte er es mir doch nicht vergessen, daß ich ihn, den Helden, sehen mußte, wie er erbärmlich in Hockstellung vor mir kauerte, die Hände krampfhaft in den Erdboden gewühlt, den Blick im höchsten Entsetzen hinaufgerichtet zur Öffnung meines Gewehrs, das jeden Augenblick losgehen konnte, um sein kostbares Leben zu beenden. Und dann sagte er mir öfter, ich hätte so einen unpassenden und unmilitärischen Gesichtsausdruck; ich müßte endlich zur Einsicht kommen, daß sie hier keine Hanswursten wären, sondern die Hauptstützen der Monarchie und der Ordnung. War da so ein langer, steifer Einjähriger aus dem Norden; der Mensch kam heranmarschiert zum Leutnant wie eine aufgezogene Puppe, machte halt mit einem Hackenschlag, daß er bald umfiel und am ganzen Körper zitterte vor "Zwirn", wie die Soldaten für Streberei sagten, dann stand er da, den Kopf in der Luft, und brüllte seine Antworten heraus, daß man kein Wort verstand; es war keine menschliche Sprache mehr, es waren tierische Laute, hervorgebracht von einem Gebildeten. Der gefiel dem Leutnant, er sah mich von der Seite an. "Das ist ein Soldat! Hä?? Nehmen Sie sich den zum Vorbild." Nun war also die Gelegenheit gekommen, die große Stunde, wo er mir den Genickschlag versetzen konnte; er war allein, er hatte mich in seiner Gewalt.
Ich hatte vom Hauptmann die Erlaubnis erhalten, mir außerhalb der Kaserne ein Zimmer zu mieten, nachmittags hatte ich dienstfrei, um Studien zu machen.
Da kommt ein Mann gelaufen, ich solle sofort zum Herrn Leutnant in die Kaserne kommen.
Im Hof ist die Kompanie aufgestellt. Der Leutnant geht in heftigen Schritten auf und ab; ich sehe schon von weitem seinen hochroten Kopf. Ich melde mich.
"Weshalb kommen Sie nicht zum Dienst?" "Der Herr Hauptmann hat mir dienstfrei gegeben." "Aber ich habe befohlen, daß die ganze Kompanie antritt. Und ich führe jetzt die Kompanie." "Ich habe angenommen, daß auch in Abwesenheit des Herrn Hauptmann sein Befehl gilt, Herr Leutnant." "Halten Sie das Maul und holen Sie Ihr Gewehr." Und nun mußte ich ihm zwei Stunden lang allein vorexerzieren, mit Kniebeugen, so lange, daß ich fast die Besinnung verlor.
Dann entließ er mich und kündigte mir an, daß er mich wegen Nichtbefolgung eines dienstlichen Befehls dem Regimentskommando melden werde.
Ich ging nach Hause und war verzweifelt. Mein Freund Henry Albrecht, auch ein Zeichner der "Fliegenden Blätter", kam und fand mich, die Pistole in der Hand. Mir war es, als könnte ich das nicht überleben. Er redete mir gut zu und ließ sich alles erzählen und ging noch denselben Abend zum Feldwebel.
Der gute Mensch, er hat sich fünfundzwanzig Jahre später am Starnberger See in einen Kahn gesetzt, ist hinausgefahren und hat sich, den Rucksack mit Steinen gefüllt, in den See gestürzt. Schon am nächsten Morgen kehrte der Hauptmann zurück, der Feldwebel hatte ihm wohl Meldung gemacht. Er machte mir Vorwürfe, wohl mehr zum Schein, aber von der Meldung an das Regiment war keine Rede mehr. Er gab mir einen Tag Kasernenarrest, ich wußte nicht wofür, dann war der Fall erledigt. —
Unsern hohen Regimentsinhaber, den König Ludwig den Zweiten, bekamen wir nie zu Gesicht, bei Paraden und andern öffentlichen Gelegenheiten vertrat ihn Prinz Luitpold. Immer hieß es: für den König, im Namen des Königs, das Leben für den König; wir putzten uns für ihn, wir froren, exerzierten und quälten uns ab für ihn, wir standen vor seinem Schloß, in seinem Schloß für ihn Wache; wir sahen die Hofleute, die Lakaien laufen, wir wußten nur, hier irgendwo, da hinten in den Gängen, wohnt er. Es gab doch Leute unter uns, wie die Oberländer, aus irgendeinem versteckten Gebirgstal, die drei Jahre hier als "Leiber" des Königs dienten, nach Hause gingen und nie wieder in ihrem Leben nach München kamen, sie hatten ihren König nicht gesehen.
Als ich später Gefreiter wurde, mußte ich die Wachen aufführen, ich wurde viel für dieses Amt benutzt, da ich sonst wegen meiner Schlachtenmalerei wenig Dienst mitmachte. Ich führte meine Posten ein Jahr lang vor dem Schloß, im Schloß herum, gewöhnlich einen ganzen Tag alle Stunden und habe keinen König gesehen; man wußte, er war im Schloß, aber man sah ihn nicht.
Wir stellten eine Wache auch im Hoftheater, bei den Separatvorstellungen, die er für sich allein geben ließ. Da mußte ich gewöhnlich zwei Mann an seine Loge führen; kaum hatte ich sie aufgestellt, erschien ein Hofmann und schickte uns fort. Wir wußten es schon, der König kann keine Soldaten leiden. Hier in den langen, öden Gängen Posten zu stehen, war recht langweilig, meist war es ein Ort, an dem sonst keine Seele zu sehen war. Besonders in der Winterkälte, in tiefster Dunkelheit, war die Stätte unheimlich, ebenso draußen am Schloß in irgendeiner Ecke oder Nische, wo man nur ein paar Schritte zum Auf- und Abgehen hatte, um das Leben des Königs zu schützen. —
Einmal stand ich in einem Gang, der in das Residenztheater führte, das am Schloß angebaut war, es war kurz vor Beginn der Vorstellung. Einige wenige Adlige benutzten diesen Weg durch das Schloß in ihre Loge. Da kam eine wunderbare Frauengestalt daher, ich stand wie festgebannt; da eine Lampe über mir brannte, konnte ich sie genau sehen; sie erschrak ein wenig, als sie im Bogen herum kam und hier plötzlich einen Mann mit Gewehr stehen sah. Sie war ganz in Weiß gekleidet, hatte einen weißen Hermelinmantel um die Schultern, und in all diesem Weiß stand ein schöner blasser Kopf mit tiefschwarzen Augen, tiefschwarzem vollem Haar; im Dämmerlicht funkelten die Diamanten. Ich machte unwillkürlich "Stillgestanden" vor ihrer Schönheit, sie verstand, lächelte, nickte freundlich und huschte vorüber. Ein dicker, phlegmatischer Livreebedienter bummelte fünf Schritte weit hinterher.
"Entschuldigen Sie bitte, wer war diese Dame?" fragte ich ihn. Er blieb einen Augenblick stehen, sah mich von oben herab an und sagte:
"Gelt, die gefallt d'r?" Es war die Gräfin Görtz, berühmt durch ihre Schönheit, auch Lenbach hat sie gemalt. —
Ein anderes Mal war ich auf Wache in der großen Regimentskaserne.
Da war plötzlich eine große Lauferei und Lärm im Gang vor dem Wachtlokal. Ein Soldat hatte sich in der Arrestzelle aufgehängt, er hatte sich an einem Unteroffizier tätlich vergangen.
Nicht lange dauerte es, da kam ein Leutnant, der in großen Zorn geriet, weil sich der arme Kerl der Bestrafung durch seinen freiwilligen Tod entzogen hatte. Ich habe in meinem Leben nie wieder etwas so Schreckliches erlebt wie diese Szene. Der Offizier schimpfte über diesen Armen, der drinnen am Strick hing, in den gemeinsten Ausdrücken, dabei sah er uns abwechselnd scharf an. Plötzlich stutzte er, sein hochroter Kopf blieb vor meinen Augen einen Augenblick festgebannt, der Ausdruck in meinem Gesicht mußte ihm aufgefallen sein, er schien sich zu besinnen und ging davon. Noch Jahre nachher sah ich ihn in den Straßen von München, zum Schluß noch als General. Immer wieder, wenn er mich sah, stutzte er, ich konnte es genau beobachten, dann machte er ein wütendes Gesicht und ging weiter. Mein Blick hatte ihn getroffen, und er hatte ihn verstanden. Ich habe mich immer gewundert, weshalb er mich damals ruhig stehen ließ, denn als Vorgesetzter hatte er mich doch in seiner Gewalt. —
Um diese Zeit hatte ich noch ein ähnliches Erlebnis, das für mich leicht schlimmere Folgen haben konnte. Da saß eines Morgens in meiner Korporalschart ein neuer Mann, nicht mehr jung, mit grauer krankhafter Gesichtsfarbe und großem schwarzen Vollbart; er blickte scheu vor sich hin und sprach mit niemand. Ich fragte die Kameraden, wer das sei, und erfuhr: ein Mann, der lange Jahre auf der Festung Oberhaus war, weil er sich an einem Vorgesetzten vergriffen hatte. Den nächsten Sonntag war er allein im Zimmer geblieben, und ich redete ihn an. Zuerst gab er unwirsche Antworten, dann wurde er zugänglicher. Ich fragte ihn, ob er nicht ausgehen wollte; er hatte kein Geld, und ich gab ihm eine Mark. Abends kurz vor dem Kompanieappell höre ich im Gang vor der Tür Geschrei, ich laufe hinaus und sehe meinen Mann, wie er tobt und um sich schlägt und von den Leuten festgehalten wird.
Das Bier war ihm zu Kopf gestiegen, und er hatte sich auf den Vizefeldwebel stürzen wollen, der ihm ein unfreundliches Wort gesagt hatte.
Der war anständig gewesen und hatte sich zurückgezogen, als er den Zustand des Mannes bemerkte. Die Meldung unterließ er auch.
Der Mann war nach diesem Ausgang noch verschlossener wie vorher, sah mich mißtrauisch an und sprach mit keinem Kameraden. Kurze Zeit darauf hat man ihn entlassen. Eines Tages wurde ich zum Hauptmann befohlen, der sehr aufgeregt war. "Sie sollen der Brigade vorgestellt werden." Das war etwas ganz Schlimmes, das geschah nur in schweren Fällen. Ich dachte hin und her und war mir nichts bewußt. Der Brigadekommandeur war Prinz Arnulf, der mich in sein geliebtes Regiment protegiert hatte. Der Hauptmann mußte zuerst zum Prinzen hinein und hatte ihm wohl Gutes von mir berichtet, denn als ich antrat, empfing mich der Prinz gnädig scherzend, auch auf dem Gesicht des Hauptmanns sah ich, daß er beruhigt war. "Hören Sie mal," fing der Prinz an in einem unnatürlichen Ton, als ob er mir Angst machen wollte; er hatte ein Schreiben in der Hand, das er immerzu betrachtete, als wäre es etwas sehr Drolliges.
"Da hat ein Mann aus Leipzig an uns geschrieben, hm, hm, ein Herr Direktor X.," dabei sprach er den Namen meines alten Akademiedirektors falsch aus und verdrehte ihn ins Lächerliche.
"Ja, hm, er hat nämlich geschrieben, wir sollen Sie schleunigst entlassen." Nun lächelte er und blinzelte dem Hauptmann von der Seite zu.
"Und Sie", wandte er sich an mich, "hätten das Einjährigenzeugnis, und wir sollen Sie schleunigst entlassen. Haben Sie das Zeugnis?" "Zu Befehl, Königliche Hoheit."
"Nun", sprach er weiter im gnädigsten Ton, "führen Sie sich weiter gut, dann werden Sie in Disposition kommen." Das hieß: mit achtzehn Monaten frei werden! Ich freute mich sehr, nur der Hauptmann grollte auf dem Heimweg noch etwas, er meinte, ich hätte mich hinter den Direktor gesteckt. Ich erzählte ihm nun von meiner Flucht aus Leipzig, daß ich seitdem in keinem Verkehr mehr mit ihm stünde und selbst über seinen Schritt erstaunt sei. Er hatte wohl meine Zeichnungen in den "Fliegenden Blättern" gesehen und seine alte Liebe zu mir war wieder erwacht. Nun war der Hauptmann endlich beruhigt. — Die Dienstzeit ging langsam zu Ende. Ich war Gefreiter geworden, der Hauptmann hätte mich zum Unteroffizier befördert, aber er meinte, da müßte ich drei Jahre dienen und für mich wäre es besser so. Ich war als Künstler bekannt geworden, verdiente Geld und konnte nun anders auftreten. Der Dienst war nicht schwer für mich, denn ich war ein gewandter Soldat. Alles war freundlich gegen mich, sogar der Leutnant war ruhig und rollte nur manchmal im Hintergrunde mit den Augen. Nun wurde das letzte Bild angefangen: Der nächtliche Einzug des Infanterie-Leibregiments im Oktober 1870 in Orleans. Ich wollte es in Öl malen, der Hauptmann fragte mich:
"Haben Sie denn schon gemalt?" Ich sagte kühn: "Jawohl, Herr Hauptmann." Ich dachte mir: Es muß gehen, was du nicht kannst, wird zugemalt, das ist Nacht.
Aus Verehrung und Dankbarkeit für den Hauptmann hatte ich ihn im Vordergrund angebracht. Das war auch historisch. Er diente damals als Regimentsadjutant, als welcher er sich durch einen kühnen Ritt das Eiserne Kreuz Erster Klasse erwarb, im ersten Infanterieregiment, das damals auf dem Platz kampierte, als das Infanterie-Leibregiment unter Jubel einzog. Vorn an Lagerfeuern die effektvoll beleuchteten Soldaten, und das malerische Durcheinander, im Hintergrunde, am Denkmal der Jungfrau von Orleans, das einziehende Infanterie-Leibregiment, die geisterhaft beleuchteten Häuser und der gestirnte Himmel darüber, das, dachte ich mir, ist eine herrliche Aufgabe für meinen jungfräulichen Pinsel. Der Hauptmann saß hoch zu Roß und drehte sich nach hinten herum. Um zu sehen, ob er ähnlich sei, fragte ich einen Kameraden: "Wer ist das?" "Dös ist der Till Eilenspiegel." Ich war starr und verstand nicht, weshalb. Da erklärten mir's die Soldaten. Auf dem Lande werden Bücher verkauft mit den lustigen Streichen Till Eulenspiegels, der auf dem Titelblatt abgebildet ist, wie er verkehrt auf dem Esel reitet.
Das war hart für mich. Der Mann hatte unsern Hauptmann für Till Eulenspiegel angesehen und mein Pferd für einen Esel. Auch dem Hauptmann gefiel das Pferd nicht. "Es ist zu hölzern, das können Sie noch nicht."
"Ich könnte es schon, Herr Hauptmann, wenn ich es nach der Natur studieren könnte."
Er gab mir vierzehn Tage Urlaub, um Pferdestudien machen zu können, denn ihm lag viel am Gelingen gerade dieses Bildes, das ihm besonders gefiel.
Diese vierzehn Tage bummelte ich und hatte große Angst vor dem Einrücken ohne Pferdebild. Ich ging zu einem Freunde, einem Sportsmann und ausgezeichneten Pferdemaler, und klagte ihm meine Not. "Beruhige dich", sagte er, "nimm dir da, was du brauchen kannst, und mache damit, was du willst." In einer Atelierecke lag ein Haufen alter Naturstudien nach Reitpferden, sie waren vom Alter schon knochenhart und hatten teilweise Sprünge. Ich dachte mir: die Militärs werden das nicht kennen.
Ich nagelte nun diese Studien im Atelier auf und erwartete den Besuch des Hauptmanns. Der war begeistert und schickte auch die andern Offiziere, damit sie die Pferde bewundern sollten.
Sie waren wirklich auch sehr gut.
Einige Zeit darauf kam der Premierleutnant in den Verschlag, ich merkte gleich, er hatte etwas auf dem Herzen. Er wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus und sah immer die Pferde an.
"Der Schimmel, ja, der Schimmel, der ist ganz ausgezeichnet." Schließlich kam es heraus: "Wollen Sie mir den schenken?" "Gewiß, Herr Premierleutnant, mit Vergnügen, es ist mir eine große Ehre."
Hocherfreut schüttelte er mir die Hand. Ich wollte ihm die Studie übergeben, aber er wehrte ab: "Bitte, nicht so, Sie müssen mir eine kleine Dedikation darauf schreiben, dann habe ich ein Andenken an Sie." Nun, ich tat ihm gern den Gefallen. Wenn einmal auf dem Kunstmarkt ein Schimmel, von mir signiert, erscheinen sollte, Ansicht im Profil, Malerei stark gesprungen, das ist eine Fälschung, bloß der Name ist echt. Das Bild gefiel außerordentlich, und ich machte noch einen guten Kameraden damit glücklich, einen Holzbildhauer von Beruf. Er mußte einen breiten Holzrahmen darum schnitzen; er zeichnete und schnitzte einen mit komplizierten Ornamenten, damit die Arbeit recht lange dauerte. Ich muß noch meines Freundes Peter Kloo gedenken. Er war Kompanietischler, ein hübscher blonder Bursche voll Talent, Lebendigkeit und Humor, der in müden Stunden auf dem Marsch oder in der Kaserne alles aufheiterte. Er war mein Modell, mein Faktotum, mein Putzer. Er war Gefreiter und hatte den Spitznamen "Brigadier" erhalten, wahrscheinlich von den Elsässern, die freiwillig bei uns dienten. Einmal schnauzte ihn der dicke Feldwebel fürchterlich an, der dabei ganz blau-violett im Gesicht wurde; Kloo-Peter hörte es, wie immer, ruhig und gelassen an. Als der Feldwebel zur Tür hinaus war, stand er noch in strammer Haltung, blickte ihm nach und sagte gelassen:
"Und dös muß sich a Brigadier von an Feldwebel gefallen lassen."
Ich habe ihn leider ohne Absicht noch gekränkt, als er frei kam und in Zivil Abschied nahm. Als Soldat ein flotter, eleganter Bursch, sah er in seinem großkarierten Jankerlanzug, wie sie an der Tiroler Grenze getragen werden, recht bäuerisch aus.
"Herrgott", platzte ich heraus, "Kloopeter, ich hatte nicht gedacht, daß du so ein Gescherter bist." Er hatte mir oft beim Arbeiten zugesehen und fing nun selbst an, auf meinen Papierresten zu zeichnen. Mein Bildnis versuchte er mit der Feder, wie ich in meiner Kommißmontur dritter Garnitur vor der Staffelei sitze und male; eine Zeichnung voll köstlicher Naivität, die ich als Andenken noch besitze. —
Nun kam die Freiheit immer näher. Die Tage wurden gezählt und jeden Morgen ausgerufen.
Dann kam der letzte Tag; die Reservisten banden sich die Säbeltroddel an ihren Spazierstock, machten allerhand Ulk, exerzierten im Zimmer herum, imitierten die Vorgesetzten und sangen das Lied:

"Drum, Brüder, stoßt die Gläser an,
Es lebe der Reservemann,
Wer treu gedient hat seine Zeit,
Dem sei ein volles Glas geweiht."

Die Offiziere nahmen Abschied, auch mein Leutnant. Er war noch so freundlich, mich zu ersuchen, für seine Kegelbahn ein Bild zu zeichnen, wahrscheinlich zum Andenken an mich. Ich habe ihm nichts darauf erwidert, das Bild hat er natürlich nicht erhalten. Ich traf ihn noch oft auf der Straße, ich beachtete ihn nicht mehr; später wurde er noch Oberst und General, ich sah, wie er mich musterte und sich ärgerte, daß ich ihn nicht grüßte.
Er war für mich eine unangenehme Episode, eine Prüfung, mich in der Selbstzucht zu üben, die man so oft im Leben nötig hat; ich habe ihm das zu danken; nie wieder in meinem Leben brauchte ich so viel Kraft, mich zu beherrschen, und ich empfand immer, wenn ich ihn später sah, einen stillen Stolz, daß ich von diesem Mann mich nicht unterkriegen ließ. Wie hätte er sich gefreut, wenn er mich auf die Festung Oberhaus gebracht hätte.
Mit den andern Offizieren stand ich nach der Dienstzeit in einem freundlichen Verhältnis; sie freuten sich, wenn sie mich sahen, und besonders der gute Hauptmann lachte schon von weitem, wenn er mich traf. Als ich als Zeichner bekannt wurde, nahm die Teilnahme noch zu, alte Kompaniekameraden und Unteroffiziere sprachen mich oft auf der Straße an und besuchten mich. Auch der arme Metzger, der so arg gequält wurde, stellte sich nach vielen Jahren einmal in meinem Atelier ein, sein Junge wartete unten, er rief von oben, dem höchsten vierten Stock, auf die Straße hinab:
"Geh aufi, Pep, er ist da."
Dann fragte er mich, wieviel Gesellen ich hätte. Von dem bösen Sergeanten redete er nicht mehr. Der Hauptmann hatte mir noch ein gutes Zeugnis in den Militärpaß geschrieben und mich zum Unteroffizier qualifiziert. "Aber blamieren Sie mich nicht, wenn Sie einmal in Preußen zur Übung einrücken müssen," sagte er lachend. Ich versprach es ihm.
Dann bat er mich in seiner gewinnenden Art, im Dispositionsurlaub für die Kaserne noch ein Bild zu zeichnen, die Verteidigung eines Hügels durch die vierte Kompanie. Ich versprach es ihm. Für dieses Bild hatte ich draußen in der Freiheit gar keine Lust mehr, es quälte mich, ich hatte die ewige Schlachtenmalerei satt. Da sagte einmal mein Freund Henry Albrecht: "Ich mache es für dich."
Er war ein großer Soldatenfreund und arbeitete schnell, in ein paar Tagen war das Bild fix und fertig. Ich machte noch ein paar Krikelkrakel darauf, zur Beruhigung des Gewissens und dachte mir: Peter Paul Rubens hat das auch getan. Dann schickte ich es in die Kaserne. Es kam ein dankerfüllter Brief vom Hauptmann, es gefiel ihm sehr, und er freute sich, daß ich in dieser kurzen Zeit so große Fortschritte gemacht hatte.
Im Vordergrund des Bildes lag ein Soldat im Anschlag, der seine Gewehrmündung direkt auf den Beschauer hielt, so daß er jeden tot schoß, der das Bild betrachtete, von vorn, von rechts und von links.
Dieser Scherz machte in der Kaserne Aufsehen, er wirkte wie ein Wunder, und ich wurde oft gefragt, wie so etwas möglich wäre.
Nun ging es ans Abschiednehmen von der Kompanie. Ich stiftete ein großes Faß Bier mit Festzigarren für die Kameraden von der Korporalschaft und eine Galatafel mit Regensburger Würstchen und Virginias für die Herren Unteroffiziere. Alle wollten, daß ich den letzten Abend noch bei ihnen verbringen sollte.
Aber mich hielt es nicht mehr, es zog mich mächtig hinaus in die Freiheit.
"Lebt wohl, Kameraden," rief ich in der Tür, schwang meinen Hut und verließ die Kaserne.

* * Dreißig Jahre später fand ich Kloopeters Spuren im bayrischen Gebirge. Ich hörte, daß er in einem großen Sägewerk als Tischler arbeitete, ließ ihn grüßen und erhielt folgenden Brief, der bewies, daß er der Alte geblieben war.

B. Den 1.4.1912.

Lieber Freund Hermann Schlitgen!

Da Ich v. H. D. Maier in Brannenburg Erfahren habe das Sie sich nach mir erkundigt haben u. das Sie sogar die Zeichnung von Mir wo Sie in der Lechelkaserne in Vatterlands Anzug an der Staffelei saßen u. eifrig die Grimigsten Schlachten Bilder malten daß hat Mich ungemein gefreut das Sie sich nach so langen Jahren noch den armen Gefreiten von der Lechelkaserne erinnern wo Wir im Dienste unser Vater N. die Zeit Totschlugen. Das waren für Sie Langweilige Tage u. für Mich Hunger u. Durstige Erinnerungen. Aber doch freut es Mich bei Militär gewessen zu sein, es war ja doch auch wieder lustig auch wenn man an die verschiedenen Streiche zurückdenkt die geliefert worden sind u. der Vater N. sein doch Zu dum hinein schrie. Lieber Freund Schlitgen wie es Dir später gegangen hatte weiß Ich nur daß Dir das Glück günstiger war als Mir, den Sie stehen in den Rang eines Hrr. Profesor u. sind ein Großer Mann geworden. Nun werden Sie auch wissen wollen wie es mir auch seitdem ergangen ist. Ich hab Mich nach verschiedenen Irrfahrten in 0. niedergelassen u. meine Schreinerei auszuüben Ich hab da fest geschreinert angestriechen und auch in die Malerei gepfuscht. So hab Ich unter andern auch die Lechnerkappelee in O.er kleinen Berg renoviert, wo Ich als Dein Schüler Dir verdammt wenig Ehre gemacht habe, denn das Altarbild die Darstehlung der unbefleckten Empfängnis Maria haben Mir viel zu schaffen gemacht. Den der Erzengel Gabriel machte immer einen bauernmäßigen frechen Gesichtsausdruck so daß er mehrer einen Erzbengel gleichsah. Ich bemühte Mich einen ganzen halben Tag um ihm ein sampferes Aussehen zu geben, wo er Mir dann zum Dank mehr blötsinniges Gesicht zum Ausdruck zeigte. Die hl. Maria machte es Mir in der Beziehung leichter nur konnt Ich der um viel Teufel das erschrocken sein an den Engel Gabriel auf ihren Gesichtszügen nicht hervorbringen. Nun ließ Ich es gut sein. Dann ging es über den Namenspatron den hl. Simon und der hl. Katarina welche an die Prüstung des Altares angemalt sind sie machten mir weniger zu schaffen den der Simon mit der Säg stellte so ganz einen steifen Bauern dar die Katarina wurde mir etwas fettleibiger als die Bäurin wodurch sich die Bäurin geschmeichelt füllte den Sie war hübsch mager, so waren Bauer und Bäurin mit ihren Portret als Heilige darstellend sehr zufrieden. Dann hab ich noch den Kirchturm in 0. angestrichen zum Andenken daß ich da war, und weil Ich eingesehen habe, daß Ich dmit der ewigen Sterenlauferei von einen Bauern zum andern, doch auf kein grünes Zweig komm so hab Ich mich nach B. gewendet und in der St. Schreinerei Arbeit genommen. Mit einen Anfangstaglohn von 270 bin Ich aufenziert innerhalb 18 Jahren auf 4 Mark gestiegen dann wurde Ich Invalid wegen eines tückischen Leberleidens welches Mir noch immer viel Beschwerde macht. Auch habe Ich mich inzwischen verheiratet, aber auch eine dradlose Verbindung zu nennen ist, welche Mir einen Sohn und eine Tochter Mir bescherrte. Der Sohn ist in der Lehr u. wird Schreiner, die Tochter meine Elis steht im elften Jahre; sie ist sehr fleißig und talentvoll und macht Mir mit ihren unverwißlichen guten Hamor Mein Dasein etwas verträglicher, den ich bin oft ein kranker Mann, bin so eben schon wieder zwei Monat aus der Arbeit aus Krankenkasse u. Krankenunterstützung schon längst hinausgeworfen, weil ich Invalid bin. Die Invalidenrente, die zieht Mir das Geschäft am Lohn ab, wenn Ich arbeits fähig bin. 30 Silbergroschen Lohnerhöung, welches das Geschäft im Oktober gewährt hat, fand für Mich keine Anwendung weil glaub Ich der S. glaubt das für Mich und meine Vamilie nichts teuer geworden ist oder Ich von der Invalidenrente welche Er Mir im Lohn wieder abzieht zu leben habe, so weit hat Mich mein Schicksaal geführt. Lieber Freund Schlitgen Ich hätte noch vieles zu schreiben aber Ich mag Dich mit meinem Geschreibsel nicht weiter belästigen, den Sie haben andere Itheen das wichtiger ist. Ich schließe Mein Schreiben indem Ich Ihnen und Ihrer werten Frau Gemahlin meine herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahre nachträglich übersende. Mögen Sie im Jahre 1912 Glück in ihrer Arbeit haben und Gesundheit und frohen Mut, Sie erfreuen so da Sie uns froh u. munter uns mit ihrer Gegenwart in unsere Berge erfreuen. Wenn Sie Mich jedoch einmal besuchen würden, so wird es Mich sehr freuen, Wir wohnen in B. gleich viavis von Bahnhof auch wird es Uns sehr freuen ein paar Zeilen von Ihnen zu erhalten.
Es grüßt Dich Dein Freund u. Militärkolege

Peter Kloo Schreiner.

Illustrator  

Die "Fliegenden Blätter", in deren "Künstlerstab" ich nun aufgenommen war, standen damals auf der Höhe ihres Ruhms. Sie hatten eine große Vergangenheit, viele der ersten Künstler Münchens waren ständige oder gelegentliche Mitarbeiter gewesen, ihr Charakter war überhaupt sehr vom Münchner Künstlerhumor beeinflußt, das Leben mehr von der gemütlichen, poetischen Seite angesehen, als von der satirischen, die Zeichnungen im Stil der Künstlerchroniken und -kneipzeitungen. Die Politik, außer in der Zeit ihrer Gründung, war verpönt, deshalb ihre ungemeine Beliebtheit bei den Deutschen. Dieses Blatt war ein Ausruhen von allem Heftigen, Gehässigen, von allen Streitigkeiten und Widerwärtigkeiten, alles war gesehen wie von einem harmlosen, lustigen, witzigen Künstlerstammtisch aus. Das Haupt der Zeichner war Adolf Oberländer, ein Künstler ersten Ranges. Auch Wilhelm Busch hatte hier seinen Aufstieg genommen, war aber nach einem Konflikt mit dem Verlag abgesprungen und hatte sich mit einem jungen Verleger zusammengetan, der bis an sein Ende seine Werke herausgab. Ein großer Verlust für die "Fliegenden Blätter", denn diese beiden, Busch und Oberländer, wurden immer zusammen genannt, das war das humoristische Deutschland. Dann kamen einige hervorragende Zeichner, Wilhelm Dietz mit seinen lebendigen Reiter- und Kostümbildern, Ed. Harburger als Charakterdarsteller, Friedrich Steub mit seinen künstlerischen Bauernbildern, klassisch in seinen Wirtshauskeilereien, v. Nagel, ein früherer Reitermajor, der das rein Militärische behandelte, namentlich Offiziere und Soldaten zu Pferd, und einige andere noch. Mein Feld war die elegante Welt mit ihren Damen und Herren, Offizieren, Lebemännern, Hochstaplern und allem, was sich darum bewegt, Dienstmädchen, Soldaten, Offiziersburschen und Kutschern.
Namentlich meine Offiziere fanden Beifall, auch bei den Dargestellten selbst, ein Beweis, daß doch etwas Echtes darin war.
Sogar auf Fürst Bismarck hatten sie Eindruck gemacht, was mich mit Stolz erfüllte.
Der Dichter des "Neuen Tannhäuser" und Schopenhauerforscher, Eduard Grisebach, schickte mir einen Artikel vom 10. November 1892, den er für die Berliner Neuesten Nachrichten geschrieben hatte, darin las ich:
"Im Dezember vorigen Jahres weilte ich beim Fürsten Bismarck. Unter Hinweis auf eine soeben eingetroffene Nummer der "Fliegenden Blätter" äußerte der Fürst seine Ansichten über humoristische Zeichnungen und bemerkte speziell über Karikaturen folgendes:
"Die feine Karikatur, wie ich sie mir denke, erfordert dieselbe Beobachtungsgabe und eine ebenso vollkommene Beherrschung der zeichnerischen Technik wie die ernsthafte, nur nach höchster Lebenswahrheit strebende Wiedergabe der menschlichen Gestalt, einer Situation usw. Denn die Karikatur bedingt nicht nur ein Festhalten dessen, was der Künstler sieht, nicht allein die Fähigkeit des Sichvertiefens in das Charakteristische und nicht allein das — ich möchte sagen — subalterne Nachempfinden, sondern auch die Fähigkeit zu einer gewissen humoristischen Kritik des Geschauten und Empfundenen. Sehen Sie diesen Schlittgenschen Leutnant, da ist nicht ein Strich, der unwahr wäre, der ganze Prachtmensch atmet Leben und Natürlichkeit von den spitzen Lackschuhen, den englischen Beinkleidern bis hinauf zu der typischen Art, wie er den Glassplitter im Auge trägt; und doch prägt sich in der Zeichnung eine treffende, aber dezente Satire, ein so packender Humor aus, daß man sich mit innigem Wohlbehagen in das Bild vertieft."
Die künstlerische und literarische Haltung des Blattes war konservativ, die erste Generation hatte es hoch gebracht, die zweite wollte das Erreichte erhalten. Vor dreißig Jahren hatte sie der Münchner Maler Kaspar Braun im Verein mit dem Buchhändler Julius Schneider aus Sachsen gegründet, und nun waren die Söhne gefolgt; Hauptleiter war Julius Schneider mit Kaspar Braun an der Seite und der Maler und Pilotyschüler Hermann Schneider als künstlerischer Leiter.
Der Verkehr der Besitzer mit den Künstlern war patriarchalisch, namentlich mit den Hauptzeichnern, sie waren "ihre Herren". Es herrschte ein wohltemperierter höflicher Ton. Alles war altväterlich.
Die Redaktion war im Neubau ihres Hauses ganz so geblieben, wie sie vor dreißig Jahren war, an den Wänden hingen Erinnerungen, Gelegenheitszeichnungen früherer Mitarbeiter, Andenken an die große Zeit, und auf allen Stühlen lagen Dackel herum bis in das höchste Alter, die liebevoll gehegt und gepflegt wurden; man hatte Angst, sich darauf zu setzen. Als ich meinen ersten Besuch bei den Herren machte, traf ich unterwegs auf der Straße eine Frau, die Veilchensträußchen anbot, ich kaufte vier, eins steckte ich mir zur Feier des Tages in das Knopfloch, die andern nahm ich mit und schmückte die Herren damit; das war nicht ganz im Charakter dieses Hauses, die Herren dankten und lächelten verbindlichst, schauten aber doch dann etwas verlegen ihre Sträußchen im Knopfloch an.
Alles Neue, Schroffe war verpönt, jeder neue Beitrag wurde geprüft, ob er in die bisherige erfolgreiche Art hineinpaßte. Oberländer stand unnahbar da, er war souverän; aber den andern wurde oft zu viel hineingeredet: wenn die Strichlage zu flott oder irgendein Stück nicht genug ausgeführt war, gab es Anstände.
Mancher vorzügliche Zeichner ließ sich durch dieses ewige Kritisieren vertreiben, da die Freiheit des Künstlers hier sehr beschränkt war, und ging später zum "Simplizissimus" und zur "Jugend", wo er sich mehr nach seiner eigenen Art ausleben konnte.
Immer fragte man sich hier zu sehr, wie der Beitrag wohl dem Publikum gefallen würde, und konnte sich nicht dazu aufschwingen, ihm seinen Geschmack aufzuzwingen. Vom alten Keil, dem Herausgeber der "Gartenlaube", wurde erzählt, daß er sich bei jeder Zeichnung und jedem Artikel gefragt habe: "Was wird die Frau Stadtbaumeister dazu sagen?"
Ein wenig so war es auch hier. Ob eine Zeichnung den Künstlern und Kennern gefiel, war gleichgültiger als der Beifall der Menge. Auf meinen Hinweis auf die Künstler sagte einer der Herren: "Ach, die Künstler, die kaufen doch unser Blatt nicht."
Das war wohl auch der Grund, weshalb die "Fliegenden Blätter" mit der Zeit veralteten und künstlerisch von andern Zeitschriften überholt wurden. Hier fehlte frisches Blut und frischer Geist.
Wie oft versuchte ich, abwechselnd in einer andern Technik zu zeichnen als mit der Feder; immer wieder hieß es: bitte, mit der Feder. Ich hatte damit den ersten Erfolg gehabt und dabei mußte es bleiben. Da erlahmt man selbst, namentlich, wenn es jahrzehntelang so fort geht. Der Beruf des Illustrators ist von den Künstlern nicht sonderlich begehrt, er gilt im allgemeinen mehr als melkende Kuh. Oberländer, der es doch gewiß nicht nötig hatte, klagte immer über die ewige langweilige Zeichnerei und hoffte auf eine Zeit, wo er mit seinen Bildern mehr Erfolg haben würde. Andern Zeichnern ging es ebenso, die größten hatten Sehnsucht nach der Farbe. Von Daumier weiß man, wie unglücklich er war, daß er immer wieder wegen Broterwerbs seine Bilder stehen lassen mußte, und vom genialen Gustav Doré wird erzählt, daß er aus Kummer starb, weil seine Malerei keinen Erfolg hatte. Die Zeichnungen wurden damals schlecht bezahlt, und manch junger Anfänger von heute würde Preise mit Entrüstung zurückweisen, mit denen sich diese großen Meister und wir lange begnügen mußten. Die literarischen Beiträge waren meist recht mittelmäßig, entweder harmlos-humoristisch oder spießbürgerlich-sentimental, das Beste waren die Witze, wenn sie gut waren, sie waren erlebt.
Von der neueren Lyrik, die doch bedeutend war, verirrte sich selten etwas hierher; ein einziges Mal fand man ein Gedicht von Detlev von Liliencron: "Die Wachtparade", ein prachtvolles Stimmungsbild einer auf der Straße vorüberziehenden militärischen Parade, man wußte nicht, wie so etwas in die "Fliegenden" gekommen war. Sehr gute Beiträge, humoristische und ernste, brachte der Oberlandesgerichtspräsident Bonn, mit Dichternamen v. Mieris. Gleich bei einem meiner ersten Besuche auf der Redaktion konnte ich den freundlich frotzelnden Ton beobachten, der hier herrschte. Bonn hatte neue Gedichte gebracht, und beide Herren Schneider riefen in einem fort:
"Du machst nix mehr. Du kannst nix mehr." Der liebenswürdige Herr konnte sich noch so sehr verteidigen und mit Ausdruck seine Verse vorlesen, immer wieder mußte er hören:
"Du kannst nix mehr. Du kannst nix mehr." — Hier lernte ich auch den alten Spitzweg kennen, dessen Bilder damals noch nicht die Geltung hatten wie heute, ein kleines, lebhaftes Männchen mit langer Nase und klugen, lustigen Augen, er war ganz Biedermeiergepräge und erzählte mit großer Liebe von seinen Blumen und Vögeln und der wundervollen Aussicht aus seinem Atelier auf die Häuser und Dächer der alten Stadt. Er war mir damals als Künstler noch nicht bekannt, als ich später seine Bilder sah, war ich erstaunt über die Ähnlichkeit des Künstlers mit seiner Kunst. — Viele befreundete Künstler kamen hierher und brachten Ideen und Scherze, da wurde viel gelacht und geschwatzt. Auch mancher bedürftige Künstler stand hier an der Tür des Vorzimmers und wartete verzagt, ob sich die Herren für die Annahme seines Beitrages entscheiden würden; meist konnte man ihn nicht brauchen, und dann ging der Arme mit seiner Mappe, um immer wieder zu kommen, es zu versuchen. Traurige Bilder einer Künstlerstadt, in der zu viele Maler zusammensitzen. Neben der glänzenden Lebensführung einiger besonders Begabten und Glücklichen und der breiten Bourgeoisie des künstlerischen Mittelstandes so viele unten, als Proletariat, von denen man nicht wußte, wovon sie lebten, die darbten und den Tag hindämmerten, mit glühenden Augen hinauf sahen auf die Erfolgreichen, traurig sich an eine kleine Hoffnung anklammernd, an einen Gedanken, ein Werk, das noch entstehen und den Urheber mit einem Schlag berühmt machen würde.
Was sah man da auf der Redaktion für Zeichnungen, mit riesigem Fleiß angefertigt, mit einem krampfhaften Humor, der nach Armut roch, dem die heilige Flamme der Anmut und des Talents fehlte, hingequält und hingefiebert: diesmal wirst du es erreichen.
Mancher Gesicherte auch, dessen Bilder plötzlich aus der Mode kamen und der Geld verdienen mußte, versuchte es mit dem Illustrieren. Da merkte er nun, daß es gar nicht so leicht war, dieses verachtete Handwerk, sein malerischer Schwung half ihm nichts, er mußte zeichnen, mit Stift oder Feder; er mußte etwas Deutliches hinbringen, eine Idee in einer bestimmten Form. Dann wurde geschimpft über diese Schandarbeit, wenn die Redaktion seine Versuche zurückschickte.
Ja, es gehörte großes Geschick dazu, Schnelligkeit der Auffassung, Gewandtheit in der Wiedergabe von Menschen, die oft in schwierigen Bewegungen und Verkürzungen darzustellen sind, aus der Erinnerung zeichnen, die Komposition mit Geschmack auf das Papier bringen. Und immer etwas Neues erfinden, nicht wie der Maler, der jährlich seine paar Bilder malt, nein, wöchentlich verschiedene Zeichnungen, welche von so vielen Menschen gesehen und kritisiert werden. —
Dann kamen die Nachahmer. Sie strebten danach, dem Blatt in Form und Inhalt gleichzukommen. Sogar der Name wurde nur wenig verändert: "Neue Fliegende Blätter". "Kleine Fliegende Blätter".
Die gewandten Zeichner, die sich einen beliebten Namen aussuchten und ihn in Technik und Charakter äußerlich so nachmachen konnten, daß für das ungeübte Publikum wenig Unterschied zu bemerken war. Wie haben wir da manchmal gelacht, wenn solch ein Blatt ankam mit unseren Nachtretern, wie hatten sie sich angestrengt, die armen Teufel, um es ja recht ähnlich zu machen, und hatten doch nichts weiter abgeguckt, als wie er sich räuspert und wie er spuckt. Ja, sie war gar nicht so leicht, diese "Illustriererei". — Die Beliebtheit und Verbreitung der "Fliegenden Blätter" war wirklich ungeheuer, wohl nur der Londoner "Punch", der in allen englischsprechenden Ländern gelesen wurde, hatte ein noch größeres Publikum. Man konnte wohl sagen, daß fast jeder gebildete Deutsche das Blatt zu Gesicht bekam. Sie gingen überall hin in das Ausland, ein großer Teil der Auflage nach Amerika, wo sie für die Deutschen ein Stückchen Heimat waren, die sie verlassen hatten, in die skandinavischen Länder, Holland, Belgien, die Schweiz, ja sogar nach Frankreich; in den Kiosken der Pariser Boulevards waren sie das einzige deutsche illustrierte Blatt, das verkauft wurde. Ich habe es selbst erlebt, überall, wohin ich auf meinen späteren Reisen kam, war ich bekannt und wurde freundlich aufgenommen: "Aha, Fliegende Blätter!" In dieser Blütezeit erhielt ich oft Anträge von großen ausländischen Zeitschriften, an "Harper's Monthly" in Neuyork und die englische "Graphic"; für letztere sollte ich das Londoner Highlife zeichnen, der Herausgeber Thomas, der persönlich bei mir war, machte ein merkwürdiges Gesicht, als ich sagte: "Es tut mir leid, ich will malen." Die Popularität des Blattes konnte man aus den Briefen und Postkarten ersehen, die mit Scherzen einliefen, täglich ein ganzer Stoß; jeder gute Witz, der in Deutschland gemacht wurde, fand irgendeinen, der ihn einschickte. Ich habe selbst oft solche Zuschriften erhalten, meist waren es ganz köstliche Scherze.
Auf einer Postkarte erhielt ich die Mitteilung aus einem Restaurant in Köln, daß soeben ein Leutnant, geärgert durch einen kleinen kläffenden Hund, der im Lokal herumlief, dem Kellner zugerufen habe:
"Kellner, treten Sie mal den Hund tot." — Ebenfalls auf einer Karte wurde mir geschrieben: Hier im Kaffeehause zog sich soeben ein Leutnant den Überrock aus, eine hübsche Kellnerin war behilflich. Der Leutnant sagte:
"Fräulein, Sie kenne ich doch." Worauf die Kellnerin: "Ich Sie auch." "Na, woher denn?" "Aus den ,Fliegenden Blättern'." — Wenn ich heute meine Illustrationen der damaligen Zeit betrachte, so kann ich es kaum begreifen, wie sie so einschlagen konnten. Aber man muß wissen, was vorher da war. Ich brachte gewiß eine neue Note: modernes Leben und verbesserte moderne Menschen.
Wie war bisher diese Welt meist von den Zeichnern malträtiert worden. Die Kleider säßen nicht am Körper, die Bewegungen waren steif und unnatürlich, und diese wohlhabenden Menschen sahen aus wie Modelle, die abgelegte Kavalierkleider angezogen hatten. Die Eleganz war bei den Malern etwas Verächtliches und das Gegenteil von "malerisch", und ihre Vorliebe für ruppige Bier- und Bummelfiguren ging auch etwas auf die Zeichnung über.
Die Maler sagten: So ein Herr im Frack und Zylinder ist nicht malerisch, eine Dame im gutsitzenden modernen Kleid auch nicht, man muß sie erst kostümieren, wie in der Dietz- und Pilotyschule.
Die Menschen wurden wie auf dem Theater angezogen und dann erst würdig zum Malen gefunden. Eine schöne interessante Dame war so, wie sie war, nicht wert, gemalt zu werden, sie mußte erst mit einem bunten Atelierfetzen drapiert werden. Lenbach und Makart machten das vor, und die Kleinen folgten.
Daß ein moderner Herr im eleganten Anzug und eine mondäne Dame mit der feinen Nuancierung ihrer Haltung, ihrer Bewegungen schwerer zu zeichnen sind als ein ruppiger Kerl in schlotterigen Kleidern oder ein weibliches Modell, welches für fünfzig Pfennige die Stunde still steht, ahnte man erst, wenn man es einmal versuchte; wenn es dann nicht gelang, hieß es: das ist ja nicht künstlerisch. Dann kam noch dazu, daß München damals noch sehr kleinstädtisch war mit seinen Herren, die sonntags in braunen Stiefeln, bunter, gemusterter Weste, Chapeau claque und gelben Glacehandschuhen auf der Parade an der Feldherrenhalle, dem Sammelpunkt aller Dandys, herumspazierten. Der Künstler hatte wenig Gelegenheit, wirklich elegante Leute zu sehen; es gab ja einige, aber die mußte man herausfinden. Ich hatte ein gutes Auge für solche Dinge, sie blieben mir in der Erinnerung haften, und ich konnte sie verwerten. Das war mein Vorteil, und ich kam zu meiner eigenen Art, und diese war es, die auffiel.

Nach Flandern  

Die Löffzschule galt damals an der Münchner Akademie für die fortgeschrittenste, der Meister war ein etwas langweiliger Maler, aber mit einer gewissen Neigung zum rein Malerischen; ich beschloß, in diese Schule einzutreten. Noch als Soldat, vom letzten Manöver aus, hatte ich ihn um Aufnahme gebeten, umgehend kam die Antwort, er nähme mich auf meine Zeichnungen hin und ich solle gleich in seine Eliteklasse eintreten, die er aus einigen seiner besten Schüler gebildet hatte. Ich war freudig bewegt, hatte ich doch nun endlich mein Ziel erreicht und kam noch dazu zu reiferen jungen Malern, von denen ich profitieren konnte, denn in der Schule lernt man meist gegenseitig mehr als vom Lehrer. Hier hatte nun auch schon Abbey mit seiner Zeichnung hineingespukt, es wurden Modelle in holländischen Hauben und Kostümen gestellt, gegen das Fenster gesehen und in einen Raum abgeschlossen, jedenfalls anregender als die langweiligen Modellsitzungen oben auf dem Podium, mehr zum Zeichnen als zum Malen.
Da nur wenige Schüler da waren, hatten wir genügend Platz. Es waren hier alles Begabtere, und der Lehrer hatte einen guten Blick gezeigt, aus allen ist später etwas Tüchtiges geworden.
Die Schüler der anderen Klassen kamen, um zu sehen, ob ich auch malen könnte, und besahen mit kritischen Augen meine Studie, die natürlich keine Gnade fand, denn es war ausgemacht seit ewigen Zeiten, daß ein Zeichner nicht malen kann. Doch fand der Meister meine Arbeit nicht schlecht. Die interessanteste Erscheinung in der Klasse war ein langer melancholischer Norweger mit Vornamen Bernt, der eine Vorzugsstellung einnahm; er war schon weit herumgekommen, hatte in Florenz studiert, und seine Arbeiten zeigten eine gesunde, frische Art zu sehen, die hier herausstach.
Wir freundeten uns bald an; er klagte über seine mangelhafte Zeichnung, und ich wollte malen lernen, so konnten wir uns gegenseitig ergänzen, die Grundlage einer guten, dauerhaften Freundschaft, die wir auch gehalten haben. Wir waren jahrelang die Unzertrennlichen, unternahmen zusammen unsere Reisen und arbeiteten oft zusammen in einem Atelier. Er sprach nur gebrochen Deutsch, und seine langsame Sprechweise wie von einem ganz Traurigen, vermischt mit einem trockenen, drolligen Humor, machte uns alle oft lachen. Gleich an einem der ersten Tage nach meinem Eintritt kam er niedergeschlagen in die Klasse; er hatte gestern auf dem Rathause wegen eines Zeugnisses zu tun gehabt, und da hatten ihn die Beamten grob angefahren. Er vertraute mir das an und bat mich um Rat, was er da tun sollte, er müsse heute nachmittag wieder hinauf. Ich sagte ihm: "Wenn die Beamten wieder unverschämt werden, dann sagen Sie ruhig und gelassen: ,Sie haben keinen Rekruten vor sich'." "Gut, ich will's sagen."
Den nächsten Morgen kommt er noch trauriger. "Nun, wie war es?" fragte ich ihn, "haben Sie es richtig gesagt?"
"Ja, aber sie haben alle gelacht", sagte er melancholisch. — Meine Freude dauerte hier nicht lange. Am letzten Manövertage hatte ich mir bei einem Sturz die Kniescheibe verletzt; ich beachtete es im Anfang nicht, dann entstand eine schlimme Kniegelenksentzündung, das Knie schwoll an, und ich ließ mich vom Arzt nicht abhalten, in die Schule zu gehen; hatte ich doch einen solchen Drang nach der Malerei, daß ich es nun wirklich ohne sie nicht mehr aushalten konnte. Das Knie wurde immer schlimmer, bis ich endlich, nach vier Wochen, gezwungen war, mich zu Bett zu legen. Mit der Malerei war es vorläufig aus, der Arzt sagte mir, ich hätte die Entzündung durch das wochenlange Stehen so verschlimmert, daß ich jetzt lange warten könnte, bis ich sie wieder los wäre. Und so kam es auch. Ich war ein richtiger Pechvogel. Wie hätte ich diese Krankheit mit Freuden begrüßt, als mich der Leutnant so quälte, oft dachte ich damals: wenn mir der Himmel doch so etwas schickte, etwas, was mich frei machte, nicht so schlimm zum Sterben, aber etwas, was gerade ausreicht, um hier herauszukommen.
Und nun war es da, gleich die ersten Tage nach dem Verlassen der Kaserne.
Den ganzen Winter und bis in den Sommer hinein mußte ich am Stock gehen, das Bein war so steif, daß ich es kaum bewegen konnte. Sitzend konnte ich nicht malen, es war mir unmöglich, einen Strich zu tun, ohne zurücktreten zu können. So hieß es nun: abwarten.
Der Arzt meinte, daß vielleicht Seebäder helfen könnten, und da traf es sich gut, daß ich einen Antrag der Redaktion der "Gartenlaube" erhielt, für sie eine Reise nach Flandern mitzumachen, welche der hanseatische Geschichtsverein zu Schiff unternahm, um die alten Städte der Hansa zu besuchen. Ich sollte eine Anzahl Illustrationen für einen Artikel zeichnen. Das Schiff sollte Helgoland, Emden, Amsterdam, Antwerpen und Brügge anlaufen, da war ich an der flandrischen Küste. Ich nahm den Auftrag freudig an. Zu laufen war nicht viel, wir waren entweder zu Schiff oder im Hafen. Im Juli fuhr ich nach Hamburg. Unterwegs machte ich in Leipzig halt, um mich mit meinem alten Direktor ganz auszusöhnen und ihm für seine Freundschaft zu danken. Er hatte mir schon längst erfreut geschrieben, daß ich doch nun weiter gekommen war, als er gedacht hatte. Er führte mich durch die Studiensäle der Akademie, wo meine ehemaligen Kameraden und Neue saßen und wischten, pimpelten und rieselten.
Nun war er stolz auf mich und konnte zeigen, welche Resultate er mit seiner Lehrmethode erzielt hatte. — In Hamburg wartete der "Schwan" auf uns, ein schönes, leichtes Schiff, mehr wie eine große Jacht gebaut, und nahm uns auf, ungefähr hundert Teilnehmer, Herren und Damen, darunter viele Honoratioren, der Bürgermeister von Hamburg, Senatoren, Reichstagsabgeordnete. Zuerst ging es nach Helgoland. Die See ging ziemlich hoch, und unser Schiff rollte ganz unangenehm, ich fühlte gleich: du bist eine Landratte und wirst das nicht lange vertragen. Ein Photograph bat mich, seinen Kasten zu halten; die Gesellschaft saß schön gruppiert da und sollte aufgenommen werden, und er wollte noch etwas arrangieren. Ehe er zu seinem Apparat zurückkam, war es um mich geschehen. Ein plötzliches Flimmern vor den Augen, ein fürchterliches Unbehagen im Magen, und ich mußte schnell verschwinden und war bis Helgoland nicht mehr zu sehen. Nun lag ich unten in der Kajüte, sah mit Jammer die Wogen an das runde Fenster anschlagen, hörte mit Grauen das Getöse des Meeres und das Knarren des Schiffs und fühlte mit Schmerzen sein Rollen.
In Helgoland hieß es aussteigen zum Diner. Erst schauderte mir, dann erhob ich mich, um aus diesem entsetzlichen, wackelnden Schiff herauszukommen und schlich hinter den andern her.
Das Essen schmeckte mir nur halb, dann ging's wieder an Bord, und der Jammer begann von neuem. So ging es die ganze Reise, überall wurden wir festlich empfangen, es gab große Bankette, Gartenfeste, Anreden, meist zuerst im Rathaus, jede Stadt tat so, als wollte sie uns überhaupt nicht mehr fortlassen. Und ich hatte eine solche Sehnsucht nach Brügge, wo alles ein Ende nehmen sollte. Die ganze Reise bestand aus Festessen und Seefahren, kaum war ich wieder an Bord und das Schiff begann seine rollenden Bewegungen, dann lag ich wieder unten in der Kajüte. So wurde ich fortwährend von Qual zu Genuß und von Genuß zu Qual hin und her geworfen. Endlich kamen wir an das Ziel.
Brügge war in alter Zeit die größte Hafenstadt der Niederlande gewesen, das Aufblühen Antwerpens brachte seinen Niedergang. In den letzten Jahren waren die Brügger und Westflamen in großer Bewegung, sie wollten die Stadt wieder in ihre alte Stellung zurückbringen. Der alte Kanal, der es mit dem Meer verband, lag halb versandet, seit langer Zeit hatte ihn kein Schiff mehr befahren. Da wagte es nun der tüchtige Kapitän unseres "Schwan", sein Schiff durch diesen Kanal nach Brügge zu führen, es war leicht und flach gebaut, und der kühne Plan gelang. Als wir im alten Hafen Brügges einfuhren, waren die Bürger in freudiger Aufregung, die Häuser geflaggt, und die Menge begrüßte uns jubelnd, alles rief: "Ein Schiff, ein Schwan!" wie im "Lohengrin".
Wir stiegen an Land, wurden von Bürgermeister und Gemeinderat feierlich empfangen, erhielten Blumensträuße und zogen in die Stadt ein, von der hochgestimmten, freudigen Menge begleitet.
Da erscholl vom Beffroi, dem Glockenturm des Rathauses, unser deutsches Lied: Die Wacht am Rhein, und viele Brügger sangen mit.
Abends gab uns die Stadt ein Festessen, wo wir wieder gefeiert wurden, als hätten wir eine große Tat vollbracht und die Stadt gerettet. In den Straßen war Illumination, die Menge wogte hin und her, viele Brügger und Brüggerinnen trugen Lampions an Stöcken, und so ging es bis in die tiefe Nacht hinein.
Am andern Tag fuhr der "Schwan" wieder ab, der Hafen war gedrückt voller Menschen, alles rief: "Lebewohl, Dank und auf Wiedersehen!"
Ich allein blieb zurück, um meine Illustrationen zu zeichnen, als lebende Erinnerung an dieses Geisterschiff, das den Brüggern als Symbol einer glücklicheren Zeit, die nun kommen würde, erschienen war.
Und wirklich war unser Erscheinen zufällig ein Vorspiel des Wiederauflebens dieser Stadt, der Kanal nach Zeebrügge wurde ausgebaut und der Handel blühte von neuem auf. — Es dauerte nicht lange, da kannte mich die halbe Stadt, freudige Blicke trafen mich: vom "Schwan". Und dann las mancher Flame die "Fliechende Blatters", wie er sie in seiner rauhen Aussprache nannte, um, wie er sagte, schön Deutsch zu lernen. Ich wurde in die Gesellschaften der Stadt eingeführt, vor allem gefiel es mir in der Armbrustschützengilde, die noch aus der Zeit der Grafen von Flandern stammte. Ein altes Haus mit großem Garten daran, in welchem hohe Mastbäume aufgerichtet standen. Hier wurde sonntags auf bunte hölzerne Vögel, die oben an der Spitze angebracht waren, mit der Armbrust geschossen. Im Ehrensaal standen an einer Tafel große, alte Lehnstühle, an einem war ein kleines, silbernes Schild mit der Inschrift angebracht: dieses ist der Stuhl von Peter Paul Rubens, den er als Mitglied der Gilde benutzte. An den Tischen saßen abends die Schützen und rauchten ihre langen Tonpfeifen. Große Messingbehälter standen vor ihnen, gefüllt mit feinem Tabak, sie nahmen, soviel sie brauchten, zwischen die Finger, drehten ihn zu einem Pfropfen und steckten ihn locker in die Pfeife, so daß der Tabak lang heraushing. Dann brannten sie ihn mit einem Fidibus an, langsam, bis die ganze Oberfläche glühte. Dabei fielen die langen Tabaksträhnen auf den Tisch und brannten ruhig weiter. Die dicke eichene Tischplatte war davon dunkel und schwarz geworden und voller tiefer Löcher. An den Wänden standen in Regalen die angerauchten Tonpfeifen, vom Kopf bis zur Spitze ganz tief schwarz und glänzend, auf die ihre Besitzer besonders stolz waren. Als ich Brügge verließ, überreichte mir der Präsident zum Andenken solch ein seltenes Stück. Ich nahm die Pfeife und dankte dafür, doch dachte ich mir im stillen: wie bringst du die nach München? Ich wollte sie stopfen und zerbrach sie. Das war ungeschickt und unangenehm für mich, denn die Flamen machten verlegene Gesichter. — Das Haupt der flämischen Bewegung in Westflandern gegen die Wallonen war Professor Sabbe, ein berühmter Redner, der uns beim Festbankett mit einer begeisterten Ansprache begrüßt hatte. Er regte nach unserer Verbrüderung an und fand damit allgemeine Zustimmung, daß die Brügger den deutschen Freunden einen Gegenbesuch machen sollten. Der liebenswürdige Herr war mein Führer, er zeigte mir jeden interessanten Winkel der Stadt. Bruges, "la morte", war damals wirklich noch die tote Stadt. Die verlassenen melancholischen Straßen, die gotischen Häuser an verträumten Kanälen mit weißen Schwänen im trüben stehenden Wasser machten einen eigenen traurigen Eindruck, die vielen Kirchen und Klöster, die Staffage der Straßen; die dunklen Mäntel und weißen Hauben der Brüggerinnen erweckten den Eindruck, als sei die ganze Stadt von Nonnen bewohnt.
Hier hat Hans Memling gemalt, viele seiner Werke hat man hier bewahrt, eine hervorragende Arbeit in Marmor von Michelangelo steht in einer Kirche: eine Pietà, sie wurde beim großen Meister von einem Antwerpener Handelsherrn bestellt, auf dem Transport strandete das Schiff in der Nähe Brügges, und so kam das Werk als Strandgut hier her. — Ich sah eine große Prozession in diesen alten Straßen, wozu der Erzbischof von Mecheln gekommen war, eine auffallend schöne, große Erscheinung von königlicher Haltung. Wie der in seinem roten Kardinalsgewand mit großer, runder weitausholender Armbewegung der knieenden Menge den Segen erteilte, erst langsam den Arm hoch heraushebend mit gütiger Gebärde, dann plötzlich mit einem Ruck die Hand hinauswerfend, wie die Drohung eines Herrschers, das war ganz im Stil des Mittelalters und floß mit dieser Umgebung prächtig, zusammen.
Oft fuhr ich hinaus nach Heyst und Knocke, der holländischen Grenze zu gelegen, damals, namentlich letzteres, noch einsame Fischerdörfer, meist von Malern und Schriftstellern besucht.
Die Dünen ziehen sich in breiten Flächen hin bis Sluis, dem ersten holländischen Städtchen, das ehemals gegen das Meer zu befestigt war.
Heute ist das Meer zurückgetreten, und hier sind diese prachtvollen Dünen entstanden, die sich weit in das Land hineinziehen und in die frische, grüne Landschaft ausklingen, woraus die farbigen Flecken der flandrischen Kühe leuchten. Hier war es herrlich, im Dünensand und -gras zu liegen, über sich die wunderbaren Gebilde der Wolken, die man nur hier sieht, die vom Meer aufsteigen und sich in das Land hinein verziehen; unter sich das eintönige Anschlagen der Wellen, fern am Horizont ein Schiff, das vorüberzieht. Die Liebe zum Meer und diesem schönen Stück Erde beherrschte mich viele Jahre so stark, daß es mich mächtig dorthin zog, sobald die Frühlingslüfte wehten. — Das heitere Gegenstück zu Brügge war das Seebad Ostende. Hier war für mich etwas zu sehen und genug Stoff zum Zeichnen. Das lebensfreudige Getümmel von eleganten Bummlern und Bummlerinnen, der reichen Nichtstuer und der anrüchigen Vornehmtuer der Großstädte, das Fest von Licht und Freude am Badestrand, das alles dünkte mich damals, als ich es zum ersten Male sah, herrlich. Ich wohnte am Hafen bei einem nicht mehr ganz jungen, kinderlosen Ehepaar. Der Mann war ein lustiger, schnapstrinkender Schiffsmakler; fortwährend ein wenig angeheitert, aber sonst ein lieber Mensch. Die Frau war nicht hübsch und schmutzig, ihre Mannstollheit grotesk; sowie sie einen sah, der ihr gefiel, bekam sie förmliche Zuckungen, ihr Augenverdrehen und Anhimmeln war sehr komisch, und sie genierte sich gar nicht vor ihrem Gatten. Sie machte mir ganz offen den Hof und war namentlich bei Tisch so aufdringlich, daß ich ganz verlegen wurde. Der Mann saß dabei, sah es, lachte und stieß mich in die Seite, wies auf sein Weib und sagte in einem fort: "Gottverdumme!"
Wenn er in seiner Hafenkneipe saß und bis in die Nacht hinein trank, kam sie auf mein Zimmer, wollte mich streicheln und küssen und weinte über ihr Unglück und ihren Mann. Sie sah, daß sie mir gar nicht gefiel, und das schien sie immer toller zu machen.
Der Mann sprach deutsch, sie unterhielt sich mit mir in einem schauderhaften Gemisch von deutsch-flämisch-französisch; ich war froh, daß ich keine Sprache beherrschte, die sie verstand, und kam dadurch über manche Klippe hinweg. Als sie Besuch von einer Verwandten bekam, einem jungen Mädchen aus Brügge, unangenehm frömmelnd, aber von einer wunderbaren flämischen Schönheit mit Rubensschen Formen und dunklem, vollem Haar, wurde sie eifersüchtig und lag fortwährend auf der Lauer; ich konnte mit dem Fräulein gar nicht sprechen, husch, war sie da, zog mich auf die Seite und sagte: "Gelt, die ist schön. Gelt, die gefällt Ihnen", bis ihr die Tränen in die Augen traten und sie davonlief. Sie war unheimlich, diese unglückliche, liebebedürftige Frau, sie beruhigte sich nicht, und meine Abweisung machte sie nur noch verliebter. Ich konnte es nicht mehr aushalten und zog in eine Pension. —
Jeden freien Augenblick ging ich hinaus an den Strand, um mir diese neue Welt anzusehen, oder ich bummelte auf der Digue, dem Damm, der die Stadt gegen das Meer schützt, an welcher schnurgerade die eleganten Villen der reichen Badegäste stehen.
Hier sah ich einmal den König Leopold II., der auf einem Bein lahmte und an einem Stock ging. Ein Fischerweib schoß plötzlich auf ihn zu und schrie ihm ins Gesicht: "Smeerlapp!" Er verzog keine Miene, ging weiter, als hätte er nichts gehört, und sie rief ihm fortwährend wütend nach: "Smeerlapp, Smeerlapp!" —
Als der Herbst kam und es hier still wurde, bekam der Strand einen andern Reiz: das Meer kam mehr zur Geltung. Seine Stimme wurde lauter, seine Gestalt mächtiger; große ockerfarbige Wogen rollten heran mit scharfgelblichem Gischt und tobten bis über den Steindamm, die leerstehenden Hotels und Villen bedrohend.
Von der Estakade, dem Pfahlbau, der mit einem Ausblick in das Meer hinausgeht, konnte ich stundenlang beobachten, wie das Wasser tobend in wilden Krümmungen um sich schlug und am Damm immer wieder mit Getöse zurückgeworfen wurde. Auch bekommt man um diese Zeit das Volk wieder mehr zu Gesicht. Die Fischer mit Weib und Kind klappern mit ihren Holzschuhen auf dem Steindamm herum und fühlen sich wieder Herr ihrer Stadt.
Feste gibt es am Hafen, auf denen es toll zugeht wie auf altniederländischen Bildern.
Ich sah hier auf der Kirmes ein lustiges, echt flämisches Fischerspiel.
In ziemlicher Höhe war auf zwei Holzböcken ein Mastbaum quergelegt, der fest mit Schmierseife eingesalbt war. Rechts und links waren Segeltücher angebracht, gehalten von den Fäusten der Seeleute; das eine war dick mit weißer Kreide, das andere mit Ruß bestreut. Oben mußte nun ein Mann über den Balken laufen, fiel er herab in die weiße oder schwarze Masse, dann wurde er, wupp, hoch hinauf im großen Bogen auf die andere Seite geworfen, und so ging es eine Weile hin und her, weißschwarz, schwarz-weiß, bis der Geprellte mit einer dicken Kruste überzogen war.
Im Anfang, als der Balken noch sehr rutschig war, flog jeder herab, erst später gelang es einigen, hinüber zu kommen und sich einen Preis zu holen. —
Nun ging es dem Winter zu. Die Häuser am Strand wurden mit Brettern vernagelt, die Stürme fingen an, so stark zu pfeifen, daß man sich oft nicht mehr hinaus an den Strand wagen konnte. Alles war verändert, die heitere, farbige Welt verschwunden und eine traurige, schmutzige Hafenstadt zurückgeblieben.
Da schrieb mir mein Freund, der Norweger, er wolle den Winter in Paris zubringen, ich möge doch auch kommen. Mir gefiel es draußen in der Welt gut, und ich sagte zu. Ende Oktober fuhr ich über die französische Grenze.

Paris  

Paris war damals noch nicht, wie ungefähr zehn Jahre später, das Ziel junger Künstler und eine Etappe in ihrer Ausbildung. Es waren ja vereinzelte Fälle vorgekommen, daß deutsche Maler dort studierten oder, wenn sie schon weiter waren, einige Zeit da lebten, um sich an der Quelle der modernen Kunst zu erfrischen. Fünfzehn Jahre vorher war Wilhelm Leibl dorthin gezogen, etwas später Max Liebermann und Fritz von Uhde und noch einige andere, denen auf der Internationalen Ausstellung in München im Jahre 1869 die Größe der französischen Malerei aufgegangen war. Die Fontainebleauer und vor allem Courbet hatten die Münchner wie ein Donnerschlag aufgerüttelt.
Aber das war schon wieder lange her und ein gesunder Einfluß der französischen Malerei in München nur vereinzelt zu spüren, hauptsächlich in dem Kreise um Wilhelm Leibl. Man hatte sich einige Zeit berauscht, aber die Grundlage jeder französischen Schule, das strengste Naturstudium mit besonderer Betonung der Farbe, lag den Münchnern nicht so sehr, und bald kam die bequeme Theorie, man könne vor der freien Natur kein Bild fertig malen, wieder obenauf. Im Atelier war's gemütlicher als draußen in Wind und Wetter. Rüttelte sich einmal ein Energischer auf und versuchte es draußen, und es gelang das erstemal nicht, dann kam er triumphierend zurück: Es geht wirklich nicht! und die andern waren dann wieder beruhigt. Wenn es bei den Franzosen ging, dann lag es vielleicht am Klima. Ich hatte auf der Ausstellung in München 1881 die ersten französischen Bilder gesehen. Bastien Lepage wirkte hier vor allem als Bahnbrecher. Dieser verschönerte Millet imponierte uns Jungen damals über die Maßen, wir kannten nicht die Großen, aus denen dieser tüchtige Nachahmer das leicht Verständliche gezogen hatte. Vor allem hatte ich damals einen zu unklaren Begriff, nur das eine glaubte ich erfaßt zu haben: die Franzosen können besser malen als wir. Die hervorragenden Münchner Landschafter der vergangenen Epoche waren ja auch hinausgegangen und brachten einen Teil des Sommers auf dem Lande zu, zeichneten und malten Studien, das Bild selbst aber wurde im Atelier fertiggemacht. Die unmittelbare feine Beobachtung der Stimmungen, des Lichts, das schnelle Erfassen der wechselnden Naturbilder und ihre frische, lebendige Übertragung auf die Leinwand mit dem sichern Auge und Geschmack für das Bildliche und Interessante, das war damals etwas Neues, das aus Frankreich kam. Vereinzelte deutsche Künstler hatten Ähnliches angestrebt und manches Bedeutende erreicht, aber so, wie es hier zum Ausdruck kam, mit dieser Wucht und wie das Aufleuchten eines neuen Evangeliums in der Kunst, das war etwas Hinreißendes.
Daß die Farbe unter französischem Einfluß bei uns besser geworden ist, das kann niemand leugnen; es mag für manchen guten deutschen Patrioten bitter sein, das konstatieren zu müssen, aber es bleibt doch wahr. Bleiben wir gute Deutsche und lernen wir, soweit wir es brauchen können; von Freund oder Feind, das ist gleichgültig.
Im Grunde bleiben wir doch wer wir sind, denn niemand kann aus seiner Haut heraus, und das ist gut so. Man braucht sich nur zu erinnern, wie früher, vor dreißig, vierzig Jahren, unsere Ausstellungen aussahen, und mit den heutigen zu vergleichen.
Damals, die Wände entlang, alles braun, "abgeklärt", reine Tonmalerei; die Farben gedämpft, gedrückt, "vornehm", wie man es nannte. Das Dargestellte war wie mit einem leichten Schleier überzogen oder unter mattes Glas gesetzt; nur keine starke Farbe sehen lassen, das ist gemein. Und heute: das meiste frisch, leuchtend, in Farben strahlend. Wie die Natur, wenn man sie ansieht, ohne eine schwarze Brille auf der Nase zu haben.
Das ist ein Fortschritt und das Verdienst der französischen Malerei, und es ist ganz gleichgültig, ob die Franzosen als Nation liebenswert oder zu verachten sind. Hat doch auch der Engländer Constable die Fontainebleauer und damit Courbet, sein Landsmann Turner die Impressionisten und die Spanier Velasquez und Goya Manet und seinen Kreis beeinflußt.
Das ist in der Kunst ein ewiges Geben und Nehmen; hat einer etwas in sich, wird er nie zum Nachahmer werden, sondern bleiben, wer er ist. Man braucht nur an Marées zu erinnern, der ohne die italienischen Renaissancemeister nicht zu denken ist, und an Max Liebermann, der von Frans Hals, Jozef Israels und den Impressionisten gelernt hat und trotzdem Liebermann geblieben ist. — Vor Paris hatte ich etwas Scheu, mein Französisch war noch mangelhaft, und ich dachte an die Revanchestimmung, deren Flammen damals, kurz nach dem Kriege, bei jeder Gelegenheit aufloderten. In den Zeitungen las man immer von Reibereien und Hetzereien, und als Soldat hatte ich immer gehört: es geht bald los. So kam es, daß ich mit einigem Zagen in Frankreich einfuhr, und nur der Gedanke, daß in Paris noch andere deutsche Maler lebten, gab mir Mut und Sicherheit.
Mein erstes Erlebnis auf französischem Boden war nicht dazu angetan, mich zu beruhigen, und verstärkte mein Gefühl: du gehst in Feindesland. Auf einer der ersten Stationen stieg ein Herr ein, der sich mir gegenüber an das Fenster setzte. Er war von aufgeregter Gemütsart, sein blasses Gesicht von einem großen schwarzen Vollbart umrahmt, die Augen flackerten unheimlich in die Landschaft hinaus. Mit einem Male springt er auf, zeigt mit ausgestrecktem Arm durch das offene Fenster auf Gehöfte und Wälder, die in der Ferne aufleuchteten und wieder verschwanden. Im schnellsten Französisch erzählt er mir etwas, sein ganzer Körper ist in Bewegung, er droht, ballt die Hände, legt ein Phantasiegewehr an die Backe, schießt, macht: piff-paff und sieht grimmig zu Boden, wo sein eingebildetes Opfer liegt, das er mit rollenden Augen, triumphierende Töne ausstoßend, anstarrt. Ich dachte erst, er sei vielleicht ein leidenschaftlicher Jäger, der mir seine Jagdabenteuer erzählen wollte, so eine Art französischer Münchhausen, doch plötzlich verstand ich ihn, als er laut aufschrie: "Sales Prussiens, sales cochons!" Vielleicht war er ein ehemaliger Offizier oder Franktireur, der hier auf den Kampfstätten der Nordarmee ein großes Erlebnis gehabt hatte. Ich dachte mir: die Sache wird gefährlich, hier heißt es, vorsichtig sein. Nur keinen Ton von dir geben, das Beste ist, du stellst dich taubstumm. Plötzlich, mitten in seiner Rede stutzt er, sieht mich etwas verdutzt an und wendet sich an die andern Insassen des Abteils, denen er anscheinend etwas über mich sagt, denn alle drehen die Köpfe nach mir. Ich saß still wie eine Statue, und nun ging die Rede des Aufgeregten wie Kleingewehrfeuer auf die andern los.
Ich war herzlich froh, als der unheimliche Mensch bald ausstieg.
Nun ging es ohne weiteres Abenteuer durch die eintönige nordfranzösische Landschaft; vorbei an Städtchen und Landhäusern, die im Grünen liegen, an Flüssen und Kanälen mit ihren breiten, tiefen Kähnen, welche am Ufer schwerstampfende Pferde langsam nach sich ziehen, bis plötzlich die Weltstadt sich anmeldet mit erst vereinzelten geschmacklosen Sommerhäuschen und kleinen Gärten daran, die immer häufiger werden, bis der Zug in das Steinmeer einfährt, in abgehackte Häuserfronten und häßliche Rückseiten der berußten Mietskasernen, an deren Fenstern Lumpen hängen, schmutzige Kinderköpfe und halbangezogene ungekämmte Frauen hervorschauen, aus denen manchmal ein hübsches Antlitz herausleuchtet: das typische Bild der Einfahrt in eine große Stadt; je südlicher und romanischer, desto schmutziger. Dann rasselte der Zug in die Gare du Nord, und ich war in Paris. Nun beginnt die Sorge mit der Sprache, die Sorge, bis man seinen Koffer hat; dem ersten Gepäckträger gleich mit dem Zettel ein Fünfzigcentimesstück; der gibt den Zettel weiter, wieder ein Stück; der gibt ihn wieder einem andern, wieder ein Stück; sie merken bald: ein Provinzler, der gerupft werden muß. Dann kommt schon etwas ruhiger der Eintritt in das Hotel, das Französisch wird besser, meint man. Man verlangt schüchtern ein einfaches Zimmer hoch im obersten Stock.
Ein frecher Kellner tut, als verstände er's nicht, nimmt ein Licht und winkt unverschämt mit dem Finger; oben legt er einen Zettel hin zum Ausfüllen, es muß sofort sein, man ist vielleicht verdächtig.
Ich schreibe ein bei "Pays": Allemagne und bei "Département" rechts gewissenhaft: Saxe.
Da erhellt sich das Gesicht des Kellners, und er sagt im reinsten Sächsisch: "Da sin mir ja Landsleite," worauf ich ihm eine echt sächsische Grobheit zur Antwort gab. — Paris machte die erste Zeit einen so verwirrenden Eindruck auf mich, es war so viel zu sehen: alte Kunst, neue Kunst und Allermodemstes, daß mir's ganz verdreht im Kopf wurde. Der Lärm, das Gewoge und Gebrause der Stadt war nach meinem Idyll in den Nordseedünen ein zu schroffer Gegensatz, und ich war froh, wenn ich still in den Sälen der Galerien sitzen konnte vor den erhabenen Meisterwerken, die mich in andächtige Stimmung versetzten. Zum ersten Male sah ich die klassische französische Kunst, Watteau und Chardin; Millet und Corot; Delacroix, Ingres und Courbet. Wenn ich dann gegen Abend auf der Terrasse eines Cafés der großen Boulevards saß und die Menge vorüberziehen ließ, mit dem schönen Nachklang einer zum ersten Male geschauten großen Kunst, dann war ich in glücklicher Stimmung.
Wie schön ist Paris im Herbst, wenn die breiten Alleen der Boulevards die branstige, warm rotgelbe Farbe annehmen, die eine so feine Note bildet zum grauen Ton der Häuser, dem Schwarz der Männer und den hellen Flecken der Frauenkleider, wozu die scharfen, durchdringenden Tupfer der Firmenschilder und Reklamewagen den nötigen hohen Klang geben.
Man sitzt und schaut. Die Akkorde wechseln mit den Farben, die kommen und verschwinden und wieder von neuem abgelöst werden, nur der Grundton bleibt. Ein Huscher, eine interessante Frauengestalt, eine reizende Linie, ein eigentümlicher Ton entsteht und ist vorüber, ehe man sie recht gesehen. Oft bleibt der Eindruck lange haften und verdichtet sich zu einem Bild, das nie gemalt wird und doch ein großer Genuß ist und zu den vielen stillen Freuden des Künstlers gehört.
Dann kam mein Freund, der Norweger, und wir nahmen zusammen Wohnung im Innern der Stadt und wir gingen zu zweit auf Entdeckungen aus. Einmal kam ich vor der Madeleine vorüber und sah die Auffahrt einer großen Hochzeit. Oft hatte ich im "Figaro" von diesen Pariser Trauungen gelesen, mit den pompösen Namen der Hochzeitsgäste und der genauen Beschreibung der von den Damen getragenen Roben. Ich stieg die breite Treppe hinauf und trat in die Kirche, die noch ziemlich leer war. Ich war im Gesellschaftsanzug und Zylinderhut, denn die deutschen Maler hatten mir geraten: in Paris muß man sich anziehen wie die Pariser. Mit einem Paar gehe ich in den inneren Raum, der für die Gäste reserviert ist, ich merke es erst, als ich schon mittendrin sitze, und denke mir: nun bleibst du. Der gravitätische Suisse hatte mich durchgelassen, weil er mich für einen Geladenen hielt. Es war eine richtige Pariser Hochzeit, die Braut eine hübsche elegante Erscheinung im jugendlichen Alter, der Bräutigam schon etwas bejahrt und ziemlich verlebt. Die Damen und Herren um mich herum begrüßten sich und unterhielten sich leise, alle kannten sie sich; hier und da musterte mich ein neugieriges Auge. Ich blieb still sitzen und versuchte ein Gesicht zu machen, als gehörte ich dazu, wie so eine Art entfernter Verwandter aus Amerika. Die Menge sah ich im Hintergrunde, das ganze Innere der Kirche war leer und nur der reservierte Platz besetzt. Der Suisse hielt mit seinem großen Stab Wache. Vom Chor ertönte jetzt wunderbarer Gesang von berühmten Sängern und Sängerinnen der Großen Oper, wie ich am nächsten Tag im "Figaro" las. Dann war die Trauung. Als diese vorbei war, kam eine schöne junge Dame am Arm ihres Kavaliers und sammelte Almosen in einem hübschen silbergestickten Pompadour. Da flogen die großen Banknoten nur so hinein, das Säckchen war schon ganz voll. Mir wurde bänglich zumute, als die Dame immer näher kam. Meine Nachbarn steckten Scheine hinein, ich nahm verstohlen einen Franken, verdeckte ihn geschickt mit der Hand und ließ ihn hineinsinken. Der Plebejer verschwand sofort und rutschte in die Tiefe, und die reizende Dame dankte mir mit einem freundlichen Kopfnicken.
Nun stand alles auf und bewegte sich mit Wichtigkeit in die Sakristei. Ich sah mich um und wollte mich retten, aber der Weg bis zum Suisse war so weit, ich hatte Angst, er würde mich noch als Unwürdigen erkennen, und so ging ich denn mit. Drinnen war ein großes Geweine und Geküsse, ich suchte verstohlen einen Ausgang und sah endlich im Hintergrunde einen matten Lichtschein; dahin ging ich leise und entdeckte zum Glück eine Tür, durch die ich ins Freie kam. Den nächsten Tag las ich die tönenden Namen der Hochzeitsgesellschaft im "Figaro", meiner war nicht dabei. — Gegenüber der Madeleine befand sich parterre ein Restaurant, wir kamen hier öfter vorüber, und der Norweger sagte einmal: "Gehen wir hinein, das Lokal sieht einfach und solid aus." Drinnen war kein Prunk, die Einrichtung mehr wie ein Wohnzimmer aus der Zeit Napoleons III., an der Wand auf einer gemusterten Tapete nur ein paar Ölbilder aus dieser Epoche. Eine Speisenkarte gab es nicht, der Kellner, der wie der englische Botschafter aussah, sagte mit leiser Stimme die Speisen her und gab diskrete Erklärungen dazu, die Preise erwähnte er nicht.
Wir saßen und ließen es uns wohl sein; das Lokal war leer zu dieser Stunde. Die Küche war ausgezeichnet, und wir konnten uns nicht genug wundern, wie gut man in Paris in solch einfachen Lokalen speist. Zum Schluß wurden wir noch gereizt durch die schönen Schüsseln Dessert, die auf dem Büfett standen, wir ließen uns eine Anzahl bringen und nahmen und kosteten von allen. Auch verschiedene Pakete Zigaretten wünschten wir, und wir rauchten von allen. Zum Schluß, als der englische Botschafter die Rechnung machte, bekamen wir einen großen Schrecken, wir konnten sie kaum zahlen. Jeder Teller Dessert, von dem wir genascht hatten, jedes Paket Zigaretten, von dem wir genommen hatten, wurde mit kalter Miene aufgeschrieben. Als wir gingen, schob ich verstohlen sämtliche Zigaretten ein. Abends hörten wir am Stammtisch der deutschen Maler, daß wir in eines der vornehmsten Pariser Lokale geraten waren. Ich mußte hier oft vorüber; sah ich die Kellner draußen stehen, machte ich einen großen Bogen; ich schämte mich wegen der Zigaretten und dachte mir, es wäre doch vornehmer gewesen, sie liegen zu lassen. — Die deutschen Maler, die damals in Paris lebten, es waren keine zehn, trafen sich hauptsächlich im Restaurant Pilsen an der Großen Oper oder oben auf dem Montmartre, im "Rat mort", einer sehr beliebten und billigen Künstlerkneipe. Einige ältere hatten sich hier vollständig akklimatisiert, sie stellten im Salon aus und verkehrten mit bekannten französischen Künstlern, allerdings nur oberflächlich; zu einem warmen Verhältnis kam es nicht. Der Franzose ehrte und schätzte den Tüchtigen, aber konnte niemals vergessen, daß es ein "Prussien" war, den er im Grunde seines Herzens haßte. Milder beurteilte er die Süddeutschen, namentlich den Bayer, er meinte, diese seien auch Unterdrückte der "Prussiens".
In die Pariser Gesellschaft kam ganz selten einer, sie lebten ganz unter sich und betrachteten das Pariser Leben nur als Zuschauer. Der bekannteste unter den älteren, hier ansässigen Deutschen war Gotthard Kühl, der sich schon einen gewissen Namen gemacht hatte. Er war früher in München gewesen, hatte die Diezschule besucht, ganz in deren Geist kleine pikante Bilder gemalt, bis er, von der modernen Malerei angezogen, ganz nach Paris übergesiedelt war. Er kam dann noch oft nach München, wo er von seinen alten Kameraden, den Diezschülern, zur Strafe für sein Renegatentum "Kühl de Paris" genannt wurde, in Anlehnung an den "Cul de Paris", dem Kissen, das in der damaligen Mode von den Damen zur Abrundung ihrer Rückenlinie benutzt wurde. Ich hatte einmal Gelegenheit, einen echten Pariser Salon in Wirklichkeit zu sehen, wir kannten ihn alle nur aus dem Theater, wo er uns in den Sittenstücken von Dumas fils und Sardou bis zum Überdruß vorgespielt worden war. Ein französischer Schriftsteller, Grand-Carteret, ein großer Verehrer der deutschen Karikatur, hatte über diese ein Werk geschrieben und war dadurch bei seinen Studien, die er in München machte, mit mir in Berührung gekommen. Ich machte ihm hier meinen Gegenbesuch, und er lud mich zu einer Soiree ein. Ich ließ mir dafür einen Pariser Frackanzug machen, Gotthard Kühl inspizierte mich, ob alles in Ordnung sei.
An der Tür des Empfangssalons stand ein Suisse, so wie kürzlich in der "Madeleine", pomphaft mit einem Stab in der Hand. Bei meinem Erscheinen fragte er mich um meinen Namen und rief dann so etwas Ähnliches in den Salon hinein. Drinnen saßen die Damen am Kamin, die Herren standen um sie herum und machten Konversation. Die Dame des Hauses kam und begrüßte mich, dann setzte sie sich wieder und überließ mich meinem Schicksal. Dann konnte ich bemerken, daß sie mit ihrer Umgebung über die Deutschen sprach, über das Heer, die Offiziere, in sympathischer Weise; ich sah, wie ihr die andern zustimmten und mich betrachteten.
Ein liebenswürdiger älterer Herr nahm sich meiner an und sprach in gutem Deutsch mit mir über deutsche und französische Kunst; wer und was er war, wußte ich nicht; es hieß hier nur Monsieur, Madame und Mademoiselle. Als er gegangen war, sagte mir die Dame des Hauses auf meine Frage: Es war Monsieur Dubois, Directeur im Ministerium des Auswärtigen.
Ich dachte an unsere deutsche Titelsucht, wie sie unsern Verkehr umständlich und unfrei macht. — Großen Eindruck machte damals eine neue Wochenschrift: "Le courrier francais", die einige junge, bedeutende Zeichner an das Licht brachte.
Da war vor allem Forain, den der Herausgeber Jules Roques aus dem Elend heraufgeholt hatte.
Er hatte das Leben vieler armer Teufel geführt, die nachts unter den Seinebrücken schlafen und den Anarchisten in die Arme fallen. Dieser hier trat als Anarchist des Stiftes auf, er geißelte die Sitten der Reichen, der Satten, der Zufriedenen, mit einem Können, das ihn bald zum berühmtesten Zeichner von Paris machte. Er war ein Gemisch von Daumier und Degas und hatte seine eigene ätzende Schärfe dazugegeben. Merkwürdig, später wurde aus diesem Anarchisten, der aus dem niedern Volk emporstieg, ein Reaktionär. Als er die Haute volée, die Lebewelt genügend ausgepeitscht hatte, machte er sich an die Regierenden, die Republikaner.
Er wurde die Waffe der Royalisten und Nationalisten und fühlte sich selbst nur in aristokratischen Kreisen wohl. — Caran d'Ache zeichnete für andere Blätter, gehörte aber zu diesem Kreise. Forain war ausgesprochener Satiriker, er, der echte Humorist, wie man sie in Frankreich selten findet; seine Zeichnungen muteten fast deutsch an, war er doch auch von Busch und Oberländer beeinflußt. Villette vom "Courrier Francais" war vor allem Pariser vom Montmartre, leicht und graziös, mit einem Schuß Achtzehntes Jahrhundert. Auch er war Nationalist und Antirepublikaner. Alle drei gehörten der Opposition an, wohin nach dem natürlichen Gesetz der politische Karikaturist gehört, aber diese hier waren am stärksten in ihren unpolitischen Zeichnungen. Auch ihr großer Vorgänger Daumier war Gegner der Regierung gewesen, aber nun hatte sich das Blatt gewendet und die Regierungsform war eine andere geworden. Was er verteidigt hatte, griffen sie an.
Der "Courrier francais" wurde das Muster des modernen Witzblattes und hatte viele Nachfolger. Hier oben im "Rat mort" konnte man den ganzen "Courrier" sitzen sehen, Jules Roques mit seinen jungen berühmten Zeichnern.
Hier im alten Künstlerviertel suchten wir auch die süße Künstlerromantik, wie sie Murger in "Vie de bohème", Gavarni in seinen Lithographien und viele andere so reizend geschildert haben. Wir konnten sie nicht finden, diese hübschen Grisetten voller Anmut und Liebenswürdigkeit, sie waren verschwunden oder wir sahen sie nicht, vielleicht saßen sie noch irgendwo in den Winkeln von Paris, in Dachkammern und Atelierlöchern oben im siebenten Stock bei ihren Künstlerfreunden.
Ihre Genossinnen, die hier im "Rat mort", "Chat noir" und Umgebung sich bis in die Nacht hinein tummelten, waren meist gar nicht so anziehend. — Im naßkalten, nebligen Winter kam eine gedrückte Stimmung über Paris: die Cholera erschien.
Mein Freund, der Norweger, war ängstlich, es gefiel ihm nicht mehr in Paris. Er schlug vor, wir sollten nach Berlin fahren und erst zurückkehren, wenn die Epidemie erloschen war. Wir beide waren große Menzelverehrer, er schon mehr Menzelanbeter, dieser Meister ging ihm über alles, und er überredete mich: "Wo Menzel lebt, kann es nicht uninteressant sein."
Die Idee, eine Malschule zu besuchen, mußte ich doch vorläufig aufgeben, da mich mein Knieleiden immer noch am langen Stehen hinderte. Ich hatte von den Besitzern der "Gartenlaube", den Gebrüdern Kröner, eine Empfehlung mitbekommen an Dr. Max Nordau, den bekannten Verfasser der "Konventionellen Lügen", der von Beruf Arzt war. Als er sah, daß ich am Stock ging, erkundigte er sich und erbot sich in liebenswürdiger Weise, mich zu untersuchen und zu behandeln. Er fand meine Krankheit gefährlich, sie sei chronisch geworden, es sei wahrscheinlich, daß das Bein abgenommen werden müsse. Er hat nicht recht behalten, denn später wurde ich ganz von selbst geheilt, als ich alles tat, was mir die Ärzte verboten. Ich fuhr auf dem Rad, was das Allergefährlichste sein sollte, und wurde vollständig gesund. Aber damals bekam ich Angst und dachte mir, in Berlin gibt es gute Ärzte, und entschloß mich zur Mitfahrt.

Berlin  

Unterwegs kam mir schon die Reue: wie würde Berlin auf mich jetzt wirken, wo ich die Augen voll Paris hatte; dieses Berlin in seiner schlimmsten Epoche nach dem Kriege und der Gründerzeit mit seiner Stillosigkeit, seinem aufgedonnerten Parvenügeschmack, der sich überall breit machte. Ich liebte es nicht, dieses neue Berlin.
Mein Freund sagte: "Paß mal auf, es wird gar kein so großer Unterschied sein, modernes Leben hast du dort ebensogut wie in Paris, und dann ist ja Menzel da." Als wir gleich bei der Ankunft am Bahnhof eine Reihe Droschken zweiter Klasse erblickten, diese plumpen Kasten, angemalt mit den barbarischsten Farben, rief ich laut: "Da, schau hin, ist das nicht entsetzlich?" "Ja, du hast recht, das hätte ich nicht gedacht. Aber sieh die Kutscher an, wie nett sie sind in ihren großen blauen Mänteln und den hohen Pelzmützen mit den roten Zipfeln, die oben heraushängen; sehen die nicht aus wie ehemalige Zietenhusaren? Sind die nicht schön? Haben die nicht Stil?" "Sieh doch so eine Droschke an: blauer Kasten, rote Tür, gelbe Räder und die nächste grüner Kasten, gelbe Tür, rote Räder; die nächste wieder andere Farben und so fort in allen Variationen; ich kann's nicht mit ansehen, ich werde verrückt, ich muß wieder abreisen!" Ich blieb doch da, und nun ging es in unser "Hotel Magdeburg" in der Mohrenstraße, einen Gasthof aus alter Zeit, wie es damals noch viele in Berlin gab. Eine große Einfahrt mit der Portierloge an der Seite, ein Hof mit einer Stellage für die Briefe, die ankamen, rechts und links zwei große Treppen, die eine führte in einen schönen Speisesaal, die andere hinauf in die Zimmer. Alles praktisch, ein wenig nüchtern, im Geschmack von 1850, bequem und behaglich. Es gefiel uns besser als die neuen Gasthöfe mit ihrer Talmieleganz.
Der Portier war ein liebenswürdiges Original und von einer altmodischen Höflichkeit; wenn man ihn fragte, ob keine Briefe da wären, lief er hin und her: "Nein, es sind keine da, aber es werden schon welche kommen." Die Hotelgäste, meist alte treue Kundschaft, Reichs- und Landtagsabgeordnete aus der Provinz, die oft den Besuch ihrer Familien erhielten, knorrige, aber gemütliche Landjunker, mit erzkonservativen Anschauungen, mit denen ich infolge meiner moderneren Lebensauffassung oft heitere Kontroversen hatte. Sie hatten keine Ahnung von Kunst, wollten aber auch nicht snobistisch Interesse dafür vorspiegeln.
Zur Table d'hôte um drei Uhr kamen aus dem benachbarten Kriegsministerium, Generalstab und Auswärtigen Amt Offiziere und Beamte, liebenswürdige Herren, denen ich durch meine Zeichnungen aus ihrer Welt nähergekommen war, die mich aber doch immer etwas mißtrauisch betrachteten, ob sie am Ende nicht doch einmal in die "Fliegenden Blätter" kommen würden. Sie alle hatten kein Verhältnis zur Kunst, nur der Wirt, nebenbei Reserveoffizier bei den Gardedragonern, der bei Tisch mitten unter uns saß, sagte: "Ich bin für die moderne Kunst, ich interessiere mich sehr für Nuditäten." Durch die Mohrenstraße schnitt die Friedrichstraße und ging bis zu den "Linden". Hier war das Zentrum des großstädtischen Verkehrs und viel zu sehen und zu beobachten. In diesem Bereich gab es altberliner Weinstuben, ganz im Charakter unseres Hotels, einfach, wie gute Stuben aus der Biedermeierzeit mit bürgerlicher Behaglichkeit, wie in Paris unser Restaurant an der Madeleinekirche, nur nicht so kostspielig.
Hier in der Nähe war das Weinlokal von Hausmann, ein einfaches großes Zimmer, wo es guten Landwein gab, in dem wöchentlich einmal die Mitarbeiter des "Kladderadatsch" zusammenkamen, in deren lebhaften, witzigen Kreis ich manchmal kam.
Auch wurde ich in die Gesellschaft der Mitarbeiter des Berliner Tagblattes eingeführt. Hier saß ein bescheidener junger Mann mit Namen Hermann Sudermann, der Artikel über alles mögliche für die Zeitung schrieb und mehr so nebenher kleine Novellen für die belletristische Beilage verfaßt hatte. Er hatte den Wunsch, diese Stimmungsbilder aus der Berliner Gesellschaft unter dem Titel "Im Zwielicht" herauszugeben, und meinte, ich fände vielleicht einen Verleger, der sie mit Illustrationen von mir herausgeben würde. Ich bot sie Karl Krabbe in Stuttgart an und empfahl sie als sehr dankbar zum Zeichnen, er lehnte sie aber ab. Später schlug er sich an den Kopf und sagte: Was war ich für ein Esel. Sudermann hatte sich an französischen Schriftstellern gebildet, diese kleinen Sachen waren in ihrer leichten graziösen Art geschrieben, die damals in Deutschland noch wenig bekannt war. Es dauerte nicht lange, da kam Maupassant mit seinem scharfen Natursehen und seiner treffenden Menschencharakteristik in kurzer, künstlerisch hervorragender Form und beeinflußte viele junge Schriftsteller. Von Sudermann hörte ich einige Jahre nichts mehr, bis plötzlich sein Schauspiel "Die Ehre" erschien, das ihn mit einem Schlag in aller Welt bekannt machte. Das künstlerische Leben Berlins bewegte sich damals noch in recht ruhigen Bahnen.
Die Künstler waren liebenswürdige Menschen, aber in ihren Werken meist recht uninteressant. Wenn in München der Durchschnitt doch einen gewissen Geschmack hatte, der die alte Kultur dieser Kunststadt nicht verleugnete, war hier alles recht nüchtern und langweilig. Die aufstrebende Großstadt hatte ihren Charakter noch nicht der Kunst eingeprägt, die noch recht kleinstädtisch, provinzlerisch erschien. Nur Menzel ragte heraus, ein Riese; er verdunkelte alles um sich.
Wenn man hier an Kunst dachte, kam einem sofort der Gedanke an ihn, er beherrschte die ganze Künstlerwelt, und das dritte Wort war hier: Menzel! Man hatte das Gefühl: wenn hier Menzel verschwindet, bleibt nicht viel übrig. Sein Einfluß war stark, aber er wirkte doch nur oberflächlich. Man machte ihn nach im Äußerlichen, malte friederizianische* Kostümbilder und imitierte den prachtvollen Strich seiner Zeichnungen. Was bei ihm Temperament, Leben war, wurde bei seinen Nachahmern trockene Arbeit. Auch die offizielle, speziell preußische Beamtenkunst, mit Anton von Werner an der Spitze, bemühte sich vergebens, ihren großen Schinken Menzelschen Geist einzublasen. Er selbst, der Meister, hatte eine Vorliebe für ganz ausgeführte Zeichnungen und Bilder und lobte solche, aber was er sich leisten konnte, diese bis ins Kleinste und Nebensächlichste herausgeholte Detailarbeit, die bei ihm immer noch packend von Lebendigkeit blieb, wurde für die andern eine tote Quälerei.
Es hieß, er sei gegen die moderne Kunst, sie wäre nicht ausgeführt genug. Das war ein Signal für die Masse der Kleinen, alles Neue abzulehnen. So hat es in Berlin recht lange gedauert, bis der frische Zug, der durch die Kunst ging, hier wirken konnte. Max Liebermann hat es erfahren müssen, jahrelang wurde er angegriffen und fand hier lange noch keine Anerkennung, als er draußen schon längst nach seinem Wert eingeschätzt war. Der alte Kaiser hatte sich nicht um Kunst gekümmert, aber als der junge kam und in seiner schroffen Weise gegen alles auftrat, was er nicht verstand, wurde der Widerstand noch größer.
Aber schließlich konnte dieser Damm nicht die Sturmflut aufhalten, die mit Riesengewalt dagegen anschlug, er stürzte ganz jämmerlich zusammen. Wenn man damals mit Künstlern über die junge Kunst sprach, dann hieß es gewöhnlich: Aber Menzel ist doch besser. Auch das Publikum nahm Interesse an seinem großen Meister. Ich saß einmal vor dem Café Kranzler Unter den Linden, als Menzel vorüberkam; am Nebentisch sagte ein Berliner zu seinem Nachbar: "Guck' mal da, der Kleene, der kriegt 30 000 Mark für een Bild." -
Berlin gewann sehr bei näherer Bekanntschaft. Es herrschte eine gewisse Behaglichkeit und Gemütlichkeit, die alten eingesessenen Familien hatten etwas Solides und Zuverlässiges, auch waren sie sehr gastfrei.
Die Berlinerin war frisch, intelligent, mit starkem Sinn für das Praktische, der Altberliner sehr drollig mit seinem trockenen Humor. Hier galt die Parole: leben und leben lassen.
Charakteristisch für die damalige Zeit war das Konzerthaus Bilse, wo man für wenig Geld gute Musik hören konnte. Da saßen die kleinbürgerlichen Familien an ihren Tischen, Mutter und Tochter häkelten und strickten in den Pausen, wenn aber der alte Bilse auf sein Podium stieg und mit seinem Dirigentenstab auf das Notenpult klopfte, dann wurde das ganze Lokal mäuschenstill und lauschte mit Andacht, bis das Musikstück zu Ende war.
Und alles das ging nicht wie in München mit einer Maß Bier nach der andern, sondern wie zu Hause im Familienkreis, mit Kaffee und Kuchen. — Ich suchte Max Liebermann auf, er malte an einem schönen Bild: Begegnung zweier holländischer Frauen auf der Landstraße, die eine führt eine schwarzweiß geneckte Kuh an der Leine.
Er empfing mich auf seine eigene Art an der Tür: "Hä, wat wollen Sie denn in Berlin?" Er hing noch sehr an München, schimpfte über Berlin und konnte München nicht genug loben, seinen Geschmack, der aus jedem Schaufenster heraussah; damit solle man einmal Berlin vergleichen, und es wäre demnach nicht zu verstehen, wie es einen Künstler hierherziehen könnte. Er hatte zu sehr unter dem Unverstand zu leiden, der auch hier, in seiner Vaterstadt, seiner Kunst entgegengebracht wurde. Der Verkehr mit diesem geistvollen, anregenden Künstler war für mich sehr wertvoll, sein feines Verständnis für alles Gute in der Kunst war gar nicht einseitig, er war einer der tolerantesten Künstler, die ich gekannt habe. "Die Richtung ist ganz gleich", sagte er immer, "die Hauptsache ist das Talent."
Seine Gattin war eine liebenswürdige Dame, in deren Haus interessante und bedeutende Menschen verkehrten. Liebermann besaß eine schöne Kunstsammlung und war ein hervorragender Kenner altchinesischer und altjapanischer Kunst, von welcher er ganze Schätze besaß; wir gingen oft zusammen in der Stadt herum auf der Suche nach alten schönen Stücken.
Auch junge Begabte suchte er, und wo er sie fand, zog er sie zu sich heran und suchte ihnen zu nützen; wenn er auch an sich dachte, so vergaß er doch die andern nicht, was man nicht von allen bedeutenden Künstlern sagen kann. Dann lebte damals noch ein Künstler, den ich in meiner Jugend schwärmerisch verehrte: Ludwig Knaus. Es hielt mich nicht, ich mußte zu ihm gehen und ihm meine Verehrung ausdrücken. Er bewohnte ein Haus im Tiergartenviertel. Ein kleiner liebenswürdiger alter Herr empfing mich sehr freundlich, führte mich in sein Atelier und zeigte mir seine letzten Arbeiten, die mir gar nicht gefielen; es waren recht süßliche, glatte Genrebilder und Porträts, die nicht entfernt an seine älteren berühmten Werke heranreichten. Mit meinem Freund, dem Norweger, hatte ich ein Atelier gemietet, hoch oben im vierten Stock in einem Hinterhause, dem Vorderhause zu lag ein großer Hof. Knaus machte mir hier seinen Gegenbesuch, er kam atemlos in unsere Höhe, besah sich meine Arbeiten, wünschte mir Glück und alles Gute, und ich sah ihn nicht mehr. Wenn man seine Ideale, namentlich der Jugendzeit, persönlich vor sich sieht, wirken sie doch meist etwas ernüchternd. Die Wirklichkeit gibt nie, was man erträumt hat. Zu Menzel wäre ich gar zu gern gegangen, getraute mich aber nicht, auch der Norweger seufzte nach ihm. Er ging öfter in das Restaurant Frederich in der Potsdamer Straße, wo Menzel jeden Abend allein speiste, setzte sich an den Nebentisch und betrachtete sein Idol. Es hieß, Menzel sei sehr unfreundlich, auch gegen Künstler, und fertige sie meist unwillig schon an der Tür ab. Erzählte man sich doch in München, daß er den schon sehr bekannten und geachteten Fritz von Uhde recht "katzendreckerig" empfangen hatte. Dieser hatte seine Visitenkarte abgegeben:
Fritz von Uhde, Rittmeister a. D., die Menzel auffallend in der Hand hielt und fortwährend beguckte. "Herr Rittmeister" ging es hin und her, und schließlich fragte er den sehr verblüfften Kollegen noch über militärische Dinge, als ob er gar nicht wüßte, daß Uhde jetzt Bilder malte. Das könnte gut werden, dachte ich mir, wenn er meinen Namen hört, kanzelt er mich sofort wegen meiner liederlichen Arbeit ab, und ich ließ meinen heißen Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Später hörte ich einmal von einem älteren Maler, daß sich Menzel über eine Zeichnung von mir lobend geäußert hatte; da empfand ich doch etwas Kummer, daß ich es damals nicht gewagt hatte, dem großen Künstler unter die Augen zu treten.
Auch erfuhr ich später, daß er nicht immer so unfreundlich gegen Künstler war. Otto Greiner erzählte, daß er als junger Mensch einen verzweifelten Brief an Menzel schrieb, als er in schlimmer Lage sich mit Lithographieren durchschlagen mußte, worauf er eine wundervolle Antwort erhielt, lang und herzlich, worin ihn der Meister tröstete, und er solle nicht meinen, daß eine solche Arbeit entwürdigt, man könnte in jede Betätigung etwas Künstlerisches hineinlegen, wenn man nur Künstler sei, und das schade auch nicht, solche scheinbar niedrige Arbeiten zu verrichten, im Gegenteil, es stähle den Charakter und wäre gut für die spätere Entwicklung. Auf Greiners jugendliche Verehrungsbeteuerung ließ er einen schönen Wasserstrahl herab; er solle sich ja nicht an einen einzigen Meister hängen, das sei nicht gut, sondern überall hinschauen, wo es etwas zu lernen gibt. — Auch einen Kollegen vom "Schalk" her lernte ich kennen, Franz Scarbina, einen, den es vorwärts trieb, und der zu den tüchtigsten jüngeren Künstlern Berlins gehörte. Er hatte sich auch an Menzel gebildet und folgte dem Meister bis in die kleinsten Eigentümlichkeiten seiner verschiedenen Techniken, die er getreu nachahmte, so daß er schwer wieder loskommen konnte. Er mochte sich noch so sehr anstrengen, etwas anderes zu machen, er blieb doch immer wieder an Menzel hängen, ein Beispiel von dem verderblichen Einfluß eines Meisters, der sklavisch und als einziges Vorbild nachgeahmt wird. Ein anderer Mitarbeiter des "Schalk", selbständiger als Scarbina, war 0. Wisnieski, einer der besten Zeichner des damaligen Berlin, dessen Beiträge mir von allen fast am besten gefielen. Seine Bilder aus dem Berliner Volksleben, namentlich auf der Straße, waren echt, geschmackvoll und in einer feinen, originellen Federtechnik ausgeführt. Ich habe mich immer gewundert, daß dieser Künstler so wenig beachtet wurde.
Dann traf ich hier Stauffer-Bern, den ich von München her kannte. Ich hatte ihn dort das letzte Mal gesehen, als er mit uns in einer Wirtschaft in der Nähe des Rathauses saß, uns dann verließ und zehn Minuten später mit einem blutenden Arm zurückkehrte.
Er war draußen in eine Rauferei mit Münchner Vorstädtern geraten und dabei durch einen Messerstich verwundet worden. Man sagte und schrieb so viel von ihm, er sei eine Renaissancenatur gewesen, solche Streiche muteten schon damals ein wenig an wie Benvenuto Cellini, und sein Schicksal hat ihn auf solchem Wege weitergeführt, bis er in Italien ein tragisches Ende genommen hat.
Von Natur ein heißer, leidenschaftlicher Mensch, der das Höchste erstrebte, war er in seinen Arbeiten von einer peinlichen, fast trockenen Formenstrenge, die wirklich nichts Geniales an sich hatte; ihm fehlte die Überlegenheit des Hochbegabten. Er hat einige sehr schöne Stichelarbeiten gemacht; als er sich dann mit der Malerei zu sehr quälen mußte, fing er das Bildhauen an und brachte es zu einem Adoranten ohne Arme, der ganz nach der Antike gebildet war. Dann kamen noch einige Münchner Kameraden, die sich hier festsetzen wollten; München war ihnen zu öde und langweilig geworden, gar zu geisttötend; sie wollten es in dem großen neuen Berlin versuchen, wo das gewaltige Leben der Großstadt auch den Künstler anregt und mit fortreißt. Zuerst waren sie ganz begeistert, aber bald bekamen sie doch Heimweh nach München, der eine konnte das Berliner Klima nicht vertragen, es war zu weich, seine Nerven brauchten starke Luft, und der andere klagte, er könne nicht leben, ohne hier und da die Spitzen der Alpen zu sehen. So gaben sie nach einigen Monaten wieder ihr Atelier auf und fuhren zufrieden nach München zurück.
In das Elend der Großstadt konnte ich einmal einen Blick werfen, als ich in der Zeitung einen Mann zum Modell suchte. Ich hatte die Annonce nicht klar genug abgefaßt und geschrieben: zu melden Mittag 12 Uhr. Vor der angesagten Stunde höre ich vom Hof herauf ein starkes Gemurmel, ich gehe zum Fenster und sehe mit Schrecken unten eine schwarze Menschenmasse stehen, die immer dichter wurde und zu einem förmlichen Auflauf anschwoll. Die Bewohner der Vorderhäuser lagen in den Fenstern und schauten und konnten nicht verstehen, was diese Menschenmenge hier wollte. Ich hatte alle Stellenlosen des Viertels angelockt, alle möglichen Großstadttypen waren dabei, aus allen Lebenslagen, vom besser gekleideten Arbeitsuchenden bis zum armen Teufel, den der Hunger quält und der in seinen Lumpen friert; alle sahen hoffnungsvoll zu unserem Atelierfenster hinauf und warteten auf den Schlag zwölf, um den Sturm auf uns beginnen zu können. Ich hatte viel Mühe, mit Hilfe des Hausmeisters die armen Menschen weiter zu bringen. —
Ich war noch nicht lange in Berlin, da erhielt ich von der Redaktion der "Gartenlaube" den Auftrag, eine Anzahl Bilder aus dem Berliner Leben zu zeichnen, dabei ein doppelseitiges Gouache: Nachtleben im Café Bauer Unter den Linden.
Ich setzte mich mit meinem Arbeitszeug mitten in das Lokal und malte, mein Freund, der Norweger, saß neben mir, um die Neugierigen abzuwehren. Wenn ich ging, ließ ich das Bild von der Büfettdame verwahren.
Nach einigen Tagen, als die Figuren schon deutlicher hervortraten, gab mir das Fräulein das Bild zurück und sagte schnippisch: "Unser Herr hat es angesehen, er verbietet Ihnen, hier zu zeichnen. In seinem Lokal verkehren nicht solche Frauenzimmer, wie Sie hingemalt haben." Das war ein Schlag für mich; die Empfindlichkeit des Herrn fand ich sehr lächerlich, da ich die Damen, die in seinem Lokal verkehrten, eher idealisiert und so anständig gezeichnet hatte, wie es sich für ein Blatt wie die "Gartenlaube" geziemt; sie waren vielleicht eleganter als die Berlinerinnen, und das hatte er mißverstanden. "Siehst du", sagte ich zu meinem Freund, der auch ganz bestürzt war, "das ist Berlin!" — Damals wurde die Berliner Illustrierte Zeitung gegründet, die in flotter, künstlerischer Weise das moderne Leben schildern sollte. Der Herausgeber ersuchte mich, für einen Roman aus dem neuen Berlin von H. Lubliner "Die Gläubiger des Glücks" große Illustrationen zu zeichnen. Ich nahm den Auftrag an, er war interessant und führte mich in malerische Stätten der Großstadt, das Asyl für Obdachlose, die Kaschemmen und Verbrecherhöhlen, die Animiersalons und Winkelkneipen und Cafés, wo niedrigste Dirnen verkehrten, bis hinauf in den Salon von Berlin W. Ich malte die Illustrationen in breiter, wirkungsvoller Gouachetechnik, die für mich damals noch etwas Neues war. Meine bekannten Kollegen mußten mir Modell stehen, der Norweger als Held des Romans, der Bildhauer Tuaillon als Künstler, und alle, die ich brauchen konnte. Als Heldin ein schönes, junges Fräulein aus einer Familie Alt-Berlins.
Die Kunst führte uns zusammen. Sie war groß, schlank, ihre Haltung von einer eigenen Noblesse.
Ich zeichnete sie, zeichnete sie wieder, und so fanden wir uns.
Wir hatten etwas Gemeinsames in unserm Schicksal, in unserer hart verlebten Jugend. Sie war wie geschaffen für mich und wurde meine Frau und mein treuer Kamerad fürs Leben. Ihre Güte, ihren Humor muß ich preisen, ihren Ordnungssinn, der mich in ein geregeltes Leben führte, ihren Geschmack, der mir für meine Kunst so wertvoll wurde. Wenn ich heute irgendeinen Band der "Fliegenden Blätter" aufschlage, da finde ich sie, sie war mein Modell zu der eleganten Dame, ich erkenne sie wieder an der ihr eigenen anmutigen Linie, dort in dem komischen Dienstmädchen steckt ihr Humor.
Sie hatte das Talent, sich in das Charakteristische der Frauenfiguren hineinzudenken, die ich zeichnen mußte, ja sogar Herren konnte sie mimen, wenn ich in Not darum war. Wie haben wir da manchmal gelacht, wenn sie sich mühsam ein Einglas ins Auge steckte und mir einen Leutnant vormachte. Auch als Kritiker fungierte sie. Wie wichtig ist es für einen Illustrator, der seine Zeichnungen schnell hinausgeben muß, leicht das Urteil verliert, ein frisches Auge neben sich zu haben, das sofort einen Fehler sieht, den man selbst erst zu spät entdeckt, gedrückt im Blatt, wenn es nicht mehr gut zu machen ist. Sie war streng; wenn ich eine Zeichnung schnell erledigen wollte, sagte sie: "Hermann, nimmst du kein Modell?" Dabei führte sie unsere Häuslichkeit so, daß sie als Muster galt, wie die Intendantur des Künstlers, für die ich kein Verständnis besaß.
Das damalige Berlin konnte mich, da ich noch in der Entwicklung war, auf die Dauer nicht fesseln. Wir beschlossen daher, im Herbst nach Paris überzusiedeln. Ich war nun so weit hergestellt, daß ich eine Malschule besuchen konnte.

Ecole Julian  

Wir zogen in das Künstlerviertel am Montmartre, in die Rue Pigalle; unsere Pension lag im Hof, hinten hinaus sah ich in die großen Fenster einer Farbenfabrik, wo auf Glasplatten Malerfarben gerieben wurden, die mich fortwährend zur Malerei anregten und mich traurig stimmten, wenn ich tagelang am Zeichenbrett sitzen mußte.
Ein Stück die Straße hinauf war das Bohèmerestaurant "Rat mort", in allen Nebenstraßen Ateliers und Künstlerkneipen. In den Straßen arme Künstler, deren krankhaft gereizter Gesichtsausdruck Not und innere Kämpfe verraten, jugendliche mit sorglosem Habitus: der Ruhm wird schon kommen. Dann die "Arrivés", bekannte Meister mit dem roten Bändchen oder der Offiziersrosette der Ehrenlegion, die von den Jungen: "Cher maître" genannt werden und in Begleitung einer schönen, jungen Dame morgens in ihr Atelier gehen mit der Wichtigkeit in Miene und Haltung, am großen Werk zu schaffen, das ihrer dort harrt. Und dann kommt ein Großer, der einfach ohne pomphafte Pose daherschreitet, daß man sich fragt: Ist es möglich, ist er das wirklich?
Hier saßen auch die paar deutschen Maler, die in Paris Fuß gefaßt hatten, sie hatten sich's recht schwer gemacht. Wie erstaunte ich, als mir einer davon all die Schliche, all die Finten verriet, die man anwenden mußte, um hier als Ausländer hochzukommen.
Ich hatte mir das ganz einfach gedacht: Man malt gute Bilder und die Sache ist erledigt.
So einfach war das aber nicht. Man mußte die Kollegen, die in den Jurys der Ausstellungen saßen, besuchen, den bekannten Schriftstellern und Journalisten, die in den Zeitungen und Katalogen über die heutige Kunst schrieben, schön tun und die Gnade der ganz Einflußreichen zu erringen suchen. Das Bildermalen war fast Nebensache. Aber auch da waren gewisse Regeln zu beachten, um im Salon aufgenommen und gut placiert zu werden. Man durfte modern sein, aber nur maßvoll, und das Alte nicht verletzen, welches soundso viele Stimmen der Jury repräsentierte. "Ja, aber die Millet, die Courbet und alle die Großen, haben die das auch getan?" fragte ich meinen Führer. "Nein, aber die haben es bei Lebzeiten auch zu nichts gebracht."
Das war also das große Paris, von dem ich geträumt hatte, und das die reine Kunst, die ich mir vorstellte, wie sie stolz daherschreitet und alles Schwindelhafte zu Boden tritt. Und die armen Deutschen, wie mußten sie mit der mangelhaften Geographie der Franzosen rechnen, wenn sie ihre gute deutsche Vaterstadt nach Österreich verlegten, wie es einer tat, der im Salonkatalog schrieb: né à Danzig, Autriche. Und wie diplomatisch war mein Mentor, der in Lübeck für den "Salon" ein großes Bild gemalt hatte: Frauen, die eine blauweißrote Fahne nähen. Als ich das Bild später auf einer Münchner Ausstellung wiedersah, waren die Farben in schwarz weißrot verwandelt; ich traute meinen Augen nicht. Doch war das Auftreten der Deutschen im allgemeinen anständig, und nur einige Schwächlinge vergaßen ihre Würde. Am verzeihlichsten war es noch in den Malschulen, wenn ein Deutscher seine Nationalität verbarg, denn da herrschte in der Regel ein recht kindischer Ton, und es war nicht angenehm, dumme Sticheleien mit anzuhören, wenn man arbeiten wollte.
Den Franzosen imponierte es natürlich viel mehr, wenn man sie sogleich höflich merken ließ, woher man kam, und dieses Prinzip haben wir, meine Frau und ich, immer durchgeführt. Unsere Pension war ganz international. Wir hatten eine schöne Amerikanerin bei uns, die einen ganzen Schweif Anbeter nach sich zog. Einer davon, ein junger, hübscher Vicomte, stand mir manchmal für meine Elegants Modell, er schwärmte viel von den berühmten Schauspielerinnen, die er persönlich kannte, namentlich von der Sarah Bernhardt, für die er Feuer und Flamme war. Als wir uns "Fedora" von Sardou mit der Bernhardt ansehen wollten, sagte er: "Beobachten Sie recht genau den Mann der Fedora, der im ersten Akt auf einer Bahre auf die Szene getragen wird, das wird für Sie sehr interessant sein." Auf meine Frage, weshalb, sagte er nur: "Sie werden schon sehen." Neugierig gemacht, strengten wir uns im Theater an und sahen genau hin. Fedora steht in großer Toilette allein auf der Bühne und erwartet ihren Gatten, der sie in eine Gesellschaft führen soll.
Eine Bahre wird hereingebracht, darauf liegt der von ihrem Liebhaber im Duell erschossene Mann. Fedora wirft sich voll Reue und Verzweiflung über den durch ihre Schuld Getöteten, küßt ihn in einem fort heftig und bittet um Verzeihung.
Das dauerte ziemlich lange, und wir konnten zuerst nichts Deutliches sehen, erst als Fedora ganz gebrochen langsam aufstand, erschien bestimmt und scharf das Profil des Toten gegen den hellen Hintergrund, und wir erkannten ihn sofort, das war unser Vicomte. Wir trafen ihn nach dem Theater, und er war sehr glücklich, daß ihn heute die Wahl der "göttlichen Sarah" getroffen hatte, diese stumme Rolle zu spielen, die von ihren Verehrern so sehr begehrt war. —
Einmal kamen wir nachts zu später Stunde nach Hause. Vor dem Eingang in unser Haus war ein kleiner Anbau mit der Conciergeloge. Über dem Haustor brannte eine trübe Laterne. Ich suchte die Klingel und sah auf dem halbbeleuchteten Trottoir einen roten Faden, der in die Straßenrinne hinunterging. Ich trat näher und erblickte in der Ecke am Vorbau einen toten Mann, auf dem Gesicht liegend, das Blut rann ihm in diesem schmalen Streifen heraus. Wir liefen entsetzt hinauf in unsere Pension, weckten die Inhaberin und wollten wieder hinuntergehen und den Mord anzeigen. "Verhalten Sie sich ganz ruhig," sagte sie, "legen Sie sich zu Bett und reden Sie zu niemand von der Sache; auch ich werde schweigen. Das könnte Ihnen als Ausländer und noch dazu als Deutschen hier in Paris sehr schlecht bekommen." — Ein anderes Mal, als mein Freund Hans Olde gekommen war, gingen wir nachts zu dritt nach Hause, wir mußten durch öde, schlecht beleuchtete Gassen der Vorstadt Montmartre. Olde ging mit meiner Frau zwanzig Schritt voraus, ich bummelte hinterher. Da sah ich, wie drüben auf der andern Seite einige nebelhafte Gestalten kamen und vorübergingen. Mit einem Male höre ich hinter mir einen leisen, schnellen Schritt und fühle schon die Arme, die meine Beine umklammern; ich merkte, daß mich der Mann, der hinter mir kauerte, mit einem Ruck umwerfen wollte. Ich kam ihm zuvor, ziehe ihn schnell zwei Schritte nach bis zum Laternenpfahl, der gerade vor mir stand, hebe meinen Arm und lasse meinen Stock derartig fest auf den Kopf des Mannes niedersausen, daß er zersplittert. Es war ein Palmenstock, den mir ein Freund aus Biskra mitgebracht hatte, er war trocken und splitterig.
Der Mann stieß ein lautes "Bäh" aus, ließ mich los und lief davon, dann sah ich ihn mit den andern verschwinden. Die beiden vor mir drehten sich jetzt erst um, so schnell und lautlos war die Sache vor sich gegangen. Nun liefen wir, was wir konnten, erst eine große Treppe hinunter, dann kamen wir auf einen Platz, wo wir verschnauften und lachten, daß wir so gut davongekommen waren. In Paris kamen damals viele derartige nächtliche Überfälle vor, das beliebteste Mittel, das Opfer zum Fallen zu bringen, waren aufgespannte Drähte, die in der Dunkelheit nicht zu sehen waren. —
Das neue Jahr kam. Mit Hans Olde wollte ich bis zum Frühjahr eine Malschule besuchen. Wir entschieden uns für die Akademie Julian, von den vier dort lehrenden bekannten Malern Lefebure, Boulanger, Robert Fleury und Bouguereau wählten wir die Klasse der beiden ersteren. Sie waren alle vier arge Klassiker, der berühmteste war Bouguereau, der im Pariser Kunstleben eine große Rolle spielte; der alte Salon hieß nach ihm Salon Bouguereau, weil er dort tonangebend war. Die Ausländer gingen deshalb meist zu ihm, da sie hofften, beim Ausstellen ihrer Bilder durch seine Protektion eher angenommen zu werden. Wir machten unsern Antrittsbesuch in den Ateliers der beiden Meister, Lefebure war nicht zu sehen, aber Boulanger empfing uns mit gekreuzten Beinen wie ein Türke auf einem Diwan sitzend, einen Tschibuk* rauchend. Er war sehr freundlich und lud uns ein, seine Bilder anzusehen; sie waren recht langweilig, eins fiel heraus, ein flötespielender Silen*, vor dem junge Mädchen einen Reigen tanzen, trocken akademisch; ich dachte mir im stillen: deshalb hättest du nicht nach Paris zu gehen brauchen.
Beim Abschied probierte ich das beliebte: cher maître. Als wir den nächsten Tag zum ersten Male im Morgengrauen den weiten Weg über die großen Boulevards zur Schule wanderten, sagten wir uns, es wird vielleicht manches Unangenehme kommen; besser ist es, sie wissen es von Anfang an, daß wir Deutsche sind, und wir kamen überein, womöglich noch heute es wissen zu lassen. Kaum hatten wir die Studiensäle betreten, kam der Massier auf uns zu, ein von der Klasse gewählter Studierender, der die Verwaltung, die Ordnung und die Modelle unter sich hat, um sich vorzustellen. Er fragte liebenswürdig: "Messieurs ne sont pas des francais?" Wir sagten ebenso liebenswürdig: "Non, Monsieur, nous sommes des allemands."
Er machte artig: "Ah!", schüttelte uns kräftig die Hand, ging und sagte es den andern, die uns von ferne neugierig betrachteten. Nun war es heraus, und wir atmeten erleichtert auf. Man ließ uns ruhig arbeiten, nur war der Verkehr im Anfang sehr frostig. Es wurde viel gesungen, wenn man es so nennen konnte, meist war es ein wüstes Gejohle. Alles mögliche wurde nachgeahmt, Tierstimmen, Nigger- und Indianergesänge. Einmal fragte mich mein Nachbar, ob ich nicht jodeln könne, ich käme doch aus den Alpen, wie er gehört hätte. Voriges Jahr sei ein Tiroler dagewesen, der hätte so schön gejodelt. Er sprach das Wort so komisch aus, daß ich es zuerst gar nicht verstand, was er meinte; bis er ein schauerliches Geheul anring, aus dem man mühsam einige Juhutöne heraushören konnte. Die ganze Klasse fiel begeistert ein und vollführte den ganzen Tag ihre Pseudojodelei; ich hatte das Gefühl: wenn du jetzt recht schön jodeln könntest, wärest du hier mit einem Male beliebt.
Als Lefebure meine erste Studie ansah, sagte er: "On voit, que vous venez de Munich, vous faites la peinture par hasard." Das war keine schlechte Kritik der Münchner Malerei. Hier in der Schule ging man auf das Bewußte aus, auf die richtige nüchterne Studie, die nicht nach etwas aussehen, sondern bei der man etwas lernen soll. Wenn man bei den besseren Arbeiten an etwas erinnert wurde, so war es Ingres, dessen strenge, formvollendete Art durch alle Pariser Schulen ging. Gemalt wurde ebenso sachlich und trocken; den Akt möglichst richtig in der Farbe und gut im Charakter wiederzugeben, war das Ziel aller. Mit allerhand technischen Spielereien und Zufälligkeiten eine möglichst interessante Wirkung zu erzielen, wie es in München vielfach der Fall war, galt hier nicht für ehrliche Arbeit. Den Charakter mußte man sehen lassen, in den Studiensälen waren riesige Leinwandstreifen angebracht mit der Inschrift: Cherchez le caractère dans la nature. Es war, als ginge hier unsichtbar, aber immer gegenwärtig, das Wort von Ingres durch die Säle: Le dessin est la probité de l`art. Interessante Typen sah man hier. Ein baumlanger Amerikaner hatte seine Pinsel an lange Stecken befestigt, um sich zu zwingen, aus der Entfernung zu malen, damit er den Gesamteindruck besser festhalten könnte. Es machte einen grotesken Eindruck, wenn er so stand und über seinen sitzenden Vordermann weg seine Studie malte; die Palette hatte er vor sich zwischen den Beinen auf einem Schemel liegen.
Er und sein Freund, auch ein Amerikaner, machten einen ärmlichen Eindruck, sie kamen morgens in Holzschuhen von weit her aus der Vorstadt und waren immer die ersten; mittags blieben sie in der Schule und verzehrten ihr mitgebrachtes karges Mittagbrot. Ich habe den beiden oft im stillen gewünscht, daß sie große Künstler werden möchten, es kam mir grausam vor, wenn diese heilige Begeisterung und Entbehrung umsonst wäre.
So lärmend es in der Pause war, während der Arbeit herrschte tiefe Stille, sie wurde hier und da unterbrochen durch den Verzweiflungsruf: Je lutte!, den ein Schwerringender ausstieß. Er rang offen und ehrlich, sein Stöhnen und Seufzen während der Ruhe, in der sich viele abquälten, hatte etwas so Trauriges, daß sogar der Witz verstummte, der sonst über alles herfiel.
Ein anderer, unser Massier, hatte ein anderes Leibwort. Kam er des Morgens und sah seine Arbeit, dann rief er: "Merde!" Er setzte sich, und nun ging es während der Arbeit: "Merde!" und immer: "Merde!" Es wurde auf die Dauer langweilig, aber man ließ ihn in Ruhe, da er ein guter Mensch war, höchstens rief einmal einer: Cambronne. Dieser war Befehlshaber der Kaisergarde bei Waterloo; als diese unterging, stieß er den Ruf: "Merde!" aus.
Ich sah unsern Massier nach zwanzig Jahren in Venedig am Rialto sitzen und ein Kitschbild mit vielen Figuren malen, seinen Lieblingsruf hatte er sich abgewöhnt, er war nun "Arrivé", denn er hatte das rote Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch; seine Malerei war aber nicht viel besser geworden. In der Klasse ging es uns gut, seit ein älterer Franzose sich mit mir angefreundet hatte. Er war eigentlich Kritiker, schrieb die Kunstartikel im "Gil Blas" und hieß de Katow. Bei einem Besuch bat er mich, ob er nicht für kurze Zeit eine Mappe mitnehmen dürfe, in welcher ich Drucke nach Zeichnungen von mir eingeklebt hatte.
Den andern Morgen war die Mappe in der Klasse, alles stand und sah sich meine Illustrationen an; so hatte ich es nicht gemeint, aber der Herr hatte es nun einmal in guter Absicht getan. Nun war das Eis gebrochen, einige kamen zu mir und fanden meine Zeichnungen très chic, ja, ich erhielt sogar das höchste Lob, das ein Franzose nach seiner Meinung erteilen kann: comme artiste vous êtes Parisien, vous êtes Francais. Es kam sogar so weit, daß mir einige ihre Kompositionen zur Begutachtung zeigten. Ein ganz Junger hatte Bilder aus dem Siebziger Krieg entworfen und bat mich, ich möge ihm die deutschen Uniformen korrigieren. Was sah ich da für Phantasieulanen und -husaren in weiten schlotterigen Hosen und Kosakenmützen, alles in einem Gemisch, französisch-russisch-türkisch-polnisch, daß ich nur mit großer Mühe ernst bleiben konnte. —
Reizend war in der Frühe unser Marsch zur Schule. Ehe der Morgen graute, saßen wir schon am Kamin, worin die Holzscheite brannten und das Kaffeewasser brodelte. Alles im Hause lag noch im tiefen Schlaf. Da ertönte von unten herauf ein scharfer Pfiff. Hans Olde stand unten und fragte damit an, ob wir empfangsfähig wären. Ein Ruf von mir vom Balkon herunter: Ja. Dann erschien er oben und brachte eine Wolke Morgenkühle mit, Milch und eine große Tüte Brötchen, die er unterwegs gekauft hatte.
Nun gab es ein gemütliches Frühstücken am hellen Kaminfeuer, durch die Fenster sahen wir den langsam erwachenden Tag.
Dann hieß es: Auf, es ist Zeit.
Nun ging es den Montmartre hinunter auf die großen Boulevards, die wir ganz passieren mußten, die Schule lag an der Porte St. Denis.
Es ist die Zeit, wo das Paris des Geschäfts an die Arbeit geht. Alles hat seinen gemeinsamen schnellen Schritt, es geht im raschen Tempo. Die Ladnerinnen, die "Midinettes", die Arbeiterinnen in den großen Geschäften kommen flink daher, ihre hochgestöckelten Schuhe klappern auf dem Trottoir, sie haben noch etwas Schlaf in den Augen. Man trifft sich fast täglich an derselben Stelle, denn auch sie haben ihre Zeit auf die Minute eingestellt, man sieht sich an, man kennt sich schon, der Blick ist fast ein Gruß. Da sehen die Boulevards anders aus, als in der Zeit des Nachmittagsbummels. Die Flaneure liegen noch tief in den Federn. —
Mit den Franzosen in der Klasse kamen wir in keinen näheren Verkehr, was wohl auch zum Teil an uns lag. Sie fühlten sich hier als die Herren. Wenn auch die Mehrzahl anständige Leute waren, die ernst arbeiteten, so gab es doch einige Renommisten, die sich fortwährend brüsteten und gegen die andern Nationalitäten stichelten, namentlich gegen die Engländer.
Über die Deutschen wurde nicht gesprochen, die ließ man in Ruhe, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. An die Amerikaner wagten sie sich nicht heran, diese waren handfeste Jungen, liefen mit ruhiger Herausforderung im Zylinder herum, hatten ihn sogar beim Malen auf dem Kopfe. In den Pausen gaben sie Boxvorstellungen, da wagte sich kein Franzose heran. Sonst machten sie ein Geschrei: Chapeau!, wenn einer den Hut auf hatte, und Miene, ihn herunterzuschlagen, bis er abgenommen wurde. Aber die Amerikaner durften ihn aufbehalten; wagte einmal ein Franzose ein schüchternes "Chapeau!", flugs hatte er zwei geballte Fäuste vor der Nase, und dann war er mäuschenstill. Aber die Engländer, die ruhige Leute waren und sich um nichts kümmerten, waren fortwährend die Zielscheibe ihrer albernen Scherze, ihre Sprache wurde nachgeäfft und ihre ganze Art verhöhnt.
Wir hatten drei sympathische Engländer in der Klasse, gebildete junge Herren, die alle drei ein ziemlich gutes Deutsch sprachen und mit denen ich mich anfreundete. Diese konnten ihre Verachtung gegen die französische Rasse nicht genug betonen. Überhaupt war damals die gereizte Stimmung zwischen diesen beiden Nationen vorherrschend; während unseres Aufenthaltes in Paris lernten wir viele Engländer und Engländerinnen kennen, sie kamen hierher, um diese Stadt zu sehen, aber Sympathie für die Franzosen war keine vorhanden, eher eine große Abneigung gegen die Eigentümlichkeiten dieser Rasse, oft sogar tiefster Haß. Wir konnten bemerken, daß beide Nationen keine Berührungspunkte hatten. Der Engländer fand den Franzosen oberflächlich und theatralisch, der Franzose den Engländer steif und langweilig, für seinen trockenen Humor hatte er gar keinen Sinn.
In der Schule blieb ich nicht lange, die Art der Malerei war mir auf die Dauer zu trocken, die Klassen waren überfüllt, so daß man sich während der Arbeit kaum rühren konnte. Anregung hatte man recht wenig, die Lehrer waren langweilige Korrigierer und die Schüler meist Anfänger, die sich herumquälten, ihren Akt in die richtigen Verhältnisse zu bringen.
Paris war nicht billig, und ich mußte viel zeichnen, es wurde damals noch schlecht gezahlt, und ich saß oft bis in die Nacht an meinem Marterbrett. Ich hoffte auf den Sommer und die Arbeit im Freien, und der Frühling war schon im Kommen. Ende Februar bekamen wir einen gesunden Knaben. Der Salon nahte, das große Ereignis des Jahres, die Künstler sprachen von nichts anderem. Auch von den Jungen hatte mancher sein Erstlingswerk eingesandt und war in banger Erwartung. Da gab es Verzweifelte, wenn ein "Refus" kam, und Glückselige, wenn das Bild angenommen war. Dann kam aber immer noch die bange Frage: wie wird es gehängt? Denn im Salon sind vier Reihen Bilder übereinander, unten hängen sich die Herren der Jury und die Arrivierten selbst, das andere kommt nach oben.
Ein Freund von mir hatte ein Bild eingesandt, das Porträt seiner Mutter; er hatte es ganz minutiös ausgeführt, er wollte seine ganze Liebe hineinlegen, sagte er. Wir gehen zum "jour de vernissage", laufen durch die Säle und können das Bild nicht finden, und es war doch angenommen. Endlich, zufällig noch, bei einem Blick gen Himmel, sehen wir es ganz oben im vierten Stock in einer Ecke hängen, ein kleiner schwarzer Fleck mit einer runden Helligkeit drinnen. Mein Freund wurde blaß, sah traurig hinauf und sagte: "Und ich habe so viel Liebe hineingelegt." Ende Mai ging es hinaus in die graziöse, lachende Landschaft bei Paris, nach Marne-la-Coquette an der Straße nach Versailles. In der Nähe liegt Ville d'Avray; hier hat Meister Corot gemalt; ergriffen sah ich seine Landschaften, seine charakteristischen Baumgruppen und Gehöfte und seine Staffagen. Auch die Sommervilla des großen Schriftstellers Balzac sahen wir in natura versteckt und heimisch aus einem Gärtchen hervorlugen.
Wir sahen zu unseren Füßen die Seine fließen und in dampfender Ferne Paris als schmalen, silbernen Streifen aufblitzen.
Im Garten unseres Wirtshauses "Tete noire" malte ich mein erstes Pariser Bild: Martha, meine Frau, die Hauskatze im Arm, im "Robinson" sitzend, einem aus Baumstämmen hoch in die Zweige der Bäume hineingebauten kleinen Gartenpavillon, den man in allen möglichen Formen in den Wirtschaften der Umgebung von Paris findet. Hier oben beim Malen hörten wir eines Mittags eine ergreifende Kunde aus München.
Unter uns saßen die Honoratioren des Ortes beim Wein, aus dem "Figaro" las einer vor: König Ludwig von Bayern hat im Starnberger See bei München Selbstmord begangen. Ein alter Mann, der an der Eingangstür zum Garten in der Nähe unseres "Robinson" stand und es gehört hatte, sagte: "C'est la faute de Monsieur Bismarck", und wiederholte es immer wieder vor sich hin.

"Allotria"  

Im Oktober waren wir in München.
Nach zweijähriger Abwesenheit fand ich meine Freunde vollzählig wieder. Ich brauchte nur zum Oktoberfest draußen auf der Theresienwiese zu gehen, da saßen sie beieinander am langen Biertisch, der damals noch in primitiver Art auf dicken eingerammten Pfählen befestigt war. Als Schmuck waren überall reiche Daxen in Hecken und Girlanden angebracht, große Pechfackeln flackerten einen matten, weichen Lichtschein über die Figuren, das gab reizvolle Farben- und Halbdunkeleffekte.
Das war noch das alte, kernige Oktoberfest und vom heutigen elegant aufgeputzten, nüchternen Restaurationsstil weit entfernt. Da wurde gesessen, getrunken, gesungen, und dazwischen berauschte man sich an der schönen Abendstimmung, wenn die klare Herbstluft so schön zum frischen Tannengrün und dem lichten Orange der beleuchteten Gesichter stand und das Ganze vom schwelenden Fackelrauch noch einen besonders duftigen aparten Ton in schwarzbraun erhielt.
Es hatte sich in München manches verändert. Unter die Künstler war etwas mehr Leben gekommen, man fing an, die Großen zu kritisieren und das Kitschige bei ihnen zu sehen. Aus den dunklen Ateliers war der Zug ins Freie gegangen. Der Ruf: "Plein air!" erscholl. Die alten Fetzen wurden weggeworfen, die Gretchenkostüme, Landsknechtspluderhosen und falschen Dogengewänder plötzlich für "Maschkerah" erklärt und den Trödlern verkauft, die den Plunder seiner natürlichen Bestimmung, dem Fasching, zuführten.
Alles strebte hinaus.
Dachau, ein Städtchen bei München, im malerischen Moos gelegen, wurde das Hauptquartier der Jungen, Fritz von Uhde ihr anerkannter Führer.
Sogar alte Herren, die sich ihrer alten Richtung schämten, wurden angesteckt und rebellisch; sie zogen mit und stimmten mit in den Schlachtruf ein: "Plein air!"
Einer von ihnen war so kühn, draußen in Dachau gleich ein Riesenbild anzufangen, einen Taufzug mit lebensgroßen Figuren in der Sonne. Es sollte direkt vor der Natur gemalt und kein Strich daran geschwindelt werden. Es war keine Zeit zu verlieren, der Sommer ist kurz; deshalb sollte nicht nur vormittags daran gemalt werden, sondern auch nachmittags, da wurden nach dem Stand der Sonne Bild und Modelle einfach umgedreht. Nicht einmal die Mittagsruhe gönnte sich der alte Herr, vom Mittagessen stand er auf und ging an sein Bild. Er rauchte dabei seine gewohnte lange Pfeife. Trat er zurück, dann setzte er sich auf einen Stuhl und ruhte aus. Eine Horde junger Kollegen fand den Unglücklichen einmal, wie er auf dem Stuhl eingeschlafen war; die Palette hatte er in der Hand, die Pfeife fest im Mund. —
Merkwürdig war die Vorliebe der ersten Pleinairisten für Krautäcker, gerade als hätten die Krautköpfe etwas besonders Modernes an sich. "Der hat eine Krautstudie gemalt, wundervoll!" hieß es, "und jener ein Krautfeld, prachtvoll!" Mit vieler Geduld waren die Blätter wiedergegeben mit ihren Rippen und Falten und das ganze Feld Kopf an Kopf ausgeführt, als wäre es das Geduldsexamen für die Pleinairmalerei. Man malte noch mit feinen Pinseln, man führte noch aus, Bastien-Lepage wirkte noch nach. Man liebte Motive wie: die Kartoffelernte; ein einsames Bauernmädchen stützt sich auf ihren Rechen und besieht sich ihren Beschauer; ein Mann sitzt auf einem Schubkarren und ruht sich aus, eine Frau steht in einer Tür und sieht eine andere an, die draußen steht und sie anschaut.
Das Modell wurde gestellt wie ehemals im Atelier und möglichst getreu abgemalt. "Aufrichtigkeit!" war die Parole.
Fritz von Uhde malte Dachauer Pleinair mit Figuren aus dem Neuen Testament.
Mit seinem ersten Bilde "Lasset die Kindlein zu mir kommen", hatte er einen großen Erfolg gebabt. Christus sitzt in einem ländlichen Schulzimmer und läßt die Dorfkinder zu sich kommen.
Als er dieses Bild malte und damit fertig war bis auf die Hauptfigur, für die er den Dorflehrer gedacht hatte, riet ihm der Maler Bruno Piglheim, doch lieber einen Christus hinzusetzen, das sei origineller. So entstand diese neue Richtung.
Uhde empfand religiös und wäre wohl auch von selbst auf diese neutestamentliche Genremalerei gekommen. Sein Können hielt nicht immer Schritt mit den großen Aufgaben, die er sich stellte.
Er war lange Offizier gewesen und hatte unter dem Fluche zu leiden, der fast alle spät zur Kunst Gekommenen trifft: eine gewisse Schwächlichkeit in der Form, die man namentlich bei adeligen Malern trifft. Ein Kind des Volkes muß ganz anders arbeiten, um sich hochzubringen, und eine harte Schule durchmachen, die den Charakter stählt. Und die Form ist nur mit harter Arbeit zu erringen. — Die Winterabende vereinten alles in der "Allotria", einer Künstlergesellschaft, die Mitte der siebziger Jahre von den damaligen Jungen gegründet worden war. In einer Versammlung der Künstler-Genossenschaft hatte der Präsident der jungen lärmenden Opposition, die hauptsächlich aus Diezschülern bestand, zugerufen: "Allotria!"; die waren dann in ein Lokal gezogen und hatten die Gesellschaft gegründet. Die Diezianer waren noch in der Mehrheit, aber schon begannen die Nachstürmenden, ihre Allotria zu treiben. Lenbach war Präsident und Oberster überhaupt. Liebenswürdig, witzig und wie sein großer Gönner Bismarck ein etwas holperiger, aber geistvoller Redner, war er immer umgeben von einem großen Stab von Verehrern. Er machte gute Bemerkungen, und es war ihm gleich, wen sie trafen.
Einmal war der Maler von Angeli am Tisch, ein eleganter Wiener, der durch seine tüchtigen, aber etwas zu sehr verschönerten Porträts des Kronprinzen und der Kronprinzessin Friedrich von Preußen bekannt geworden war und zu den Lieblingen dieser hohen Frau gehörte.
Es war die Rede von Rembrandt; da sagte Angeli in seinem weichen Wiener Dialekt:

"I weiß net, bei uns in Wean, da halt' mer gar net so viel von dem Rembrandt."
"Bei uns in Schrobenhausen a net", erwiderte Lenbach trocken.
Schrobenhausen ist ein kleines Nest bei München, der Geburtsort Lenbachs.
Sein Witz hinderte aber nicht, daß auch auf ihn die Pfeile der Satire sausten, die hier alle ohne Unterschied trafen. Lenbach hatte eine gewisse trockene Art, mit hohen Herrschaften zu verkehren, die ungemein gefiel und ihn bei den Kollegen sehr populär machte. Er war für sie so etwas wie der Repräsentant des Standes, der den hohen Adel in Respekt vor den Künstlern hielt.
Ich war Zeuge, wie er mit den Herrschaften umging, als ich ihn das erste Mal in seinem Atelier besuchte. Ich war noch Soldat, Gemeiner und in Uniform, also gar keine Respektsperson. Lenbach hatte vor sich auf einem prachtvollen Lehnstuhl einen Herrn noch in jüngeren Jahren, in großer Uniform, die Brust besät mit Orden und Sternen, sitzen, den er porträtierte. Ich stutzte etwas, als ich eintrat, und zögerte vorzutreten. Da nahm mich Lenbach am Arm, führte mich zu dem etwas blondschafig aussehenden hohen Herrn und stellte mich vor: "Hier, Hoheit, ein talentvoller junger Künstler, und hier" — auf den Prinzen zeigend — "ein Herr ohne jegliches Talent." Der Herr räusperte sich: "Äh, äh, Herr von Lenbach—, so schlimm ist es nun doch nicht", — machte gute Miene, lächelte etwas verlegen und gab mir freundlich die Hand. So machte er es immer.
Als er Kaiser Wilhelm den Ersten malte, gefiel dem alten Herrn, der auf so etwas sehr hielt, der Orden nicht, den er auf der Brust trug, er wäre nicht richtig an seinem Platz. Lenbach reichte ihm den Pinsel: "Bitte Majestät zu korrigieren." "Aber ich kann ja nicht malen." Half alles nichts, Lenbach ließ nicht nach, bis endlich der Kaiser den Pinsel nahm und mit zitternder Hand einige Striche hineinmachte. Lenbach ließ sie aus Pietät stehen. —
Wieviel Talent wurde hier unnütz verpufft, wieviel Genialität ging hier zugrunde; so mancher legte seine Kraft nicht in seine Werke, sondern lebte nur den Künstler und gab sein Bestes in seinem Witz aus.
In geistvollen Kneipzeitungen, Reden, Vorführungen war man unerschöpflich. Die Stammbuchverse waren gefürchtet, die paar Zeilen, die jedem Neuaufgenommenen als Begrüßung zuteil wurden. Sie waren oft so, daß der Betroffene am liebsten sofort wieder ausgetreten wäre. Rücksichtslose Offenheit herrschte hier und war eine gute Schule der Bescheidenheit.
Jede Selbstüberhebung, jedes Betonen der eigenen Person und Aufblasen den Kollegen gegenüber, wie man es oft namentlich bei jungen Künstlern findet, die plötzlich bekannt werden, war hier unmöglich, schon der Versuch dazu wurde derartig mit höhnischem Witz erstickt, daß dem Betroffenen die Lust dazu für sein ganzes Leben verging. Das war gesund und beeinflußte den Ton, der unter den Münchner Künstlern allgemein herrschte. Manchmal später, wenn ich so einen jungen Kollegen vor mir sah, den ein schwacher Strahl des Ruhms getroffen hatte, und der nicht wußte, welche Miene er aufsetzen sollte, dachte ich mir im stillen: Der hätte einige Zeit in der Allotria sein müssen.
Dabei war alles Tüchtige anerkannt und geehrt. Als ich später, im Jahre 1891, eines Abends Max Klinger, der hier in München in einer Kunsthandlung seine erste große Ausstellung arrangiert hatte, in die Gesellschaft brachte, erhob sich alles und rief ihm ein begeistertes "Hoch!" zu. — Das Lokal der Gesellschaft lag in der Nähe des Karlstors, an der Stelle des heutigen prunkhaften Künstlerhauses, es war mehr dem Charakter der Künstler angepaßt als dieses. Es war in ein Stück Stadtmauer untergebracht, an welche ein hoher Schuppen angebaut war, der in alter Zeit zu einer Schmiede benutzt wurde; hier hinein hatte Lorenz Gedon aus alten Stücken Architektur, Vertäfelungen und Skulpturen einen Raum geschaffen von einer moderigen Behaglichkeit und Stimmung, wie ihn wohl nirgends Künstler besaßen. Ein kleiner Garten draußen an der Stadtmauer machte vergessen, daß man in einer großen Stadt saß. Drinnen ging's nächtelang lustig zu. Die Hofkapellmeister Levi und Fischer sorgten für ernste Musik; in später Stunde noch setzte sich oft Fischerfranzl an den Flügel und riß mit seinem prachtvollen Wagnerspiel alles mit sich fort. Nachbaur und Gura sangen, witzige Reden flogen hin und her. Daneben wurde spießbürgerlich tarockt, Lenbach kam jeden Abend um neun Uhr und verzehrte fast jeden Abend seinen Kalbskopf, den er nach Münchner Art mit dem Taschenmesser "abfisselte". Dann tarockte er.
Auch die Allotria wurde ein Kampfplatz zwischen Jungen und Alten. Lenbach, und mit ihm seine Getreuen, lehnte sich ganz entschieden gegen die neue Kunst auf; er fühlte den Boden unter seinen Füßen schwinden. "Die alten Meister, die Alten!" mahnte er immer wieder und wurde manchmal hitzig und ausfallend.
Dann ertönte plötzlich ein scharfer, langgezogener Schrei: "Plein air!" Dieser Kampfruf tönte in den alten Mauern, als wolle er alles Vermoderte umwerfen.
Lenbach begriff die neue Kunst gar nicht, er hatte davon ganz merkwürdige Begriffe.
"Wie will man Sonne malen", sagte er, "wenn man als höchstes Licht doch nur das Weiß hat."
Dieser Glaube an das Weiß beherrschte damals auch die Jungen, die erste Zeit der jungen Kunst könnte man mit "Epoche Weiß-Pleinair" bezeichnen. Die schlimme Rolle, die früher das Braun, der Asphalt, gespielt hatte, wurde jetzt vom Kremserweiß übernommen. An das Malen mit kräftiger, verstärkter Farbe dachte man damals noch nicht. Die Stellung Lenbachs zur neuen Richtung war seine innere Überzeugung, das Persönliche kam wohl erst in zweiter Linie. Bei den anderen war es ebenso, sie waren einfach nicht imstande, sich von ihrer geliebten "geselchten" Palette loszumachen, der sie ihre billigen und gefälligen Reize der Farbe verdankten.
Eine Malerei ohne den beliebten schönen Galerieton war für sie überhaupt keine Malerei, und die Helligkeit der Neuen wirkte auf sie so schrecklich, daß sie aufschrieen. Sie hatten lange Zeit im Keller gesessen und sahen nun plötzlich das grelle Sonnenlicht.
Charakteristisch für die Anschauung der Lenbachianer war die begeisterte Erzählung eines der Ihrigen nach einem Besuch im Atelier Lenbachs.
"Zuerst war's hell, ach, da war's schön; dann zog Lenbach a bißl den Vorhang zu, ach, da wurde es immer schöner, dann zog er immer mehr zu, da wurde es schon ganz wunderbar." "Und dann zog er ganz zu, dann wurde es am allerschönsten", rief einer von uns. —
Eine der eindrucksvollsten, ergreifendsten Erinnerungen aus meinem Leben ist eine Abschiedsfeier aus dem Jahre 1882 in der "Allotria".
Ich war Soldat und in die Gesellschaft aufgenommen worden. Unter den vielen prächtigen Künstlerköpfen, welche damals in diesem Kreise auftauchten, war einer der auffallendsten Lorenz Gedon. Ich fühlte mich sogleich zu ihm hingezogen, denn hier fand ich rein und unverfälscht das, was ich mir immer unter einem wahren Künstler vorgestellt hatte. Er hatte einen geradezu kindlichen Idealismus, reine Begeisterung für alles Schöne, warme Anerkennung für jede gute Leistung und ein wahres Künstlerherz mit goldenem Humor. Wie herzlich konnte er lachen und wie herrlich schimpfen, wenn ihm etwas nicht wahr und echt erschien. Als Bildhauer und Architekt war er eine der stärksten Erscheinungen im damaligen München, sein erstes Werk, die Schackgalerie, hatte vielen Widerspruch und auch große Anerkennung gefunden. Er war nicht kleinlich, gerechten Tadel nahm er nicht übel, im Gegenteil, er sagte dann: wir müssen es besser machen. Ich fühlte mich ganz besonders zu ihm hingezogen, er erschien mir als eine Art Vorbild. Er war ein echter Süddeutscher, dem Kunst und Schönheit als etwas ganz Selbstverständliches galt und der nicht viel Worte darum machte. Sein origineller Kopf mit den lebhaften blitzenden Augen und dem Ausdruck von Gutmütigkeit und Schalkheit hatte es mir angetan, ich mußte ihn immer ansehen. Wenn er in der Gesellschaft erschien, lebte alles auf und bekam Geist und Feuer. Ich zeichnete damals schon für die Fliegenden, und als ich eines Abends das erstemal in der "Allotria" erschien, lachte er und konnte sich gar nicht beruhigen über diesen komischen jungen Mann, dessen Zeichnungen doch schon etwas vorstellten und der nachts in die Kaserne mußte. Er neckte mich gern mit der Frage, wie mir die Menage schmeckte, und dergleichen und belustigte sich königlich über meine Kasernenerlebnisse.
In der "Allotria" hatten wir verschiedene Offiziere, unter anderen den General Mussinan, eine volkstümliche Münchner Erscheinung, der fast jeden Abend in der Gesellschaft zubrachte.
Gedon machte sich einen Spaß daraus, mich immer in die Nähe des Generals zu bringen, der doch, wie es schien, von meiner Anwesenheit nicht ganz begeistert war. Nur bei meiner Aufnahme war ich in Uniform erschienen, später kam ich immer in Zivil. Das Nichttragen der Uniform war verboten und wurde streng bestraft, ich wagte es, weil ich wußte, daß mich kein Offizier der Gesellschaft zur Anzeige bringen würde. Im Grunde war es ihnen wohl lieber, wenn ich incognito am Tisch erschien.
Alles das reizte Gedon. Er wollte zeigen: hier sind wir Künstler die Herren, und "Gemeine" gibt es bei uns nicht. Er zeichnete mich in jeder Weise auffallend aus, indem er sich gerade mit mir unterhielt und auch gefährliche Witze über mein Soldatenleben machte. Mir wurde es mitunter etwas heiß, denn wie leicht hätte er mich in eine unangenehme Lage bringen können.
Eines Abends wurde Talerschieben gespielt. Ein weißer Strich war auf dem Tisch gezogen, an der Spitze davor ein Taler gelegt. Die Spieler schoben mit ihrem Taler darauf, wer ihn traf, der hatte ihn, wer ihn fehlte, mußte seinen Taler dem Bankhalter abgeben.
Der General spielte mit, ich sah in einiger Entfernung zu. Da rief Gedon: "Schlittgen, heran, mitgespielt, verbessere deine Löhnung." Und alle ändern: "Komm' und versuch's auch einmal."
Der General hielt gerade die Bank. Ich schieße los, der Taler gehörte mir, ich hatte Glück und nahm dem General nach und nach eine Anzahl ab. Exzellenz machte ein süßsaures Gesicht und sah mich von der Seite an; er war sonst kein ungemütlicher Herr, aber in diesem Augenblick hätte er mich wohl am liebsten drei Tage in Dunkelarrest geschickt. Ich verzog mich in den Hintergrund, wo Gedon in Lachkrämpfen lag.
Gedon erschien dann nur noch selten bei uns. Bald erfuhren wir, daß er an Kehlkopfkrebs erkrankt und sein Leiden schon vorgeschritten war. Er hatte sich vorgenommen, uns als Andenken und als sein letztes Werk das Lokal in der alten Schmiede am Stadtgraben herzurichten. Nachdem er es getan, hieß es eines Tages: heute abend weihen wir ein, und Gedon kommt das letztemal zu uns.
Wir hatten ihm zu Ehren einen kleinen maskierten Umzug vorbereitet, alle Mitglieder sollten in komischen Masken kommen, um ihn aufzuheitern. Verschiedene Kollegen waren in alten Militäruniformen erschienen und hatten sich komisch hergerichtet, unter anderen auch ein früherer Diezschüler, ein Adeliger, der, bevor er Künstler wurde, Offizier war und später wieder in sein altes Regiment, mein Leibregiment, eingetreten war. Es war derselbe, der das Kasino mit dem "Triumphzug des Mars" ausschmückte, wozu er mich als eine Art Faktotum verlangt hatte. Diese Geschichte, wie ich aus Versehen den Farbtopf umwarf und als unbrauchbar schimpflich weggeschickt wurde, hatte ich in der "Allotria" erzählt, und sie war für Gedon Anlaß zu fortwährenden heiteren Sticheleien. An diesem Abend nun erschien dieser Premierleutnant in einer altbayrischen Uniform als Gemeiner und ich hatte mir eine Wachtmeisteruniform der ehemaligen Kürassiere aus der Biedermeierzeit ausgeliehen.
Zum Schluß des Festes sagte Gedon: "Schlittgen soll einen Parademarsch vor mir vorführen." Alle Soldaten traten an, der Premierleutnant auch. Und ich richte alles aus und mache einen recht wilden Wachtmeister. Ich schüttele an den Kerlen herum und schimpfe, — ich hatte es in der Kaserne gelernt, es war echt. Auch mein Premierleutnant bekam sein Teil. Alles lachte, und Gedon besonders, als er sah, wie ich meinen Vorgesetzten vornahm. Das war der letzte Abend, den er mit uns verbrachte; wir sahen ihn nicht mehr.
Nach diesem Abend hatte er sich zum Sterben zurückgezogen. Er erschien mir immer als der größte Held, der mir im Leben begegnet ist.

Die Glasbläser von Kramsach  

Im Sommer des Jahres 1888 gingen wir nach Kramsach bei Rattenberg in Tirol.
Die alten Städte in Tirol, wie schön und rein erhalten sind sie meist; auch in der Landschaft sieht man noch viele alte Bauten, besonders die Bauernhöfe, die so selbstverständlich, wie aus dem Boden gewachsen, dastehen. Hier in Kramsach fand ich, malerisch an einem wilden Bach gelegen, eine uralte Glashütte.
Drinnen in einem hohen Raum, der von oben das Licht empfing, standen um den breiten Ofen im Kreise die Glasbläser, jeder vor seinem Feuerloch, aus dem er mit seinem eisernen Blasrohr die flüssige Glasmasse herausholte. Dann drehte er sich um und blies über einem Holzkasten die Flasche. Das Verfahren war noch ganz primitiv, überkommen aus alter Zeit.
Vor dem Kasten kauerte ein Bub und hielt mit beiden Händen die Griffe der Form. Hat der Glasbläser mit seinem Atem seinen Klumpen gehöhlt und gerundet, stößt er ihn in die Form, die der Junge schließt.
Der Glasbläser wartet einen Augenblick, bis das Glas gekühlt ist, dann nimmt er die fertige Flasche heraus und schlägt sie in den Kasten. So standen diese Männer, jung und alt, blaß und kränklich, in leichten Kleidern, den Oberkörper meist entblößt, denn draußen war sommerliche Hitze, hier drinnen aber höllische Glut.
Gleich am Eingang fiel mir ein junger Mann auf, der blaue Flaschen formte. Er hob sich dunkel gegen die hitzestrahlende Ofenöffnung ab; im Hintergrunde huschten über dem niedrigen Ofen gesehen die Köpfe einiger alter Arbeiter. Das war sehr schön. Die zitternde heiße Luft im Raum und diese Gestalten, die in der unbestimmten Beleuchtung geisterhaft erschienen.
Dies wurde mein erstes größeres Bild.
Der junge Glasbläser im Vordergrund, der sein Blasrohr am Mund hat und dreht; der glühende Glasklumpen hängt vorn an der Spitze und wird immer größer und größer. Vor ihm hockt der Bub, ich sehe ihn von hinten. Er blickt gespannt hinauf, um den Augenblick nicht zu verpassen, wo die glühende Kugel in die eiserne Form gestoßen wird.
Im Kasten liegen, schon gehäuft, dunkelblaue Flaschen im herrlichen Klang gegen die dämmerige orange Umgebung; als höchster Trumpf wirkt das kleine Ofenloch, das im stärksten Rotgelb aufleuchtet.
Gute Menschen waren es, diese armen Arbeiter; sie freuten sich, als sie gemalt wurden, und konnten es gar nicht begreifen, daß sie würdig für die Kunst waren. Das Bild machte mir große Schwierigkeiten. Ich stand im Halbdunkel, konnte die Farben auf der Palette kaum erkennen und mußte, sie mehr erratend, auf das Bild setzen. Es wurde aber fertig, und ich war erstaunt, daß es im allgemeinen gelungen war. Ich brachte es das Jahr darauf zur Ausstellung in die Pariser Weltausstellung; es kam zurück mit einem Zettel versehen: mention honorable. Ich freute mich sehr, war es doch eine Auszeichnung für meine Malerei. In Frankreich fand ich zuerst Verständnis dafür. Später stellte ich im neuen "Salon" zwei Ölgemälde aus und wurde von der "Société internationale des arts", einer sehr exklusiven Künstler- und Schriftstellergesellschaft, die nur wenige Deutsche aufgenommen hat, zum Mitglied ernannt. In Deutschland war es Berlin, wo ich als Maler anerkannt wurde. Max Liebermann, ein großzügiger Mensch und Künstler, forderte mich immer wieder auf, in der "Sezession", deren Präsident er war, auszustellen.
Meine "Glasbläser" hatten ein merkwürdiges Schicksal. Sie standen zehn Jahre lang, in ihrer Pariser Kiste verpackt, in meiner Atelierkammer.
Eines Tages dachte ich mir: ich muß doch mein altes, erstes Bild wieder einmal ansehen, und packte es aus. Wie erschrak ich da: die dunkelblauen Flaschen im Vordergrunde, gegen die der Bub saß, waren nicht mehr blau, sondern aschgrau geworden. Ich dachte mir, die Farbe sei vielleicht schlecht gewesen, eine andere Erklärung fand ich nicht. Bei der soliden Technik, die ich anwandte, immer naß in naß zu malen, war eine Veränderung ausgeschlossen.
Der untere Teil hatte durch die Vernichtung des starken Blaus ein ganz anderes Gesicht bekommen; der Bub in seinen verstaubten Kleidern hatte allen Reiz verloren, da nun der farbig starke Hintergrund fehlte.
Zuerst wollte ich das ganze Bild vernichten, dann dachte ich, ich könnte es vielleicht retten, wenn ich den unteren Teil abschnitt. Das tat ich, aber es wurde nicht besser, denn nun war die Komposition zerschlagen. Und das Blau fehlte auch oben. Ich ärgerte mich und verbrannte das ganze Bild. Einige Jahre später bekam ich eine Broschüre in die Hand: das Regenerationsverfahren in der Malerei von Professor Pettenkofer in München.
Da kam ich beim Lesen an einen Abschnitt: die Ultramarinkrankheit. Hier stellte der Gelehrte fest, daß auf manchen alten Bildern, namentlich bei solchen, die in dunklen Räumen aufbewahrt wurden, das tiefe Blau, mit Ultramarin gemalt, sich im Laufe der Jahre in Grau verwandelt hätte. Er beschreibt nun, wie man diese Krankheit heilen kann, indem man durch gewisse Dämpfe das Grau wieder in Blau verwandelt.
Ich dachte an mein Bild, es war vernichtet. Vielen Malern hatte ich die Geschichte erzählt, und keiner wußte von dieser Krankheit. Und wie lange war ich auf Akademien gewesen, und kein Professor sprach davon. Es war wirklich höchste Zeit, als endlich auf den Akademien maltechnische Abteilungen eingeführt wurden. Im Sommer gingen wir, wie gewöhnlich, nach Flandern, in unsere geliebten Dünen. Der Herbst kam, ich konnte mich noch nicht entschließen, mich in München festzusetzen, und wollte die Zeit meiner Jugend lieber draußen in der Welt zubringen. Ich dachte wieder an Paris. Es gab ja vieles dort, was mir nicht gefiel; die Franzosen zogen mich nicht sonderlich an, sie gingen an mir vorüber, saßen im Lokal neben mir, und ich sah weiter nichts von ihnen als von den Menschen, die man heute im Kino auf der Leinwand sieht. Ich hatte mich in die französische Literatur vertieft, da fand ich vieles, was stark auf mich wirkte, Balzac, Taine, Flaubert, Maupassant. Die neuere französische Geschichte, das achtzehnte Jahrhundert, die große Revolution, Napoleon beherrschten damals mein Empfinden sehr, ich fand das interessanter als alles, was sonst in der Welt passiert war. Ich bildete mir ein, Frankreich sei das wahre Land der Freiheit, all die schönen großen Worte aus der Zeit der großen Revolution berauschten mich, hatte doch stets die Inschrift: Liberté, Egalité, Fraternité!, die in Paris an allen Ecken angemalt ist, einen heiligen Schauer in mir erregt. Und dann kam die französische Malerei dazu. Für nächstes Jahr war die Weltausstellung zur Feier der großen Revolution in Aussicht, auf der eine große Übersicht über die letzten hundert Jahre französischer Kunst geplant war. So entschlossen wir uns, in Paris so lange Aufenthalt zu nehmen, bis wir uns für die Dauer in Deutschland festsetzten.

Wieder in Paris  

Meine Frau fuhr voraus, um alles instand zu setzen. Wie groß war meine Freude, als ich ankam und sah, wie schön sie mit den geringen Mitteln alles gerichtet hatte. Ein kleines Atelier am Fuße des Montmartre, sieben Treppen hoch mit kleinem Zimmer und Küche daneben. Die auf Versteigerungen und billigen Tagen im "Bon marché" zusammengekaufte Einrichtung dünkte mich fürstlich. Im Atelier standen meine alten liebgewordenen Gegenstände aus München, durch einen Vorhang war ein Teil abgegrenzt, der als Speisezimmer diente und eine für uns glänzende Ausstattung zeigte; das Hauptstück war das Büfett, darum gruppierten sich allerhand schöne Sachen zum Nutzen und zur Zierde. Schlafzimmer und Küche, alles erstrahlte in Schönheit, und ich rief immer wieder aus: "Wie hast du das alles um die paar hundert Mark zusammengebracht!" Es war Ausschußware, ein kleiner Fehler hier und da war geschickt versteckt, den sah man nicht.
Mitten im Atelier stand als Glanzstück mein Bild: die Glasbläser. Sonst Chrysanthemen in allen Farben, die man mit einem Wochenabonnement von fünf Franken reichlich bekam. Blumen und wieder Blumen, aus allen Ecken strahlte ein Bukett hervor und verdeckte alle windigen Stellen. Hier fühlten wir uns sogleich heimisch. Wie gemütlich war es hier oben und wie still für Paris. Denn wir waren doch fast in Turmeshöhe, von unten tief herauf kam ein summender Ton in ewiger Gleichmäßigkeit, das Getriebe der Großstadt; über uns das kleine Atelierfenster. Ein scharf abgegrenzter blauer Fleck: der Himmel mit den ziehenden Wolken.
Wir sagten oft: wie in Flandern, unten rauscht das Meer. Abends kamen die Freunde, sie wurden eingeladen, an unserer Pracht teilzunehmen. Da tranken wir den französischen Landwein als etwas Köstliches, schlürften ihn langsam wie Kenner und rühmten ihn und wunderten uns, daß wir diesen herrlichen Tropfen fast umsonst bekamen. Bis eines Tages ein Freund nach Genuß dieses Giftes erkrankte und ein anderer, ein armer Teufel, den Rest der Flaschen trotz unseres lebhaften Protestes mit nach Hause schleppte; er hätte einen guten Magen, sagte er, und vertrüge den Wein, es wäre doch schade, ihn wegzuschütten. So billig die Einrichtung gewesen war, beim Einkaufen in den Geschäften wurden wir fortwährend betrogen. Die Münztabellen mit den falschen oder minderwertigen Geldsorten mußten wir auswendig lernen wie später in Italien: immer wieder hatten wir falsches Geld erhalten. Gleich beim ersten Wechseln eines Goldstückes brachte meine Frau drei Bleistücke zurück. Mit der Polizei war nichts anzufangen, als Prussien war man vogelfrei. Das war ein wunder Punkt, der uns oft die Freude verdarb. Ich lief nun in den Straßen herum und besah mir die Auslagen der Kunstläden; stöberte oben auf dem Montmartre bei den Althändlern in alten schmutzigen Haufen Makulatur nach Lithographien und Büchern herum. Die neue Kunst fing an, mir aufzugehen, ich sah die ersten Impressionisten.
Eines Tages, als wir über die großen Boulevards gingen, standen wir plötzlich wie gebannt. Drüben auf der ändern Seite, im Schaufenster der Kunsthandlung Goupil, war ein Bild ausgestellt, das durch all das Gewimmel des breiten Boulevards leuchtete. Wir gingen hinüber und sahen den ersten Claude Monet, ein Stück Meer mit einigen farbigen Kähnen davor; welch ein Leben war hier in der anrollenden Woge, welche Leuchtkraft und Schönheit in der starken Farbe. Oben im ersten Stock war eine Kollektion Monetscher Bilder ausgestellt; wir konnten uns nicht satt sehen. Das war ein großer Eindruck, einer der stärksten meines Lebens. Nun kamen wir immer wieder, ein junger freundlicher Angestellter mit rötlichem Haar, der gar nicht aussah wie ein Franzose, begrüßte uns schon freundlich als gute Bekannte. Man sah, das Interesse für diese Kunst war noch nicht groß, das Lokal meist leer.
Wir schauten und schwärmten, der junge Mann stand abseits, lächelte und freute sich darüber.
Nach einigen Tagen sprach er uns an, er sähe, daß wir uns so sehr für moderne Kunst interessierten, er hätte einen Bruder, der Maler sei und auf dem Lande lebe; ob er uns einige Bilder von ihm zeigen dürfe.
Er brachte aus dem Nebenzimmer einige ungerahmte Gemälde kleineren Formats, Bilder, die später in der ganzen Welt berühmt geworden sind. Er stand bescheiden neben uns, beobachtete die Wirkung dieser Kunst auf uns. Wir kamen von Monet her und waren hier etwas befangen, das war etwas ganz anderes, Natur von einem eigenwilligen Temperament gesehen, dekorativ, die Konturen manchmal mit blauer Farbe umzogen, wie auf altjapanischen Holzdrucken.
Der Herr fragte mich nach meiner Meinung, ich rühmte die schöne, klare Farbe, doch wäre für mein Gefühl einiges zu stark stilisiert. Der liebenswürdige Herr dankte und trug die Bilder wieder zurück. Oft, wenn wir am Laden vorbeigingen, sah er durch die Fenster der Tür auf den Boulevard und grüßte uns freundlich lächelnd.
Wir erfuhren erst viel später, daß es Theo van Gogh war, der Bruder des erst nach Jahren und nach seinem tragischen Ende zur Anerkennung gelangten großen holländischen Malers Vincent van Gogh.
Nun suchte ich mehr von dieser Kunst und entdeckte in einer Seitenstraße die Kunsthandlung von Durand-Ruel, die nur Meister dieses Schlages zeigte. Da sah ich Manet, Renoir, Degas und deren Vorgänger. Renoir kam mir wohl etwas süßlich vor und seine Köpfe puppenhaft, doch bewunderte ich die Malerei seines Fleisches: ein junges Mädchen mit offener Brust war mit einer Delikatesse der Farbe gemalt, daß man förmlich den Hauch, den Flaum der zarten Haut fühlte.
Und Degas, der Maler des künstlichen Lichtes auf der Bühne, in den Logen, zuckend von Leben, frappierend als plötzlicher Blick auf starkbewegte Körper in einer starkfarbigen Beleuchtung.
Manet erschien mir im Anfang etwas starr, seine Figuren standen etwas zu sehr Modell, doch gefiel mir die Unbefangenheit, mit der er die heutige Welt ansah; er malte das, was sonst als unmalerisch galt, und machte es durch seinen einfachen malerischen Stil interessant. Das alles war so neu, so hell, so farbig, so freudig, daß ich wie verzaubert herumlief.
Meinen Freunden verkündigte ich das Große, das mich bewegte, sie waren meist noch Gegner, und da gab es hitzige Gespräche. Immer und immer wieder ging ich zu Durand-Ruel. Damals fielen noch die paar Leute auf, die Interesse an dieser Kunst fanden. Deshalb wurde ich bald als ein Intimer und Eingeweihter empfangen, als ich dort erschien. Man führte mich in die Kammern, wo die unverkauften Bilder aufgestapelt waren, und die freundlichen Herren zogen mit Mühe immer neue hervor, um sie mir zu zeigen.
Ich konnte immer wieder sagen: "Ich kann nichts kaufen" Mit liebenswürdigem Lächeln erwiderten sie: "Das tut nichts, es freut uns, wenn wir Ihre Freude sehen." Ich kam mit Muckel, meinem kleinen Buben. Der Knirps war noch keine drei Jahre alt und hatte mir's abgeguckt; er stand lange vor den Bildern, trat zurück, machte ein Loch in die Hand und blinzelte wie ein Kenner. Dann kam einer der Herren vom Geschäft und sagte lächelnd: "Es steht gut mit uns, wir erobern schon die Jugend." — Leider mußten wir unser poetisches Turmverließ bald aufgeben, meine Frau, welche hauptsächlich die Wirtschaft besorgen mußte, wäre sonst krank geworden, und wir fanden keine Bedienung, die sieben Treppen steigen wollte. Neujahr zogen wir aus, ganz hinauf auf den Montmartre, Boulevard de Clichy, oben unterm Dach in eine kleine Wohnung, darunter das Atelier.
Wir sahen auf Paris herab, auf ein Häusermeer, das meist in nebeligen, grauen Dunst gehüllt war. Hier und da blitzte ein Sonnenstrahl auf wie ein gigantischer Scheinwerfer und erhellte magisch ein kleines Stück. Da sahen wir riesige Steinwälle: die großen Häuserzüge der Boulevards, die massigen Blöcke des Louvre, der Großen Oper, der Börse und die schlanken graziösen Filigransilhouetten der Kirchen zum Himmel streben.
Der Eiffelturm entstand, wir sahen ihn wachsen, eines Morgens kamen plötzlich neue Linien aus dem Dunst: die neue Etage; es kamen größere Absätze, bis endlich das Ungetüm in seiner grotesken Form fix und fertig dastand.
Mein Ateliernachbar war Auguste Renoir, der mit seiner Familie eine ebenso kleine Wohnung wie ich inne hatte.
Eines Sonntags, an einem recht trüben, melancholischen Wintertag, als wir etwas traurig in unserm Stübchen saßen, die dicke Nebelwand ansahen, die Paris verdeckte, und an Deutschland dachten, was sehr oft vorkam, riß die Karline, unser dummes Elsässer Bauernmädchen, die Tür auf und rief in höchster Aufregung: "Musjö, ein noblichter Herr ischt da, in einem Auge hat er ein Fenster."
Ich gehe hinaus und sehe in der Dunkelheit des Korridors ein Monokel blitzen und in schwachen Umrissen den dazu gehörigen Herrn. "Caran d'Ache", sagte er.
Wie freute ich mich! Er hatte gehört, daß ich in Paris sei, und wolle mich begrüßen.
Wir saßen lange und plauderten, natürlich meist von unserm "Metier", er erkundigte sich nach Oberländer, und ich fand es sympathisch, daß er als berühmter Mann so bescheiden war. Er lud uns ein, wir mußten bald einen Abend bei ihm verbringen.
Er bewohnte ein kleines "Hotel" in der Vorstadt Passy, einem eleganten Viertel, hielt Pferde und Wagen und sah den Prinzen von Wales und die russischen Großfürsten bei sich; ich war erstaunt, soviel Glanz bei einem Illustrator zu finden.
Er zeichnete wöchentlich eine Seite politische und gesellschaftliche Satire für den "Figaro", das war seine hauptsächliche Einnahmequelle, für jeden Beitrag erhielt er tausend Franken, was mir ganz märchenhaft erschien.
Ich sah ihn bei der Arbeit. Niemals ist mir wieder ein Zeichner vorgekommen, der nur annähernd solch eine Leichtigkeit und Fertigkeit gehabt hätte, aus dem Kopf zu zeichnen. Er führte sofort mit der Feder aus, ohne Entwurf, ohne Vorzeichnung auf das Papier; die schwierigsten Stellungen und Verkürzungen flössen auf einen Zug auf das Papier. Wenn er nicht zufrieden war, legte er ein frisches, etwas durchsichtiges Papier darauf und zeichnete das Bild von neuem, das alte darunter korrigierend.
Er erzählte mir, daß in London ein neues Witzblatt "Pick-me-up" erschienen war, das fortwährend gestohlene Bilder von uns brachte. Nach einem Diner in seinem Hause wurde ihm die Post gebracht, er nimmt ein blaues Heft unter Kreuzband, die neueste Nummer dieser Zeitschrift, und reicht sie mir lachend: fast alles darin war von ihm und von mir gestohlen; die Figuren ein wenig anders in den Raum gestellt, aber in Strich und Stil genau, da gab es keinen Zweifel.
Wir amüsierten uns sehr, es war gerade, als wäre diese Nummer extra für dieses Diner gemacht worden, um uns eine hübsche Dessertüberraschung zu bieten. Caran d'Ache war der Sohn einer ersten französischen Schauspielerin in St. Petersburg und wahrscheinlich irgendeines Aristokraten, denn er sah sehr vornehm aus, war groß, blond und hatte mehr das Äußere eines preußischen Gardeoffiziers als das eines Franzosen.
Als er sich in Frankreich zum militärischen Dienst stellen mußte, kam er durch Deutschland, blieb einige Zeit in Berlin und sah sich Offiziere und Soldaten genau an, er hat sie dann etwas stark karikiert, aber charakteristisch wiedergegeben. Caran d'Ache heißt auf Russisch Bleistift, sein eigentlicher Name war Poiret.
Er tat ein gutes Werk an mir, er hetzte mich auf, meine Preise zu erhöhen.
Der Frühling kam, alles war in Aufregung, die Weltausstellung sollte eröffnet werden. Sie war bald fertig, an hellen Tagen sahen wir ihre Dächer als große weiße Flecken leuchten.
Ich hatte dafür meine "Glasbläser" eingesandt. Auch am "Salon" beteiligte ich mich mit dem Portrait unseres kleinen Muckel. Er liegt auf dem Boden, wie ich ihn oft sah, ein großes Stück Papier vor sich, das er mit Aquarellfarben bemalt. Der arme kleine Kerl langweilte sich beim Modelliegen und weinte oft dabei, die Tränen flössen dann mit den Farben zusammen und gaben einen bunten kleinen See, er lag mit dem Gesicht dicht darauf, den Pinsel krampfhaft in den Fingerchen. Sein Atem blies den Tränensee an und formte große farbige Blasen daraus, Finger und Gesicht leuchteten in allen Farben.
Ich hatte das Bild als ernsthaftes Bildnis angefangen, und nun war doch etwas Humoristisches hineingekommen. Die Jury des "Salons" hatte sich wohl darüber amüsiert und das Bild aus eigener Machtvollkommenheit: "Le petit Impressioniste" genannt.
Das unangenehme winterliche Paris mit seinen Nebeln und der ewigen Feuchtigkeit verwandelte sich in einen Garten, die Boulevards und Anlagen wurden grün und die Münchener Besucher kamen, die Weltausstellung war eröffnet. "L'Art rétrospektive" war für mich der weitaus interessanteste Teil des Palais d'Art. Sie gab ein überragendes Bild von der Größe der französischen Kunst. Hier erkannte ich die Bedeutung von Ingres als Zeichner; ein ganzer Saal war da mit seinen wundervollen Bleistiftzeichnungen.
Alle Lithographien von Daumier in den schönsten Drucken sah ich, dann die herrlichen Bilder von Corot, Courbet, Delacroix und die Modernen in ihren Hauptwerken, von Manet bis Renoir, den großen Koloristen. Ich sah meinen sympathischen Ateliernachbar nun mit ganz andern Augen an. Er war so einfach und lebte mit Frau und Kindern wie ein Kleinbürger, oft stand er im Korridor und rauchte sein Pfeifchen, und ich hatte nie den Mut gefunden, ihn anzusprechen.
Er war so gar nicht "Malerfürst". Es ging ihm auch gar nicht fürstlich, wir bemerkten das wohl. Er bekam damals, wie ich später erfuhr, kaum einige hundert Franken für ein Bild. Wie war so etwas möglich in Paris! Nun hatte ich alles gesehen und war müde von dieser Stadt. Wir hatten hier manchen Ärger gehabt.
Wir mußten einmal zum Friedensrichter. Eine Näherin hatte ein neues Kleid meiner Frau vollständig verpfuscht. Der Richter benahm sich unverschämt, und wir bekamen unser Recht nicht, trotzdem meine Frau in ihrem Kostüm dastand wie eine Vogelscheuche, die Arme brachte sie nicht hinein, sie mußte sie gespreizt halten.
Unser Elsässer Mädchen, das wir gut behandelten, kam einmal abends mit dem Bier, das sie nebenan geholt hatte. Meine Frau sieht ins Glas und sagt: "Da ist hineingespuckt worden." Ich kann es nicht glauben, bis ich zwei ganz leichte Ringel im Schaum erkenne. Meine Frau ging hinunter in die Wirtschaft, wo der Schenkkellner bestätigte, daß die Elsässerin hineingespuckt hatte, aus Rache, weil sie heute beim Essen keine Austern bekommen hatte.
Der Besitzer unseres Hauses war ein Elsässer mit echt germanisch-alemannischem Äußern, der hatte mit einer Tschechin, die oben neben uns wohnte, ein förmliches Komplott gegen uns geschmiedet. Als er von meiner Frau hörte, daß sie Berlinerin sei, wurde er rabiat. Wir waren im Frühling wieder nach Flandern gegangen; nun hatte er mein Atelier vermietet und wollte uns das Geld nicht zurückgeben, obwohl ich die Miete für den ganzen Sommer vorausbezahlt hatte. Auf meine Mahnung hin schrieb er einen frechen Brief. Ich konnte nichts tun, ich dachte an den Friedensrichter, den wir kennengelernt hatten; so kam ich um mein Geld.
Wir machten kurzen Prozeß: im Herbst fuhren wir nach Paris, packten unsere Sachen, und schickten sie nach München.
So nahmen wir Abschied von Paris, den Parisern und Pariserinnen; von ersteren wurde er uns leicht, für sie brauchten wir keine Träne im Auge zu zerdrücken, aber sie, die Pariserin, war uns so sympathisch erschienen und so ganz anders, als sie von ihren großen Schriftstellern und namentlich den Bühnendichtern geschildert wurde. In den Sittenstücken hatte sie uns gar nicht gefallen, sie schien ja danach nur auf der Welt zu sein, um die Männer zu betrügen und sie zu ruinieren.
Die, welche wir kannten, waren liebenswürdig; wenn sie einen Mann hatten, gute Frauen, und wenn sie ein Geschäft hatten, gute Geschäftsfrauen.
Wie oft saß ich im Restaurant oder sonstwo und zeichnete sie. Dann tat sie, als bemerkte sie es nicht, aber hielt so schön still; nur hie und da schaute sie verstohlen, wie so ganz zufällig, ob ich noch nicht fertig sei. Steckte ich mein Skizzenbuch ein, dann sagte sie einige Worte zu ihrem Begleiter, der kam dann und bat höflich: "Madame bittet, die Zeichnung sehen zu dürfen."
Er zeigte sie ihr, sie schaute sich's an, lächelte und nickte mir zu: "c'est bien!"
Den Pariser sahen wir neben uns im Café und Restaurant, seine hauptsächliche Unterhaltung drehte sich um das Geld. "Quatrevingt-dix, soixante-neuf, quarante-huit," so ging es in einem fort. Im Theater saßen sie im Frack, gelangweilt, blasiert; man konnte nicht verstehen, wie sie den Frauen so den Kopf verdrehen konnten, daß sie sich gegenseitig für sie die Augen auskratzten.
Es gab ja liebenswürdige, wie den berühmten General Boulanger. Er war in seiner Glanzzeit als Kriegsminister; wir hatten ihn beim letzten Nationalfest am 14. Juli gesehen, wie er die große Parade abhielt, das Volk war in Begeisterung, als er die Front abritt. Wir standen auf einer improvisierten Tribüne mitten unter den Franzosen. Ein preußischer Gardeulanenoffizier, eine hohe stattliche Erscheinung, wahrscheinlich der deutsche Militärattaché, ritt dicht hinter dem General. Alles sprach von ihm: "Ein Ulan, ein Ulan." Einige riefen:
"Aber er hat ja keine Lanze." Unter meinem Atelier hatte der offizielle Porträtmaler aller republikanischen Berühmtheiten, Marchand, das seinige. General Boulanger wurde für den "Salon" gemalt, wie er auf seinem Rappen die Parade abnimmt. Eines Tages trägt meine Frau unsern Kleinen die Treppe hinauf, da kommt der General hinter ihr her und sagt: "Madame, er ist zu schwer für Sie", und trägt unsern Jungen die zwei Treppen hinauf.

Internationalismus in München  

Nun saßen wir in München fest; im Anfang wurde es uns recht schwer, namentlich meiner Frau.
München war damals noch recht kleinstädtisch, man nannte es oft die große Kleinstadt oder gar das große Dorf. Es war noch viel Spitzwegstimmung vorhanden. Nachmittags kam etwas Leben in die Straßen, man merkte schon etwas die südliche Luft, auch in der ganzen Lebensführung. Die Straße ist nicht nur zum geschäftlichen Rennen, sondern auch zum Bummeln da, und der Nachmittagkorso erinnert an schönen Tagen an italienische Städte. Da sah man die hübschen Münchnerinnen vor den Schaufenstern stehen, manchmal umgeben von müßigen Herren, und man ging dann in ein Kaffeehaus oder eine Konditorei und blieb dort sitzen, bis die Stunde des Abendessens schlägt. Es gab noch originelle Typen, männliche und weibliche, die jeder kannte und die dem Gesamtbild eine heitere, oft komische Note gaben.
In den Kaffeehäusern saßen auch die Spießer, die Handwerksmeister und andere, die viel Zeit hatten, und spielten Karten. Ging man um diese Zeit in eine Werkstatt und verlangte nach dem Meister, dann hieß es zum Lehrbuben: "Seppl, lauf geschwind", und der holte ihn, der in mißmutiger Stimmung über diese Störung war.
Die Bierkneipen waren abends dicht gefüllt, der Tabaksqualm war unerträglich, zum Ersticken, das Lokal im Winter überheizt und ohne Ventilation.
Alles schwamm im blauen Dunst, daß man kaum die einzelnen Menschen unterscheiden konnte. Das war die Münchner Gemütlichkeit. Auf den Straßen war alles leer, nur vor Anfang oder nach Schluß der Theater konnte man geputzte Frauen im Theatermantel in den Pferdebahnwagen sitzen sehen. Sonst Stille ringsum. Spät in der Nacht ging der Münchner allein oder mit Freunden nach Hause, einige Studenten machten sich laut, dann schlief die Stadt vollends ein. Der Künstler hatte wenig Anregung, die einzige Ausstellung war der Kunstverein, der jeden Sonntag neue Bilder zeigte; es gehörte zum guten Ton, sich diese noch an diesem Tag anzusehen.
Dann kam die Wachtparade auf dem Odeonsplatz, mit drauffolgender Militärmusik an der Feldherrnhalle, der viele Münchner jeden Sonntag zuhörten; der ganze Platz war ziemlich gefüllt. Einzelne Gruppen von Offizieren standen beieinander und ließen ihre Säbel nach allen Seiten ein anmutiges Spiel treiben. Die Studenten zogen in Rudeln, die Kappe entweder vorn, seitwärts oder auf dem Hinterkopf, je nachdem es die Mode gebot. Sie gingen stumm nebeneinander, nur wenn ein anderes Rudel ihnen begegnete, flogen die Mützen automatisch hoch, seitwärts und im großen Bogen zurück auf ihren gewohnheitsmäßigen Platz. Dazwischen gingen die hübschen Münchnerinnen mit und ohne Eltern auf und ab.
In der Ferne erschien uns das rauschende Paris mit seinem Gewoge, seinem ewig hastenden Leben, seinen heiteren Farben und wurde verklärt in der Erinnerung. Die angeborene Selbstverständlichkeit im Verkehr, die Rücksichtnahme auf den andern, die Höflichkeit in der Berührung mit dem Nebenmenschen, die in großen Städten sich ganz von selbst ergibt, war in Paris besonders ausgeprägt. Man zieht die Ellenbogen an sich, damit der Verkehr nicht gehemmt wird.
Und nun in München: ein jeder lief auf der Straße, wie es ihm gefiel, ob rechts, ob links, es war gleich; stieß er mit einem zusammen, dann hieß es: "Oha!", und die Sache war erledigt.
Es war manchmal recht schwer, ohne Püffe vorwärts zu kommen.
Wir dachten oft an das Schöne, das wir in Paris gesehen hatten, auch seine Schattenseiten traten hervor. Die beiden Groteskfiguren: der Friedensrichter mit der Waage in der Hand und der Elsässer mit seinem deutschen Kopf als Deutschenfresser vermischten sich mit den gotischen Skulpturen an der Notre Dame, wie sie den Gläubigen ihre Fratze zeigen. Der berühmte Pariser Geschmack war uns nicht so hinreißend vorgekommen, in den Auslagen der Schaufenster viel süßlicher Kitsch, lange mußte man suchen, bis man einmal etwas Schönes sah. Und hier in München hatte sich ein ganz eigenartiger Sinn für Schönheit entwickelt. Es war wohl der Einfluß der Künstlerfeste und der Künstlerredouten, wo oft das ganze Fest nach einer malerischen Idee arrangiert wurde, der sich alles unterwerfen mußte, daß man auf der Straße, in Konzerten und im Theater so oft Frauen mit einem Farbengeschmack gekleidet sah, den man in Paris selten fand. Dort war alles aufs Bunte und Auffallende und hier auf die Einfachheit gestimmt.
München war damals und ist noch heute die geschmackvollste Stadt Deutschlands; die Münchnerin zieht sich selbst an und wählt die Farben, die gut zu ihr stehen. Ich saß einmal in einem Hofgartencafé, neben mir plauderten zwei einfache junge Mädchen. Eine Bekannte ging vorüber, da sagte die eine: "Schau sie an, die hat keinen Geschmack, sie trägt drei Farben."
Ich mußte mir die Kleine schnell ansehen, so treffend fand ich diese Worte und so freuten sie mich. München war groß in Kostümfesten, im "Geschnas", im Nachahmen alter Stile. Es hatte sich zu sehr der Renaissance ergeben, seit jener Ausstellung, "unserer Väter Werk", und konnte sich nicht so leicht davon losmachen. Da traf man den "Ton" erstaunlich gut, der eigene echte Ton ist oft dabei verstummt. Ein Porträtmaler, ein Sachse, hatte in seinem Atelier eine pompöse Ausstattung mit gewundenen Renaissancesäulen und -aufsätzen. "Donnerwetter", sagte ich, als ich ihn besuchte, "welche Pracht, wo haben Sie denn diese großartige Architektur her?" "Alles Babbe", sagte er.
Das war das Münchner Geschnas, Pappe und Kostüm. Die Malerei bekam etwas von der Muffigkeit der Kneipräume, der Kostümfeste, der Ateliers, der kostümierten Bummelkneipen, von der süßlich-bräunlichen Farbe alter Stoffe.
Ton war alter Ton. Die Maler nannten ihn selbst: geselcht, geräuchert, nach einer Zeichnung Oberländers in den "Fliegenden." Ein Münchner Metzgermeister, protzig, mit dicken Ringen an allen Fingern, steht vor einem alten Meister und schnalzt mit der Zunge: "Die alten Bilder hab' i gern, die haben so'was Geselchts."
Geselcht, muffig, zuckerig gebrannt: Pfefferkuchen, Schokoladenguß.
Die Künstler hockten zu eng aufeinander und kamen zu wenig in Berührung mit der Natur. Sie wurden alle zu gleichmäßig in ihren Anschauungen, einer machte den andern nach. Ich sah einmal am Bodensee eine Gletschermühle; ein großes Loch im Stein, welches sich in der Vorzeit durch Gletscherstürze gebildet hat. In einer solchen Steinhöhle lagen Tausende von Steinen, die hier im Herumsausen in der Vertiefung, in der sie gefangen sind, durch die Bewegung und Reibung aneinander ovale Form angenommen haben. Alle waren oval, groß und klein.
So geht es in großen Künstlerstädten. Es ist kein Zufall, daß die größten und stärksten Künstler abseits von den großen Kunstgletschermühlen gelebt haben, wo sie ihre Eigenart besser bewahren konnten.
Leibl haßte München wegen dieses Haufens und hatte immer Angst, daß sich eine Anzahl in Aibling festsetzen könnte. Es zeigte sich auch in Dachau, Worpswede, wo sich "Schulen" gebildet hatten: einer malt wie der andere. — Der Impressionismus, dem sich einige ergeben wollten, wurde mißverstanden. Man meinte, durch energische Pinselführung das Spontane herauszubekommen, und begriff nicht, daß die Farbe die Hauptsache war. Die blieb bei ihnen, wie sie war, das Neue war rein äußerlich.
Als Böcklin Mode wurde, galt es, die neue Kunst mit ihm zu vermählen. Auch Thoma spukte hinein.
Es gab alle Variationen, fast wie in einer Bar, in der Drinks gemischt werden. Die Ingredienzien waren: Böcklin, Thoma, Schwind, Antike, Moderne. Daraus konnte jeder, der geschickt war, ein Getränk mischen, das als etwas Eigenes gelten konnte. Beliebt war es mit einem Schuß deutschen Gemüts. An Stelle der dreijährigen Ausstellungen waren die jährlichen gekommen, dadurch kam doch mehr Leben nach München. Große ausländische Kollektionen wurden gezeigt. Eine der ersten war die des Amerikaners Whistler, eines der feinsten und interessantesten Künstler jener Zeit. Er hatte fast sein ganzes Lebenswerk gesandt, viele große noble Porträts und auch seine berühmten "Symphonien": in Grau und Silber, in Violett und Blau, in Grün und Orange und so fort, ganz im Sinne der kleinen Münchnerin im Hofgarten. Whistler war ein sehr witziger Kopf, dessen Bonmots in Paris und London bei den Künstlern die Runde machten. Der bekannte Kunstschriftsteller Ruskin hatte ihn angegriffen, seine Symphonien für Humbug erklärt und seine Preise kritisiert. Darauf hatte ihn Whistler verklagt. Der Richter fragte ihn, wie lange er an solch einem kleinen Bild gearbeitet hätte. "Zwanzig Minuten."
"Aber finden Sie nicht selbst, daß dafür der Preis von zweihundert Pfund zu hoch ist?"
"Nein, denn das Bild ist die Erfahrung eines ganzen Lebens." Dann gab er eine lange Erklärung über seine Kunst. Der Richter fragte ihn, ob er meinte, daß die Beisitzer dies alles verstehen.
Whistler setzt sein Monokel auf, mustert die Spießbürger lange, dann sagt er gelassen: "No!"
Auch die Münchner Kollegen von der Jury, die ihm für seine bedeutende Ausstellung unbegreiflicherweise nur eine Medaille zweiter Klasse zuerkannt hatten, bekamen seinen Witz zu fühlen. Er schrieb ihnen: "Ich erlaube mir, Ihnen meinen Dank zweiter Klasse abzustatten." Es kamen die Schweden, frostige Freilichtmalerei mit den harten, grellen Farben der Schneelandschaft. Ein großer Könner dabei; aber ohne Farbe, Anders Zorn, der Sohn eines Deutschen und einer Schwedin. Er warf mit seiner Pinselvirtuosität alles um, was in seine Nähe kam. Die tüchtigen Norweger, eine etwas langweilige, aber ehrliche Bauernmalerei.
Die feinen Dänen mit ihren intimen Interieurs, die an ihre Dichter wie Jacobsen erinnerten, mit Hamershoi an der Spitze, der etwas von Whistler hatte, nur war er stärker in der Farbe. Auch sie hatten so eine Art Zorn, Kroyer, der große Porträts im Freien und Seestücke sandte, alles recht nüchtern und leer, aber von starkem Können.
Die Italiener mit ihrem modernen Kitsch, namentlich die Neu-Venezianer, die gar nicht an ihre großen Ahnen erinnerten. Die Spanier mit riesengroßen Bildern, die Übergabe von Granada und ähnliche Motive, lebensgroße Reiter von theatralischer Komposition und Schreckensszenen aus ihrer Geschichte. Die Herkunft von Velasquez' Übergabe von Breda war deutlich sichtbar.
Die Franzosen, langweilige Salonbilder, die großen Impressionisten bekam man nicht zu sehen.
Die Ungarn mit ihrer Husarenmalerei.
Die Polen mit Wölfen und edlen Polen aus ihrer Vergangenheit.
Die Engländer mit süßlichen Genrebildern und vernebelten Landschaften.
Die Schotten mit ihrer großflächigen Malerei, geschmackvoll, dekorativ, etwas leer; ihr Erfolg in München war groß und verdient. Die Holländer mit ihrer schweren, fettigen Tonmalerei. Und dann die Russen, bunt, barbarisch, naturalistisch. "Ja, was ist denn dös," hörte ich einmal einen Münchner Spießer im Russensaal sagen, "Rußland steht da, und i hab' allweil denkt, in Rußland werd überhaupt net gemalen." "Aber Papa," belehrte ihn seine Tochter, "in Sankt Petersburg wird doch gemalt."
Alles dies schaffte man herbei, mit schweren Opfern, juryfrei und frachtfrei. Und alles wurde angestaunt.

Der Leibl-Kreis  

Fast alles, was in München Gutes war, hatte irgendeinen Zusammenhang mit Wilhelm Leibl. Er hat nie Schüler gehabt, seine Lehre war in seinen Bildern: Verlaßt euch auf die Natur und auf euch selbst.
Der Leiblkreis bestand nicht aus einer Gesellschaft, die sich um den Meister schart, mit ihm lebt und malt; er war überall. Hier saß einer in München, Wilhelm Trübner, ein anderer in Schliersee, Haider; einer in Wien: Schuch; Victor Müller lebte nicht mehr. Hagemeister, der auch geistig dazu gehörte, setzte sich in Werder bei Berlin fest.
Wilhelm Trübner war einer der Stärksten von ihnen. Er wurde damals in München nicht nach Verdienst anerkannt, man rümpfte etwas die Nase: ein Leiblnachahmer. Man tat ihm unrecht, wenn er auch viel von Leibl gelernt hatte und seine Technik übernahm, so war doch seine Farbe ganz selbständig und oft stärker als die des Meisters. Herrliche Frauenköpfe hat er gemalt, aus einem Guß, das war seine Stärke. Er verkaufte noch nichts, sein Atelier mit Nebenraum waren der Stapelplatz für alle seine Bilder, die er gemalt hatte. In glänzenden Goldrahmen hingen sie an den Wänden oder standen in langen Reihen daran. Er ließ sie alt werden, zusammenwachsen, wie es in der Malersprache heißt, auch die Goldrahmen, die durch das Atelier einen feineren Ton erhalten.
Die Primamalerei, die aus einem Guß entsteht, ist wie guter Wein, der mit den Jahren köstlicher wird. Die Farben verlieren das Nüchterne, verbinden sich mehr zum Ton, die Helligkeiten erhalten einen leichten Perlmutterton und die Tiefen einen matten klaren Schimmer. Er stand lachend in seiner Sammlung und wartete auf seine Stunde. Er könnte sich's leisten, er war wohlhabend. Unerschöpflich waren seine aufgespeicherten Schätze, bei jedem Besuch zog er immer Neues vor, es nahm kein Ende. An einem Ehrenplatz im schönsten Licht hing sein Jugendbildnis, von Wilhelm Leibl gemalt, ein Wunderwerk. Immer wieder zog es mich dorthin, es immer wieder zu sehen. Trübner stand dann lächelnd daneben und sagte nur: "Hä, prima, was? Nicht wahr?"
Man sagte immer, seine älteren Bilder wären schöner als seine neuen, worüber er sich sehr ärgerte. Und doch war es so, seine Malerei mußte wirklich erst etwas Alter und Blume erhalten.
Unglaublich war es, mit welcher Geduld er die einfachsten Motive immer und immer wieder malen konnte. Ein Baum mit einer Bank, ein Stück Wasser daneben und ein schöner blauer Himmel darüber, genügte ihm für fünf Bilder, die Staffelei wurde nur etwas anders gesetzt. Zum Schluß sagte er: "So, jetzt hab' ich's", und ging zur nächsten Baumgruppe. Man mußte sich wirklich an der schönen Malerei freuen, sonst wäre es zu eintönig gewesen.
Er warf nichts weg, alles war von gleichmäßiger Güte und alles wurde eingerahmt und aufgehoben. Er war damals in einer Periode, in der seine Figuren etwas Starres, seine Farbe etwas Festes und Hartes hatte. Er malte Genrebilder wie die Wachtparade; mit den voranmarschierenden pfeifenden Schusterjungen. Das lag ihm gar nicht, er brachte das Leben nicht hinein, er hatte eine etwas schwere Hand und konnte nur direkt nach der Natur malen, eine Figur in der Bewegung brachte er nicht heraus. Er hatte den Mangel aller großen Maler seines Schlages, Leibl, Manet, die Figuren nur stillebenartig in der Ruhe malen konnten.
Er fing sein Bild, wie Leibl, an irgendeiner Stelle an und malte dann strahlenförmig die Leinwand zu. Der Ton mußte fertig auf der Palette gemischt und in den Nebenton auf dem Bild hineingezogen werden. Eine zweite Berührung der Stelle mußte möglichst vermieden werden. Stimmte der Ton nicht recht, wenn die Farbe schon trocken war, das tat nichts. "Mit der Zeit wächst er schon hinein", sagte er. Daher die große Frische und Leuchtkraft, aber der Nachteil: eine gewisse Flachheit, etwas Angestrichenes. Manche Bilder von ihm, wie die großen Reiterporträts von Kaiser Wilhelm und anderen, haben wirklich etwas von großen angestrichenen Türen und Gartenzäunen. Wie ich sie kannte aus diesem Kreis: Leibl, Trübner, Sperl, in ihrer Primaidee waren sie fanatisch, sie war der Hauptstoff ihrer Gespräche. Sie kamen mir oft vor wie ein Mönchsorden, dessen Brüder ein Gelübde getan haben und ihr ganzes Leben danach einrichten müssen. Alle andern Malarten waren Ketzerei.
Von Leibl erzählte man sich, daß er schon in der Pilotyschule von einem Mitschüler gesagt habe: "Er ist ein ganz netter Mensch, aber ich glaube, der Hund lasiert." Wenn einer lasierte, das heißt, auf das Trockene wieder darauf malte und das Alte, was darunter war, mitbenutzte und durchschimmern ließ, das war das Zeichen einer vollständigen Talentlosigkeit.
Und auch mit Recht, wer etwas kann, hat solche Witzchen nicht nötig.
Die Ahnen dieser Technik waren die großen alten Meister, die über ein so großes Können verfügten, daß ihre Werke aus einem Guß entstanden; die Leibische Theorie des stückweise Fertigmachens haben sie aber doch nicht angewandt; sie waren mehr Naß-in-Naß-Maler, solange die Farbe frisch war, wurde hineingemalt. Sie malten mehr aus dem Ganzen. Die Farbe behält so ihre herrliche Leuchtkraft, malt man lange darauf herum, wird sie schwer und lehmig. Frans Hals in seinen Gildenbildern, Rubens in gewissen schnell heruntergemalten Stücken, haben in dieser Malerei das Glänzendste gegeben. In der Münchner Pinakothek hängt ein großes Bild von Rubens, trunkener Silen mit Familie. Links im Vordergrund kniet die Silenenfrau und gibt ihren Kindern die Brust. Dieses Stück ist wohl das Großartigste von frischer, lebendiger Primamalerei, das überhaupt existiert, ein wahres Wunderwerk.
Manche Bilder von Tizian sind leicht hingewischt mit wenig Farbe, seine weiblichen Akte namentlich haben dadurch einen Ton und Lichtglanz erhalten, der ganz zauberhaft ist.
Diese Großen haben sicher ihre Bilder nur zeichnerisch vorbereitet, die Malerei ist ohne viel Untermalen und Präparieren entstanden. Diese Primamalerei hat auch den großen Vorzug, daß sich die Bilder tadellos halten, sie springen nicht und dunkeln nicht nach. Man kann die Schrecken der Lasurmalerei an den Lenbachschen Portraits in der Neuen Pinakothek in München sehen, wie da alles gelb und schwarz geworden ist; oder an Makartschen Bildern, die aussehen, als wären die Farben in Quadraten aufgesetzt. Man findet manchmal in kleinen Gasthäusern Schränke im Zimmer, die immer wieder überstrichen wurden und wo die Farbe Risse, Hügel und Täler bildet, weil die unteren Farbschichten weiterarbeiten und die oberen zerreißen. Auf solch einem Schrank bilden sich förmliche Ornamente und Arabesken, genau so ist es mit übermalten Bildern.
Es ist merkwürdig, daß Menzel, der doch in seiner Kunst ein so ordentlicher Mann war, so unsolid gemalt hat. Seine Friedrichsbilder in Sanssouci sind infolge der vielen Übermalungen voller Risse, sie werden mit der Zeit ganz verderben.
Die erste Sorge eines Künstlers muß doch sein, daß sich seine Werke in der Zukunft erhalten. —
Anfangs der neunziger Jahre trat Trübner mit einer förmlichen Wucht an die Öffentlichkeit, mit einer riesigen Kollektion überschwemmte er den ganzen Kunstverein in München und erwarb sich viele Freunde seiner Kunst. Er war ein Goldschmiedssohn aus Heidelberg, ein guter Handwerker und ein guter Kaufmann. Er spekulierte mit seinen eigenen Bildern, er kaufte sie zurück und verkaufte sie wieder, als seine Malerei auf dem Kunstmarkt Geltung bekam.
Er war ein praktischer, klarer Kopf, mit einem gewissen trockenen Humor begabt.
Er hatte sich eine Anzahl etwas komisch klingender, aber im Grunde weiser Sentenzen zurechtgemacht, die er als eine Art Katechismus für sich benutzte und immer wieder aussprach.
"Das Porträt ist der Parademarsch des Malers." "Es ist gleich, ob ein Porträt ähnlich ist, nach fünfzig Jahren weiß doch kein Mensch mehr, wie der Betreffende ausgesehen hat." Und so fort.
An seiner Staffelei stand er mit der Ruhe und Sicherheit eines fest begründeten Könnens; er malte vier Stunden hintereinander ohne Ermüdung, dann war die Sitzung beendet.
Trübner wäre ein guter Lehrer gewesen, und es ist merkwürdig, daß man ihm kein Lehramt an der Akademie gab; eine der vielen Unbegreiflichkeiten der großen Kunststadt München.

Winter in Berlin  

Oft hatten wir Sehnsucht, Großstadtluft zu atmen, dann fuhren wir nach Berlin. Ich hatte das Bedürfnis, in meine Zeichnungen mehr Echtheit zu bringen, und dafür war Berlin mit seinen Offizieren, seinem Westviertel und seiner Parvenüwelt ein sehr dankbares Studienfeld. Manchmal hatte ich die Absicht, dorthin zu übersiedeln, aber mir ging es eigentümlich: war ich in Berlin, gefiel mir München besser, saß ich wieder in München, dachte ich sehnsüchtig an Berlin.
Ich war in der eigentümlichen Lage eines Mannes, der zwei Frauen liebt; ist er in den Armen der einen, denkt er: die andre wäre doch vielleicht besser, und umgekehrt.
Nun war ich aber doch schon etwas mehr Süddeutscher geworden, und der demokratische Zug, der das Münchner Leben beherrscht, war mir schon zu sehr in das Blut gefahren. Ich ärgerte mich hier doch weniger als in Berlin, und deshalb blieb ich immer wieder im letzten Augenblick hier sitzen, aus Angst, daß es mir in Berlin gar nicht mehr gefallen würde, wenn ich einmal ganz dort wäre. Nach und nach hatte ich mir Paris abgewöhnt, ich dachte mir: Paris den Franzosen, wir müssen im Lande bleiben. Man verliert so leicht den Heimatboden unter den Füßen, wenn man ihn zu lange verläßt.
So war ich nun eine Zeitlang halb Berliner und halb Münchner; das hatte seine Schattenseiten: die Berliner hielten mich für einen Münchner und die Münchner für einen Berliner. In Berlin fand ich in diesen Jahren viel mehr das, was mir in München fehlte. Die junge Kunst war dort aufgeblüht, aber in frischerer Art; vielleicht, weil dort vorher nicht viel war, fand sie besseren Boden, allerdings mit dem Nachteil, daß auch alles zu schnell hinaufschoß und das Unkraut ebenso fruchtbaren Grund fand wie der Weizen. Wir wohnten wieder im Hotel Magdeburg; die Gesellschaft war noch dieselbe, die Offiziere und Beamten waren ein wenig avanciert, doch saßen sie noch genau so an der Mittagstafel wie vor fünf Jahren, einige waren verschwunden, ein paar neue dazugekommen. Es wurde noch genau so jeden Sonntag eine Flasche Sekt getrunken und, wenn ein Fähnrich eingeladen war, nahm er den Pfropfen mit zum Andenken an jede Flasche, die er mittrinken durfte. "Habe schon eine ganz hübsche Sammlung", sagte einer. Die alten Junker aus der Provinz saßen noch genau so im Reichstag und Landtag und schimpften nur mehr, denn der junge Kaiser gefiel ihnen nicht. Auch Offiziere und Beamte konnten recht scharf werden, und ich wunderte mich oft, wie offen sie Kritik an ihrem kaiserlichen Herrn übten, den sie doch als ihren von Gottes Gnaden eingesetzten legitimen Herrscher anerkannten.
Auch Bismarck war nicht mehr da, die Herren aus dem Auswärtigen Amt, die früher nicht so entzückt über den "Alten" waren, äußerten sich noch viel unzufriedener über seinen Nachfolger und die neuen Vorgesetzten. "Früher hatten wir einen Tyrannen", sagten sie, "jetzt haben wir lauter Tyrannen über uns."
Es gab große glänzende Hoffeste, wie es der junge Kaiser liebte.
Die jungen Töchter der Abgeordneten kamen nach Berlin, um bei Hofe vorgestellt zu werden; das war eine große Angst und Aufregung, man kam vom Lande herein und sollte sich in dieser neuen Umgebung gut halten und keinen Fehler machen und sich keinen Verstoß gegen die Hofsitten zuschulden kommen lassen.
Im Januar war immer der Subskriptionsball im Opernhaus. Das war der glückliche Abend, den jeder unbescholtene Bürger in der Nähe des Hofes, des Adels, der Diplomatie verbringen durfte.
Ich sah mir diese Feste immer an, wenn ich in Berlin war. Das Gesamtbild war berauschend an Licht und Farbe. Die blitzenden Uniformen, die Nacken und Schultern der stark dekolletierten Damen in den hellen Roben gaben einen funkelnden, bestrickenden Eindruck, aber man durfte nicht genau hinsehen, da war man oft entsetzt. Nicht drei Farben, welche die kleine Münchnerin tadelte, nein, vier, fünf konnte man an einer Dame sehen. Menzel hat das alles mit unendlicher Liebe gemalt. Ich mußte an die Droschken zweiter Klasse denken, die mir ehemals nicht gefielen.
Geschmackvoll auch im einzelnen waren meist die Diplomatenlogen mit interessanten Damen in schönen Toiletten, die hier sehr herausfielen. Nachdem der Hof, der in den ersten Logen saß; den Tee genommen hatte, war Cercle. Der Kaiser ging durch die Menge, sprach hie und da einen Glücklichen an und übersah manchen, der sich auffallend an seinen Weg stellte. Voran ging der Generalintendant mit einem großen Stab, dessen Spitze er auf dem Boden aufstieß, zum Zeichen, daß die Majestäten nahten und Platz gemacht werden solle. Der Kaiser war damals dick, aufgeschwemmt, seine unschöne Figur mit den breiten Hüften und kurzen X-Beinen steckte in der Uniform der Gardehusaren, der rote Attila und die blauen Beinkleider saßen trikotartig am Körper, im blassen Gesicht stand aufrecht der Schnurrbart: Es ist erreicht. Die Bartspitzen gingen hoch bis fast an die Augen und waren darunter abgeschnitten, eine wahrhaft barbarische Bartfrisur, die auch viele Offiziere trugen.
Er machte einen oberflächlichen Eindruck, aber sein Auftreten war nicht unsympathisch, er war einfach, freundlich und liebenswürdig gegen den Angeredeten. Ich sah, wie er einem einfachen Herrn ohne Dekoration, der sich vor ihm in eine dunkle Ecke verzogen hatte, nachging, ihm auf die Schulter klopfte und über sein Ausweichen scherzte. Alles das war nicht posiert und wirkte sympathisch. Ich sah ihn dann oft zu Pferd Unter den Linden in allen möglichen Uniformen; da sah er sehr gut aus, die zu kurzen Beine, die auch sein Vater, der Kaiser Friedrich hatte, störten hier nicht.
Nachdem der Kaiser seinen Rundgang beendet hatte, begann der Tanz.
Die Offiziere der verschiedenen Regimenter der Garde und der Mark standen in Gruppen und gaben eine starke farbige Note. Hier die zinnoberroten Flecken der Zietenhusaren, die hellblauen der Dragoner, die weinroten der Blücherhusaren. Darunter schöne elegante Männergestalten, auch unter den alten Generälen prachtvolle Köpfe, echt preußischer Typus, wie ihn Menzel in seinen Friedrichsbildern verewigt hat.
Unter den Offiziersdamen waren wenig reizvolle Erscheinungen, der süddeutsche Adel hat schönere Frauen. Hier fiel mir einmal eine anmutige, nicht mehr junge Dame auf, die nach der Tanzrunde einen fremdartigen, etwas amerikanisch anmutenden Tanz, wie sie heute Mode sind, ganz allein ausführte. Sie hatte eine große, schlanke, auffallend elegante Figur, rötliches Haar, das allerdings gefärbt sein konnte, und war außerordentlich graziös in ihren etwas wilden Bewegungen, die besonders in dieser Umgebung auffielen. Alles blieb stehen und sah mit Wohlgefallen zu, ja, man rief sogar am Schluß: Bravo!
Ich erkundigte mich, wer diese interessante Dame sei, und erfuhr, daß sie die Bildhauerin Ney war, eine Großnichte des berühmten Marschalls Ney unter Napoleon. Sie war eine der wenigen Frauen, die im Leben Arthur Schopenhauers eine Rolle gespielt haben. In seinen letzten Lebensjahren suchte sie ihn auf und hat seine Porträtbüste modelliert. Schopenhauer war ganz entzückt von der liebenswürdigen Dame, er schreibt von ihr in seinen Briefen, was ich begreiflich fand, als ich sie in ihrem schönen Tanz sah. — Die neue Strömung in der Kunst wurde gepflegt in der Gesellschaft der "Elf", sie ging parallel mit der literarischen, welche in der "Freien Bühne" ihren Ausdruck fand.
Das war der Kreis, in dem ich verkehrte. Die Maler, voran Max Liebermann, waren meine Freunde, und ich fand bei meinem Interesse für die Literatur auch leicht Anschluß drüben bei der literarischen Fraktion.
Diese jungen Schriftsteller waren es auch, welche zuerst mit Wort und Schrift für die neue Malerei eintraten. Vor allem Hermann Bahr, der ein Buch über den Impressionismus schrieb. Freilich, als nach zwanzig Jahren der Expressionismus erschien, schrieb er sofort ein neues über diesen mit den schönen Anfangsworten: So nehmen wir also Abschied vom Impressionismus. Wenn eine neue Richtung aufkommt, und er wird es noch erleben, wird er ein neues Werk schreiben: Nun nehmen wir also Abschied vom Expressionismus.
Er hat es wenigstens zwanzig Jahre lang ausgehalten, nicht wie zwei andere bekannte Kunstschriftsteller, die ich in Berlin im Atelier eines jungen begabten Zeichners traf. Sie überboten sich an Lobpreisungen der Kunst des bescheidenen jungen Mannes, der lächelnd dabei stand und mir zublinzelte.
Einige Monate später besuchten mich beide Herren in München, meine erste Frage war nach dem jungen Freund. "Der hängt uns zum Halse raus", sagte einer. So geht es mit diesen begeisterten Kunstkennern, sie müssen immer etwas Neues haben. Es ist erstaunlich, mit welcher Eleganz sie von einer Richtung in die andere voltigieren. Gerhart Hauptmann galt schon damals für den bedeutendsten unter den jungen Aufstrebenden. Als Mensch war er stiller und zurückhaltender als die ändern, man sah ihm an, daß er sein Werk in sich trug und es ruhig reifen ließ. Wir saßen oft mit ihm abends in stillen Weinstuben, bei ihm gab es keine großen Reden, keine Kampfrufe, er saß still und sinnierte und war ein bescheidener und lieber Gesellschafter. Ebenso sein Bruder Karl, den wir öfter mit ihm trafen. Gerhart Hauptmann hatte damals zwei Stücke zur Aufführung gebracht: "Vor Sonnenaufgang" und "Einsame Menschen"; ein neues, "Die Weber", war vollendet, die Premiere fand noch diesen Winter in einer "Matinee" der "Freien Bühne" statt.
Diese Aufführung war ein großes literarisches Ereignis, der kleine Saal gefüllt mit Anhängern der jungen Kunst, auch einige ältere Berühmtheiten sahen wir, unter anderen Friedrich Spielhagen.
Wir wohnten der Aufführung mit Hauptmann und seinem Propheten Otto Brahm in einer Loge bei, es war das erste und letzte Mal, daß ich in solch aufregender Angelegenheit in der Nähe des Dichters sein konnte. Der Erfolg war bedeutend, jeder Zuschauer hatte wohl das Gefühl: hier ist etwas Neues, Großes. Das äußerte sich auch in der allgemeinen gehobenen Stimmung, die sich während des ganzen Tages fortsetzte und in eine förmliche Siegesfeier ausklang.
Zuerst in einem Festessen, das Gerhart Hauptmann von seinen Freunden gegeben wurde.
Wir wußten nicht, wo wir unsern Jungen lassen sollten, und nahmen ihn mit. Als die Herren, die einen Trinkspruch ausbringen wollten, an ihre Gläser klopften, machte er es ihnen nach; dies veranlaßte einen witzigen Theaterdirektor zu der Bemerkung in seiner Rede: "Gerhart Hauptmann kann es nun nicht mehr schlecht gehen, schon die kleenen Kinder interessieren sich für ihn."
Dann saßen wir bis in die Nacht hinein mit Hauptmann und Brahm, der fortwährend seine fürchterlichen Berliner Kalauer machte. Da kam ein Telegramm von Antoine, dem berühmten Direktor des Théatre libre in Paris, er wolle das Stück aufführen und die Hauptrolle spielen. Das erste deutsche Stück in Paris nach dem Kriege, das war eine Freude. Otto Erich Hartleben machte den Eindruck eines lustigen Studenten, er war sehr trinkfest, seine kleinen Novellen entstanden oft am Kneiptisch. Plötzlich stand er auf, ließ sich Feder und Tinte bringen, setzte sich an den Nebentisch und schrieb ganz schnell, wobei er stoßweise vor sich hinlachte. Das wurde ein neues Werk. Hermann Sudermann war inzwischen ein großer Mann geworden, er stand aber abseits dieser jungen Stürmer, die ihn nicht ganz für voll ansahen. Er wurde mehr als eine Art gefälliges Gegenstück zu Gerhart Hauptmann betrachtet; je mehr dessen Kunst stieg und sein Ernst vom Publikum verstanden wurde, desto mehr sank Sudermann in der Wertschätzung.
Ich hatte ihn lange nicht mehr gesehen. In spätem Jahren machte ich einmal in Begleitung eines meiner Bekannten, eines jungen reichen Lebemannes, der die Stätten des Berliner Nachtlebens mit gewiegter Kennerschaft durchkostete, eine, Fahrt durch all diese lichtdurchfluteten, patschuliduftenden Ballsäle und Weibermärkte. Gerhart Hauptmann, der das auch einmal sehen wollte, schloß sich uns an. In einem großen Redoutensaal sah ich auf einer Brüstung, an der Treppe, die zu den kleinen Speisezimmern führte, Hermann Sudermann stehen, er hatte sich sehr verändert, ein großer schwarzer Vollbart umrahmte sein bleiches Gesicht, man sah es, er war jetzt berühmt. Er war umgeben von einem Schwärm Verehrer.
Das war der gefeierte Schriftsteller, wie er im Buch steht, glücklich und strahlend.
Welch ein Kontrast zu dem einfachen, stillen Hauptmann neben mir.
Ich stieg die Treppe hinauf und begrüßte meinen alten Bekannten, der mich einlud, an seinem Tisch mit Platz zu nehmen. Ich sagte ihm, daß ich in Gesellschaft einiger Bekannter, darunter Gerhart Hauptmann, hier sei. "Oh, das ist ja famos, ich möchte Hauptmann schon lange gern kennenlernen, bringen Sie ihn mir doch." Als ich Hauptmann dies mitteilte, sagte er: "Nein, es tut mir leid, aber es geht nicht."
Wir hatten von dieser Nacht des Großstadtlebens bald genug, war doch gerade in Berlin so etwas besonders häßlich, nüchtern und geschmacklos. Wir verließen unsern liebenswürdigen Führer, der sehr enttäuscht war, als er sah, daß uns sein Himmelreich nicht gefiel. — In Berlin lernte ich auch Frank Wedekind kennen, der damals noch gänzlich unbekannt war. Ein blasses, interessantes Gesicht mit einer merkwürdigen Behaarung: vor den Ohren kurze Koteletten, unter der Nase langer Schnurrbart und am Kinn einen langen Knebelbart. "Der Mann mit den sieben Barten" hieß er. Er fiel damals durch eine gewisse freie Art auf, über sexuelle Dinge zu reden, und ich war empört, als er in später Nachtstunde im Kaffeehaus die ganze Gesellschaft, auch die Damen aufforderte, mit ihm das übelberüchtigste Nachtcafé zu besuchen. Ich bat ihn hinaus vor die Tür und wurde ziemlich ausfallend gegen ihn. Nie werde ich die groteske Szene vergessen. Ich stand wütend mit den Händen fuchtelnd vor ihm. Er lehnte sich kalt am Treppengeländer zurück mich von oben herab mit höhnischer Überlegenheit ruhig messend und dabei nachlässig an seinen sieben Barten ziehend. Es war so komisch, daß ich plötzlich ganz ruhig wurde und ihn stehen ließ.
Später, in München, brachte ihn der Verleger Albert Langen einmal mit in unsere Gesellschaft. Inzwischen hatte ich mit großem Interesse seine Kindertragödie "Frühlings Erwachen" gelesen und vor dem Autor Respekt bekommen. Der Zusammenstoß in Berlin kam mir in die Erinnerung, und ich dachte mir: das wird ein etwas peinliches Wiedersehen werden.
Wie erstaunte ich, als Wedekind freundlich zu mir trat und mich als alten Bekannten begrüßte. Er hatte wohl erfahren, daß ich sein Talent schätzen gelernt hatte, denn ich habe meinen Beifall immer laut und deutlich hören lassen. Wir sind dann gute Freunde geworden, er hatte in der ersten Zeit seines Auftretens als dramatischer Dichter wirklich auch welche nötig und wußte sie zu schätzen. Später habe ich ihn wieder aus den Augen verloren. Das letztemal sah ich ihn, als er in einem seiner Stücke als Zirkusdirektor, im Zylinder, roten Frack, mit einer langen Reitpeitsche in der Hand, seinen Prolog an der Rampe sprach und immer mit der Peitsche in das Publikum hineinknallte. Ich saß ganz vorn im Parkett. Er sah mich an, und ich mußte lachen: er hatte sich einen langen Bart angeklebt ganz in der Art, wie er ihn früher in Berlin trug. Mir kam plötzlich der Gedanke: jetzt könnte er sich revanchieren und mir eins für Berlin versetzen. — Auch die junge Dichtung stand mit dem jungen Kaiser nicht auf gutem Fuß. Er hatte, wie man so sagt, keine Ahnung; Urteile über Kunst gingen von ihm um, die ganz unmöglich waren. Überall redete er hinein. Schon seine Mutter, die Kaiserin Friedrich, war schlimm gewesen; sie hatte unter anderen Böcklins "Marias Klage an der Leiche Christi"' aus der Berliner Nationalgalerie entfernen lassen, weil dieses Bild ihrem Geschmack nicht entsprach. Das hatte er wohl von ihr geerbt, er war unkultiviert und geschmacklos und hat Deutschland auch in Sachen der Kunst sehr geschadet.
Einen Großen schätzte er hoch, Adolph Menzel, aber doch wohl nur wegen seiner Verherrlichung der Hohenzollern. Wenn in München der Schrei der Jungen war: "Plein air!", so war er hier unter den jungen Dichtern: "Natur!" Auch äußerlich markierten sie die Rückkehr zur Natur, indem sie nicht viel auf ihr Äußeres gaben, sie trugen eine gewisse Gleichgültigkeit dagegen zur Schau. Otto Erich trug Sammetjackett und großen schwarzen Schlapphut, in den er kühne Beulen schlug, Bierbaum und die meisten andern sahen ähnlich aus. Erst später, als sich in ihren Naturalismus doch etwas Stil eingeschlichen hatte, kam dies auch äußerlich zum Ausdruck, sie stilisierten ihre Person ins Biedermeierische, trugen riesige Bindekrawatten bis an die Ohren heran, Gehröcke mit Taillen unter den Armen, Westen von geblümter Seide oder kariertem Sammet, darauf lange altmodische Uhrketten, auch wurden ihre Umgangsformen etwas preziöser, das Naturburschenhafte wurde abgelegt, der rauhe Studententon in feinere Causerie verwandelt.
Nur ihre Namen konnten sie nicht ändern, die waren meist recht naturalistisch.
Als ich später ihren großen Antipoden Stefan George kennen lernte und ihn fragte, ob er mit diesen Kollegen verkehre, rief er pathetisch aus:
"Wie ist denn das möglich! Schon diese Namen: Bierbaum — Dehmel — Holz — Schlaf."
Diese Umwandlung ins Ästhetische hatte vielleicht auch Friedrich Nietzsche mit veranlaßt; seine Werke wurden damals bekannt und übten großen Einfluß auf die geistige Jugend aus, auch auf die naturalistische Moderne, die bisher etwas sozialistisch eingestellt war. — Eines schönen Frühlingstages gab es eine große Aufregung in der Mohrenstraße, ich war die Ursache eines Zimmerbrandes. Es kam so:
Ich war um zwei Uhr nachmittags nach Hause gekommen, es war kurz vor meiner Heimkehr nach München, wohin meine Familie schon abgereist war.
Ich verließ das Zimmer, meine noch brennende Zigarette hatte ich in die Zigarrenschale gelegt. Auf dem Tisch lagen immer gehäkelte Spitzendeckchen, über die ich mich fortwährend ärgerte.
Als ich zurückkehrte, stand das Zimmermädchen mit allen Zeichen des Schreckens vor der Zimmertür, sperrte den Mund weit auf und starrte auf das Glasfenster in der Tür, das rotorange glühte.
Ich stieß die Tür auf, da kam uns ein Feuerschein entgegen. Die Gardinen standen in hellen Flammen, das Bett fing an aufzulodern, aus meinem Koffer schlug ein Feuerstrahl, ich hatte ihn immer offen am Fenster stehen, um beim Zeichnen meine Utensilien gleich bei der Hand zu haben, die drinnen lagen.
Das Mädchen konnte sich nicht rühren, es war tatsächlich starr.
Ich laufe, was ich kann, die Treppe hinunter, da kommt mir schon im eiligsten Schritt, starren Auges, der Wirt entgegen, wirft mir einen schnellen Blick zu und verschwindet nach oben.
Unten steht der Portier. "Feuer! Feuer!" rufe ich ihm zu.
"Jawohl, Herr Schlittgen, Feuer. Jawohl, Feuer." Dabei läuft er mit seinem Trostgesicht hin und her, als wären keine Briefe da, sie würden aber schon kommen. Ich überlegte mir: das ist sehr unangenehm; das beste wäre, sich zu drücken, einfach das Hotel zu verlassen, die Sachen sind doch verbrannt.
Da sehe ich durch das Tor draußen auf der Straße schon eine schwarze Menschenmasse stehen, alle Köpfe sind gen Himmel gerichtet. Die Feuerwehr rückt an. Mir wird schwindlig im Kopf. Ich sehe, wie draußen eine große Leiter aufgerichtet wird. Ich kann nicht mehr fort, alles steht dichtgedrängt am Tor. Da kommt ein Polizeileutnant, spricht ein paar Worte mit dem Portier, der auf mich zeigt. Ich war auf alles gefaßt. Sie sollen mich ruhig arretieren, dachte ich, mir ist doch alles verbrannt. Er kommt auf mich zu, grüßt militärisch. "Sie sind der Herr, der das Zimmer angebrannt hat." "Jawohl."
"Bitte Ihren Namen, Geburtsort, Geburtstag, wo ansässig? verheiratet? Wie lange schon hier? Wie ist es passiert?" Ich erzähle es ihm mit ein paar Worten. Hand an den Helm: "Danke."
Jetzt erscheint der Wirt, schwer atmend, mit Glotzaugen, er hatte so schon Anlagen dazu. Gesicht und Hände sind rußgeschwärzt. Er kommt näher. Ich kriege Angst.
Er lacht, klopft mir freundschaftlich auf die Schulter und sagt: "Na, Herr Schlittgen, das ist wieder was für die ,Fliegenden Blätter'.'' Solch ein lieber Mensch war er. In diesem Augenblick schwur ich mir, wohin ich auch komme, in meinem ganzen Leben werde ich die Leute animieren, nach Berlin zu fahren und im Hotel Magdeburg abzusteigen.
Bei der Mittagstafel saß er schon am Tisch, als ich kam, er hatte den Herren schon alles erzählt, und es gab ein großes Gelächter, als hätte ich einen guten Witz gemacht. Einige Tage später hatte ich ein neues Unglück. Fürst Bismarck berührte auf seiner Reise von Wien nach Friedrichsruh Berlin, es war das erste Mal seit seiner Verabschiedung, daß er wieder hierher kam. Ich dachte mir: Bismarck mußt du doch einmal sehen, und ging zum Bahnhof Friedrichstraße. Der Bahnsteig war dicht gefüllt mit Menschen, der Zug fährt ein, ich sehe Bismarck schon am Fenster stehen, im großen schwarzen Hut und heller Halsbinde, so wie ihn Lenbach oft gemalt hat; wie im Bild stand er ruhig da, das Fenster rahmte ihn ein.
Sein Wagen bleibt direkt vor mir stehen, nun konnte ich ihn gut sehen und beobachten.
Der Jubel will sich nicht legen, da winkte er mit der Hand um Ruhe, er will reden. Sofort ist alles mäuschenstill. Und nun legt er los. Alles, was sein Herz bedrückt, wird gesagt, fein, versteckt, aber man fühlt sein Ziel. Vor jedem neuen Hieb, den er austeilt, macht er eine kleine Pause und kaut erst die Bosheit, die kommen soll, als wolle er sich selbst erst ein wenig daran laben. Einer ruft: "Wiederkommen!" Den blitzt er an mit einem Gesichtsausdruck, den ich nie vergessen werde. Seine Stimme war hoch und etwas überschnappend, nicht im Einklang mit seinen breiten Schultern und dem großen derben Kopf. Und echt preußischer Junkerton, mit pommerscher Färbung, mir nicht angenehm.
Fünfzehn unvergessene Minuten waren das, ein starker Eindruck blieb mir zurück von diesem Mann, man fühlt, der ist groß, aber nicht immer bequem für die andern. Und nun setzte ich mich in eine Droschke und fuhr die Friedrichstraße entlang meinem Hotel zu. Als wir Unter die Linden kamen, fährt rechts im schärfsten Galopp ein leeres Lastfuhrwerk heran, mein Kutscher kann nicht mehr ausweichen, die Deichsel des Fuhrwerks fährt mit aller Gewalt unter meinen Sitz.
Ich werde hochgeworfen und fliege über den Kutschersitz hinab auf die Straße. Da sitze ich, ohne besondere Schmerzen, es ist gut abgegangen.
Das Fuhrwerk fährt eilig davon, dem Schloß zu, wir hinterdrein.
Am Denkmal Friedrichs des Großen holten wir es ein. Ein Schutzmann saß schon bei uns, er war gleich an der Unglücksstelle eingestiegen. Jetzt Aufnahme aller Namen der Beteiligten. Ich bin der letzte.
Der Schutzmann schreibt, da hält er plötzlich inne und besinnt sich.
"Schlittgen. — Den Namen kenne ick doch. Haben Sie nich vorjestern das Hotel Magdeburg anjesteckt?" "Jawohl."
Nun sieht er mich freundlich lächelnd von der Seite an, klopft mir vertraulich auf die Schulter und sagt: "Wissen Sie wat, Herr Schlittgen, reisen Sie von Berlin ab, Sie haben hier keen Jlick!"

Im "Schwarzen Ferkel"  

Ein junger norwegischer Maler, Edvard Munch, erschien in Berlin und stellte eine Kollektion Bilder aus, die ein gewisses Aufsehen erregten.
Die norwegische Malerei, wie wir sie von den Ausstellungen her kannten, war gesund, robust, ein wenig nüchtern. Diese hier trug auch durchaus nordischen Charakter, etwas Ernstes, Schweres, Dickflüssiges. Landschaften mit Figuren, Menschen in erregten Stimmungen; ein krankes junges Mädchen im Lehnstuhl am Fenster, das Grausen in der Natur, ein Aufschrei; eine einfache weißgetünchte Stube mit der toten Mutter im Bett; dunkelblaue Flecken, in denen einige helle schwimmen, aus denen man Menschen mit Köpfen herausfinden kann: die Angehörigen; eine Nachtstimmung in einem Fjord, nordisch hell und klar fast wie am Tag, ein weißgekleidetes Mädchen in den großen Strandsteinen, dämmerig, gespenstisch. Lebensgroße Porträts mit verzweifeltem Gesichtsausdruck, etwas traurig Ergreifendes; die Farbe von den Impressionisten gelernt, die Komposition dekorativ; die Landschaften groß gesehen, manchmal etwas zu summarisch; der Beschauer muß das Bild fertig machen. Oft ein starkes Naturgefühl darin, diese Bilder gefielen mir am besten, vieles hatte zu stark literarische Ideen. Auch Schwarzweißblätter, worin das Erotische, die Liebe, die Umarmung, der Kuß einen breiten Raum einnahmen; die Liebenden oft wie am Ende eines Romans, vor dem Selbstmord.
Dann Bilder aus der Großstadt, auch hier der Mittelpunkt das Weib; in den Animierstuben und Nachtcafés, echt, trostlos, wie in der Natur. Man kann sich denken, wie so etwas damals einschlug. Die Alten machten großen Lärm, auch in den Zeitungen ging es scharf her über den armen Munch, sogar seine Persönlichkeit wurde angegriffen, er sei verdorben, degeneriert, ein Säufer, ein junger Mann, der sich nächtelang in wüsten Nachtlokalen aufhalte.
Ich lernte ihn kennen, er war ganz anders. Ein feiner, gebildeter Mensch mit bescheidenem Auftreten, eine starke Natur, vom Alkohol etwas angegriffen.
Wir waren einige Kollegen, die sich seiner annahmen, darunter Walter Leistikow, der mich mit ihm bekannt machte. "Kommen Sie zu uns in ,Der swarze Ferkel'", sagte er, "da bin ich immer." Dort saßen seine Landsleute aus dem Norden zusammen. Es war ein unscheinbares Weinlokal in der kleinen Wilhelmstraße, die in der Nähe des Brandenburger Tors "Unter den Linden" ihren Anfang nimmt.
Über der Tür hing ein formloses, schwarzes Ding, das im Winde hin- und herpendelte. Ein dankbarer Student aus dem Kaukasus hatte dem Wirt eine Hammelhaut mit Wein gefüllt aus seiner Heimat geschickt, der hatte sie aufgeblasen und als Wahrzeichen über den Eingang seines Lokals gehängt, das August Strindberg danach im Shakespeareschen Stil genannt hatte: "Zum schwarzen Ferkel". Drinnen drei Stuben, zwei links, eine kleine rechts, dazwischen ein Raum mit Büfett, auch zum Ausschank über die Straße. Ganz einfach, aus Alt-Berlin. Das kleine Zimmer hatte nur ein Fenster, daran stand, etwas erhöht, ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Hinten an der Seite ein uraltes Sofa, aus dem die Roßhaare heraushingen, der Wirt sagte, bei seinem Großvater hätte Heinrich Heine darauf gesessen; wir sagten, seit der Zeit wäre es wohl auch nicht bezogen worden, aus Pietät.
An den Wänden von unten bis oben an die Decke große Stellagen, die ganz dicht mit Wein- und Likörflaschen angefüllt waren, deren Farben in allen Tönungen durch den Raum funkelten. Der Wirt hatte den Ehrgeiz, alle Weine und Liköre der Welt zu führen, und dies war sein Museum.
Auch das Fenster, das auf die Straße hinausging, war mit bunten Flaschen bis oben hinauf bestellt. Das war ein Funkeln und Farbenspiel, wenn hier die Vormittagssonne durchleuchtete und die bunten Farbenflecke über die Trinker krochen, die hier beim Frühschoppen saßen. Vor dem Sofa stand ein runder Tisch, hier war der Sitz der allabendlichen Zusammenkünfte der nordischen Künstler- und Schriftstellergemeinde, von den Spießbürgern auch "Bohème" genannt.
In der Mitte des Sofas saß die Aspasia des Kreises, eine hohe schöne Erscheinung, deren Kunsturteil von allen hochgeschätzt wurde und dem sich anscheinend sogar Strindberg beugte.
Sie verheiratete sich später mit einem polnischen Schriftsteller, der auch hier Stammgast war, floh dann mit einem Russen, der sie in einem Anfall von Eifersucht erschossen hat.
Neben dieser jungen Dame war hier die Hauptperson August Strindberg, er war der Meister aller, der Dichter und der Maler. Er saß meist, auch abends, am kleinen Nebentisch und hatte irgendeinen jungen Verehrer vor sich; der junge Pole nannte ihn: "Mein Vater". Zwischen den beiden stand in einem Weinkühler eine Flasche schwedischer Punsch, wovon Strindberg seinem Freunde und sich in kleine geschliffene Wassergläser eingoß, er nahm von Zeit zu Zeit ein Schlückchen. Am großen Tisch war er meist still und hörte zu, hier an seinem kleinen war sein Reich, und er sprach fast immer, leise, fließend, die deutsche Sprache beherrschte er noch nicht, doch brachte er das, was er konnte, außerordentlich gewandt vor.
Er hatte einen guten Kopf. Der obere Teil merkwürdig schön, der untere schwächlich, fast weiblich. Eine prachtvolle Stirn mit reichem Haarwuchs, schöne blaue Augen von einem milden, fast traurigen Glanz, ein Stupsnäschen, ein ganz kleiner, zu stark geschwungener Mund mit einem Bärtchen darüber, das nach schwedischer Art aufgezwirbelt war, und ein winziges Kinn. Oben mächtig und schön, unten noch nicht fertig. Strindberg war damals in Deutschland noch nicht so sehr bekannt. Ich hatte von ihm kleinere See- und Strandgeschichten gelesen und den Roman: "An offener See", ein hervorragendes Werk, doch ein wenig kalt.
Da saß er unter lauter Norwegern, Schweden waren hier nicht zu sehen. Mit denen stand er auch auf Kriegsfuß, die Norweger kämpften für ihre Unabhängigkeit und er mit ihnen gegen seine Landsleute. Er konnte recht scharf werden, man fühlte, daß er in seiner Heimat viel gelitten hatte. Er beherrschte alle Gebiete des menschlichen Wissens und Denkens, und Leute der verschiedensten geistigen Berufe unterhielten sich mit ihm auf ihrem Gebiet lebhaft und angeregt.
Ein junger Arzt und Privatdozent, Dr. Schleich, der später ein berühmter Gelehrter wurde, sprach oft mit ihm über naturwissenschaftliche Fragen und konnte nicht genug seine Genialität rühmen.
Durch seine Werke war er als Weiberfeind verschrieen, doch fand ich ihn gegen Damen immer von einer natürlichen, fast schüchternen Artigkeit.
Er war ohne Mittel nach Berlin gekommen und hatte sich wohl Hoffnungen gemacht, die sich nicht erfüllten; er sprach viel und verbittert vom Theater und den Theaterdirektoren. Als endlich in einem kleinen Theater ein Stück von ihm aufgeführt wurde, saß er abends ganz ruhig im "Schwarzen Ferkel".
Auf meine erstaunte Frage, weshalb er nicht im Theater sei, sagte er traurig: "Ich habe mir einmal in meinem Leben ein Stück von mir angesehen und nie wieder!" Es ging ihm nicht gut, bald mußte in diskreter Weise für ihn gesammelt werden. Er malte auch, wie er überhaupt ein starkes Interesse an der bildenden Kunst hatte.
"Kommen Sie doch zu mir", sagte er einmal, "Sie müssen meine Gemälde sehen."
Er bewohnte in der Nähe des "Schwarzen Ferkels" in einer kleinen Pension ein ganz einfaches Zimmer, an seinem Schreibtisch hing ein großer Pompadour, der bekannte "Sack", in dem er seine Notizen nach der Natur sammelte, die er sich machte, sobald ihm etwas einfiel, auch Beobachtungsskizzen nach Menschen, wenn er in Gesellschaft war. Manchmal schrieb er ganz schnell etwas auf einen kleinen Zettel. Auf einer primitiven Staffelei stand ein Ölbild im Goldrahmen.
Beim ersten Blick dachte ich, es sei eine Wiese, doch hoben sich darin helle, wellenartige Streifen ab. Ich stand und wußte nicht recht, was ich sagen sollte. Strindberg zog schon etwas die Brauen zusammen. "Nun, wie gefällt Ihnen das Wasser?"
"Es bewegt sich nicht recht, es hat etwas Festes, wie eine Wiese."
"Die Ostsee ist so", sagte er bestimmt. Er zeigte mir noch schnell ein anderes Bild, das war eine wirkliche Wiese. Er sprach dann von etwas anderem, er war gekränkt. Er bildete sich ein, seine Malerei sei gut, sie war seine "Ingres-Violine". Auch der große Maler Ingres soll sein Violinspiel für besser gehalten haben als seine Malerei. Strindberg war wohl verwöhnt, er konnte und wußte so viel, daß er dachte, er könne auch malen. Und etwas eitel war er auch.
Ich lernte später einmal flüchtig Björnstjerne Björnson kennen, der war von einer geradezu kindlichen Eitelkeit, er konnte keinen Widerspruch vertragen und bildete sich ein, ganz Europa müsse nach seiner Idee leben. Auch Henrik Ibsen sah ich oft in München neben mir in meinem Stammcafé "Maximilian" sitzen, sein Zylinderhut mit einem kleinen Spiegel innen am Deckel lag immer neben ihm auf einem Stuhl; wenn er ging, schaute er hinein und ordnete sich seine mächtige Haarfrisur, auch sonst äugelte er hie und da ein wenig in den Zylinder. Merkwürdig ist gerade bei solchen Menschen doch die Eitelkeit. —
Munch, Strindberg und ich waren einmal abends in einer Gesellschaft, wir hatten uns schon verabschiedet und wollten das Haus verlassen, um noch in das "Schwarze Ferkel" zu gehen.
Da kommt gerade eine hübsche junge Dame im Theatermantel, sie erzählt im Wiener Dialekt der Dame des Hauses begeistert von Sudermanns neuem Stück, dessen erste Aufführung sie gesehen.
Wir werden noch schnell vorgestellt. Als sie den Namen Strindberg hört, stutzt sie, schaut den Dichter groß und lange an und er sie ebenso, dann zieht er seinen Überrock aus und sagt zu uns: "Ich komme nach."
Er kam nicht, wir sahen ihn überhaupt lange nicht mehr, aber mit der Dame zusammen überraschten meine Frau und ich ihn einmal in einer Ecke in der Künstlerklause; als ich ihn grüßte, lächelte er glücklich, nun wußten wir es. Diese Dame wurde seine zweite Frau. Mit der ersten hatte er schlimme Erfahrungen gemacht, und nun sollte sich mit der zweiten alles wiederholen.
Es dauerte gar nicht lange, da ließen sie sich nach heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit wieder scheiden. Hatte nun Strindberg kein Talent zum Ehemann oder war er vom Unglück verfolgt, darüber konnten wir nicht entscheiden.
Jedenfalls war bei ihm eine starke Zuneigung zum Weibe zu bemerken, er wurde enttäuscht, und daraus entsprang der Haß gegen das ganze Geschlecht. —
Auch Munch ging es nicht gut, er war in ewiger Geldnot. "Ja", sagte ich ihm, "Sie erzählen doch immer, daß Sie so viele Angebote auf Ihre Bilder haben, weshalb verkaufen Sie denn nichts?"
"Ich habe zu hohe Priesen", sagte er in einem so traurigen Tone, als ob er selbst an diesem Unglück litte. Er wohnte immer in Pensionen und zog fortwährend um; die Pensionsmütter konnten, wie es scheint, seine Malerei nicht vertragen.
Seine Bilder standen im Zimmer herum, auf dem Sofa, oben auf den Kleiderschränken, auf allen Stühlen, auf dem Waschtisch, auf dem Ofen: hier starrte einem ein verzerrtes Gesicht entgegen, dort wurde man erschreckt von einem Gewirr von Farben.
Oft malte er noch nachts, wenn er spät nach Hause kam, um irgendeinen Eindruck festzuhalten; dann lief man morgens, wenn man ihn besuchte, in eine Palette oder stieß in ein frisches Bild, das irgendwo angelehnt war, wo es unmöglich stehen konnte.
Er war ein unpraktischer Mensch und allen materiellen Dingen gegenüber hilflos wie ein Kind. Seine Reise nach Frankreich einige Jahre vorher hatte er angetreten mit einer Geldsumme, daß er bei seiner Ankunft in Paris gerade noch zehn Franken hatte, und keine Aussichten etwas zu verdienen, und er kam doch durch. Er blieb dabei immer anständig und war keiner der zu vielen "Bohèmiens", die aufs Geratewohl pumpen und das Wiedergeben für eine Angelegenheit talentloser Menschen halten. Er erzählte mir, daß er einmal in einem kleinen Gasthof an der Riviera, in der Nähe von Nizza, wohnte, wo er täglich seine Rechnung zahlen mußte. Nach seiner Gewohnheit lag er morgens im Bett und schrieb Briefe. Dabei stieß er das volle Tintenfaß um, und der Inhalt lief über das Federbett. Nun blieb er den ganzen Tag liegen und malte all die großen blauen Karos des Musters mit Ölfarbe nach, damit man es nicht merken sollte. Es war eine fürchterliche Arbeit, bei keinem seiner Bilder hat er sich soviel Mühe gegeben. Abends zahlte er und schlich sich aus dem Haus. — Er malte viel aus der Erinnerung. Wir waren einmal auf einem Ball. Darauf entstand am nächsten Tag ein Bild: wie sich der Abend in dem Kopf eines Verliebten festgesetzt hat. Ein wirres Gewoge von Tanzenden im betäubenden Licht des Ballsaals. Unklare Konturen, alles ist verwischt und schon vergessen.
Mitten darin eine Frauengestalt, scharf in der Zeichnung, das einzige Feste im Bild, das einzige, was geblieben ist. Eine gute Idee für Schwarz-weiß, aber als gemaltes Bild übersteigt es doch die Grenzen der Malerei. —
Als wir nach diesem interessanten Winter dem Frühling zu Berlin verlassen wollten, gaben uns die Skandinavier einen echt nordischen Abschiedsabend in der Pension, in der sie fast alle wohnten.
Da gab es eine Fülle von kalten, raffinierten Speisen und kalten und heißen Getränken in steter Abwechslung, die erstaunlich war. Auch für edle geistige Genüsse war gesorgt, es war ein sehr schöner Abend.
Als wir spät in der Nacht heimkehrten, war der Kopf doch etwas schwer. Der Schriftsteller Gunnar Heiberg, bekannt durch ein satirisches Theaterstück "König Midas" auf Björnson, begleitete uns. "Nun, wie hat Ihnen unser skandinavischer Abend gefallen?" "Es war reizend. Machen Sie da oben öfter solche Abende? Das ist doch gefährlich?" "Ja, was sollen wir tun", sagte er melancholisch, "die Winterabende sind bei uns so lang, und dann glauben wir nicht an Gott." -
Als ich nach einigen Jahren das "Schwarze Ferkel" wieder besuchte, war die nordische Gesellschaft in alle Winde verstreut, das Lokal erweitert und Neuberliner Glanz eingezogen. Ich war etwas traurig, als ich diese verlassene Stätte wiedersah, wo wir so fröhliche und anregende Stunden verlebt hatten.
Auch der Wirt bedauerte, daß alles das verschwunden war. In einem Zimmer hing in einem breiten Goldrahmen "die Ostsee" von Strindberg. Ich freute mich, das Bild wiederzusehen. Der Wirt fragte mich, ob es wohl etwas wert sei und wieviel. Ich sagte ihm, Strindberg sei inzwischen ein berühmter Mann geworden; wenn auch das Bild keinen Kunstwert habe, so wäre es doch sehr interessant, und unter den Verehrern des großen Dichters fänden sich gewiß Liebhaber dafür, und nannte ihm einen ungefähren Preis. "Na, dann is jut", sagte er erleichtert. — Nach Jahren traf ich Munch wieder in Weimar beim Grafen Harry Keßler, dessen Porträt er malte. Bei einem Herrenfrühstück im Hause dieses Kunstfreundes, als wir uns vom Tisch erhoben, sagte Munch plötzlich: "So muß ich Sie malen, lebensgroß. So heiter wie jetzt." Er bewohnte im Hotel "Zum Elefanten" ein kleines Zimmer, vor dem Bett lag ein kleiner Bettvorleger, das war der ganze Zimmerschmuck.
Die Leinwand kommt, zwei Meter hoch. Morgens zehn Uhr soll angefangen werden, ich erscheine pünktlich. Munch liegt noch im Bett. Er sieht seine Hände an und sagt: "Ich bin noch zu nervös, muß mich erst beruhigen." Er bestellt beim Kellner eine Flasche Portwein. "Bitte, kommen Sie in einer halben Stunde wieder."
Als ich zurückkehrte, war die Flasche leer. "So, nun geht's." Er fängt an, mich aufzuzeichnen, es ist so eng, daß er kaum zurücktreten kann. Nach jeder Sitzung mußten die Kellner das Bild in den Hof hinuntertragen, damit er die Fernwirkung beurteilen konnte. Am Gitter zur Straße standen die Weimarer und sahen zu.
Ich war im Gesellschaftsanzug mit Zylinder. Die Norweger haben es immer mit dem Zylinder. Munch ging nie ohne Zylinder, der alte Ibsen in München auch nie, und mein Freund Bernt machte sogar seine Hochzeitsreise in die Alpen im Zylinder.
Munch wollte aus dem Bild ein echtes Künstlerporträt machen; etwas Lustiges, wie es für mich paßte. Es dauerte aber zu lange, ich wurde müde und brachte den heiteren Gesichtsausdruck nicht mehr zustande. Munch konnte sich die größte Mühe geben und allerhand Witze machen, es ging nicht mehr, das Lachen wurde gequält.
Aus dem armseligen Bettvorleger, der unter meinen Füßen lag, wurde auf dem Bild ein prachtvoller orientalischer Teppich, den verschossenen gelblichen Anstrich des Zimmers verwandelte Munch in ein edles Zitrongelb, mein Gehrock wurde reines Ultramarin. Der Teppich unter mir, der in Wirklichkeit einige verschossene Farben zeigte, erhielt große gelbe, blaue, orange, rote Flecken; ein Kollege sagte, es sähe aus, als wäre ich unten auf der Straße in etwas getreten, was ich nun hier auf dem Teppich austrampele. Das Bild wurde sehr gerühmt, Graf Keßler fand es genial. Andere, auch ich, konnten nicht finden, daß es für mich charakteristisch war, der Kopf hatte einen recht gewöhnlichen, materiellen Ausdruck. Es wurde in der Berliner "Sezession" ausgestellt. In "Kunst und Künstler" fand Helfferich, daß der grimmige Ausdruck in meinem Kopf prachtvoll wiedergegeben sei. Fritz Stahl sagte im "Berliner Tageblatt", das Bild hätte etwas von einem riesigen Plakat: der stärkste Mann Europas! Munch selbst hielt viel davon, erklärte Strindbergs großes Porträt in der Nationalgalerie in Stockholm und das meine für seine besten Männerbildnisse. Er schickte es auf alle großen Ausstellungen, so hatten die Leute überall Gelegenheit zu sehen, welch netter Mensch ich bin. Mein Freund Bernt, der Norweger, sah es auch einmal bei einer solchen Gelegenheit. Er kannte mich seit zwanzig Jahren sehr gut, und sein Urteil war: "Habe dein Porträt von Munch gesehen, habe mich krank gelacht."
Es gab mir immer einen kleinen Stich, als ich in der Zeitung las: es ist in Wien, in Hamburg, in Dresden. Ich beruhigte mich erst, als ich erfuhr, daß es irgendwo eine Galerie erworben hatte. —
Kürzlich sah ich das Bild in einer deutschen Munchbiographie wieder, und da wurden alte Erinnerungen wach. Ich sehe mir auch die andern Reproduktionen an, viele Bilder sind dabei, die ich von früher her gut kenne.
Die Zeit hat schon daran genagt! Ja, all diese Ideenbilder: die Stimme, Kuß am Meer, Geschrei, Eifersucht, der Tag danach, Loslösung, Omega und das Schwein, Alphas Entsetzen, wie gesucht und wie literarisch kommt uns das heute vor. Und diese zusammenfließenden Figuren, diese summarischen Landschaften: Ballonbäume, Ballonlüfte, nein, das ist doch zu wenig. Die Farbe flüchtig hingewischt. So, die Untermalung: morgen geht's los, dann wird es fertig gemacht. Nein, es ist fertig, das ist ja gerade das Große dran, mach dir's selbst fertig, wenn dir's nicht behagt, in deinem Kopf, verehrter Beschauer. Das ist aber sehr leicht und sehr billig. Die Porträts sind zum Teil gut, manche sogar sehr gut, besonders die graphischen; die Farbe liegt ihm doch nicht so gut, deshalb hört er auch auf, wenn die Malerei anfängt, schwierig zu werden.
Meist ist seine Auffassung der Menschen zu outriert: das ist der Dichter Strindberg; er sieht weniger den Menschen an, er denkt an sein Werk. Das ist der Dichter Holger Drachmann, das der Maler Schlittgen, alle malt er ziemlich wüst, nur sich selbst macht er edel. Strindberg mit dem feinen Kopf, welch eine klobige Nase hat er ihm hingesetzt und wo ist der schöne, tiefe Ausdruck seiner Augen, der mir heute noch, nach dreißig Jahren, in der Erinnerung nachklingt. Das war Strindberg, sein Auge, das hätte Munch geben sollen. Wenn er das Wesen des Künstlers oder des Dichters aus seiner Kunst ziehen wollte, weshalb findet er keine andere Form, eine Allegorie oder was weiß ich? Müssen da gerade die Köpfe der Unglücklichen herhalten? Da versteht man, daß sich Strindberg wegen seiner Porträts mit Munch verfeindete.
Und die Farbenanschauung, welch ein Unheil hat er damit angerichtet, denn er ist einer der Väter dieser Art von Synthese, die heute zum Plakat geworden ist. Alles reine Farben, die Köpfe hellkadmium, blaue Konturen, der Hintergrund smaragdgrün, das knallt, das haut alles neben sich nieder.
Der Verfasser der Biographie sagt: "Munchs Holger Drachmann ist nichts als ein eitler Geck, die schönen Linien, die er ihm in das Gesicht gezeichnet hat, die breitfallende Krawatte und die Wolken, die hinter dem Kopf aufsteigen, sind wie der hohle Klingklang eines schlechten Verses." (Weshalb verewigt er ihn denn, wenn er ein so schlechter Dichter ist?) Der Deutsche Schlittgen wird als Gegensatz zu einem feinen Franzosen gemalt. "Der Franzose''' heißt das Bild, wohlgemerkt.
"Was bei dem Franzosen feinnervige Zartheit ist, wird bei dem Deutschen brutale Schwere.
Breit stehen die Füße auf, und schwere Beine tragen die Last des Körpers. Auch die Ohren dürfen nicht abstehen." (Gott sei Dank, wenigstens Verbrecherohren habe ich nicht.) "Die Form des Kopfes schließt sich zu einer Kugel. Der andere senkt leise den Blick, dieser hebt ihn. Wo der eine sich scheu in sich zurückzuziehen scheint" (wie das die Franzosen im allgemeinen gern tun), "ist der andere ganz Selbstbewußtheit und aggressive Gewalt." (Natürlich, der Nationalcharakter der Deutschen!)
"Leider wurden die Bildnisse voneinander getrennt." (Ja, schade, da hätte die Menschheit doch ein getreues Bild des französischen und des deutschen Volkes.) Und weiter:
"Die feuchten Lippen dieses Gunnar Heiberg sind ganz niedere Sinnlichkeit." (Ei, ei, Munch, er ist ein guter Freund.) "So leben diese Menschen weiter. So werden sie künftigen Zeiten lebendig bleiben. Sie sind das überzeugende Bild einer Persönlichkeit." Ja, so leben wir weiter, bis in alle Ewigkeit als die Opfer Munchs. Wir bedanken uns vielmals dafür.

Ausflug nach England  

Auf dem Wege nach Flandern besuchte ich im Frühjahr 1891 wieder Paris, da war seit unserm Weggang manches verändert. Der Impressionismus hatte offizielle Anerkennung gefunden. Nach langen Kämpfen war es gelungen, wenigstens einen Teil des "Legs Caillebotte", eine Auswahl der schönsten Impressionisten-Bilder, in das Luxemburgmuseum zu bringen, ein Teil war abgelehnt worden. Auch Manets "Olympia" war von Kunstfreunden dem Museum geschenkt worden. Es hatte eines starken Druckes der Kenner und der Presse bedurft, um die Behörden zu zwingen, diese Meisterwerke als Geschenk anzunehmen, was uns heute ganz unbegreiflich erscheint. Der Neo-Impressionismus war im Anmarsch. Das verfeinerte Sehen machte konsequenterweise nicht halt bei dem Erworbenen, es war der Drang da, die Farbe immer reiner und leuchtender zu steigern.
Claude Monet hatte draußen in der Natur, um die volle Leuchtkraft der lichtbestrahlten Landschaft zu erreichen, angefangen, die Farben nicht mehr zu mischen, sondern so, wie sie aus der Tube kommen, auf die Leinwand zu streichen, womit er einen größeren Farbenglanz erzielte. Seurat und Signac bauten diese Idee wissenschaftlich aus und brachten sie in ein System der Farbenteilung, es wurden sogar theoretische Abhandlungen und Broschüren darüber geschrieben.
Die Gegner nannten diese neue Malerei die Konfettimalerei; solch ein Bild sah wirklich oft aus wie eine Straße nach einer Konfettischlacht.
Diese Farbenteilung hat uns einen großen Segen gebracht, sie reinigte die Paletten von Schmutz und schweren Tönen, die Augen mußten sich daran gewöhnen, klare und reine Farben zu sehen.
Die Jungen hatten sich von den alten Salons losgesagt, wo sie doch abgelehnt wurden, und den "Salon des Indépendants" gegründet. Die Regierung hatte ihnen die Maschinenhalle der Weltausstellung zur Verfügung gestellt, die größte Halle der Welt, der richtige Raum, um ein Bild zu genießen!
Da hingen sie, die armen Bilder, bis hoch hinauf, alles durcheinander, alle Richtungen, für jeden Geschmack: von den wildesten Farbenorgien bis zur zahmsten Talentlosigkeit, alles friedlich nebeneinander. Alles war angenommen worden, es gab keine Aufnahmejury. In diesem Hexensabbath waren einige Inseln; wie in der Demokratie, wo sich doch wieder eine Aristokratie bildet, kleine Gruppen außerordentlich guter Bilder zusammengehängt, abgesondert: Toulouse-Lautrec mit seinen hervorragenden Werken, die ersten Neo-Impressionisten und manche Jüngere, die später berühmt wurden; auch Edvard Munch sah man hier.
Diese Ausstellung war wie der Ausbruch einer lang verhaltenen Wut und Verzweiflung, unterdrückt zu werden und nicht ans Licht zu können. —
Mein Freund Hans Olde war gekommen, wir wohnten wie früher oben auf dem Montmartre. Eines Morgens gingen wir durch eine kleine Seitengasse der Rue des martyrs in die Stadt hinab.
Da standen wir wie gebannt vor dem Schaufenster eines kleinen Farbenreibers, in der Mitte lagen ein paar Farbtuben und einige Pinsel, das Zeichen seines Berufs, an den drei Seiten hingen wilde Bilder von einer Kraft und einem Glanz der Farbe, wie wir bisher fast nichts in der Malerei gesehen hatten.
Südliche Landschaften in brennender Sonnenglut und Stillleben von großem Bildgeschmack, teilweise stark vereinfacht und stilisiert und die vorgestellten Gegenstände zu diesem Zweck mit dicken blauen Konturen umzogen, eine neue, kühne Art, das Bild ins Dekorative zu steigern. Ein Zettel war angebracht: große Kollektion im Laden. Wir traten ein. Das kleine Lokal, das sich länglich bis zum Hof hinzog, wo es von einem großen Fenster beleuchtet wurde, war dicht gefüllt mit einer Masse ungerahmter Bilder. Ein kleines Mütterchen, mit dem Aussehen einer alten Bäuerin aus der Normandie, führte uns und redete in einem fort in uns hinein: "Nicht wahr, Messieurs, ein guter Maler, ein großer Künstler. Der gute Junge, so schlimm zu enden. Ich sagte es immer meinem Mann, wir werden schon einmal unser Geld erhalten, man wird ihn schon einmal anerkennen."
Da kam mir plötzlich eine Erinnerung: die Bilder, die uns bei Goupil der sympathische junge Mann zeigte, als wir die Monetausstellung ansahen.
Richtig, das war der Künstler hier, plötzlich ging mir ein Licht auf.
Die Alte bestätigte es und erzählte, wie sie Vincent van Gogh jahrelang die Farben lieferten und er sie nicht zahlen konnte, und immer wieder hätte sie ihrem Mann gesagt: "Schicke sie ihm nur, er braucht sie, er kann sonst nicht malen“. Und dann ist er wahnsinnig geworden und hat sich getötet, le bon garcon! Und sein Bruder Theo, auch ein guter Mensch, hat ihn immer unterstützt, er hatte selbst nicht so viel, wie wir auch. Und Theo ist, als das Unglück geschehen war, kurz darauf vor Kummer gestorben. Und nun wird er anerkannt, es waren schon viele grands Messieurs hier, Monsieur Geffroy und Monsieur Rodin, und haben gekauft und andere noch und haben gesagt, sie kommen wieder. Nicht wahr, sie gefallen Ihnen auch?"
Und so war es auch. Nachdem der erste fremdartige Eindruck verschwunden, waren wir ganz gefangen. Da stand die "Arleserin", die kurz vor dem Kriege um eine enorme Summe in die Sammlung Sternheim bei München ging, die großen Sonnenblumen, die heute in der neuen Staatsgalerie in München hängen, die Straße von Arles, ebenfalls dort, das große wogende Kornfeld, die herrlichen Landschaften bei Arles, San Remy und Auvers. Jedes Bild kostete hundert Franken, ich zählte im stillen meine Kasse, es ging nicht, auch Hans Olde sagte: "Es ist schade, ich hätte gern eins."
Als später die Briefe Vincent van Goghs an seinen Bruder Theo herauskamen, erfuhren wir Näheres über das Schicksal dieses seltenen Brüderpaares.
Diese Briefe sind wohl das schönste Künstlerbuch, das wir besitzen, diese Bekenntnisse sollte jeder Künstler lesen. Hier ist die Einheit von Mensch und Künstler, wie sie selten zu finden ist; man hat das Gefühl, der Mensch ist fast größer als der Künstler. Dieser Glaube an die Kunst, an ihre Wirkung auf die Menschen, an ihre Kraft, das Dasein höher zu gestalten, dem Ärmsten und Niedrigsten einen Trost zu geben, ist hinreißend.
Er hat gedarbt und gelitten, um sein Werk zu vollenden, er steigt immer höher bis zur Vollendung, und als er seinen Tod sucht, schreibt er sein letztes Wort: "Wozu war das alles?"
Er ist von großer Bescheidenheit, er erkennt alles an, was gut ist, er stellt sich unter seinen Freund Gauguin, den er doch hoch überragt. Dieser, ein leichter Franzose, macht sich im stillen über ihn lustig, er versteht im Grunde diesen Germanen nicht, er verläßt ihn, als er im Unglück ist, und rühmt sich, van Gogh hätte alles von ihm gelernt, was ein Unsinn ist.
Und dieser Theo, wie er den Bruder liebt, ihn versteht und ihm in zarter Weise hilft, jahrelang alles mit ihm teilt und glücklich ist, als er sieht, daß er sein Ziel erreicht. Die beiden Brüder liegen in einem Grab, in Auvers, wo sich Vincent den Tod gab. Der Grabstein trägt die Inschrift: "Sie sind auch im Tode vereint." —
Hier in dem Buche fand ich auch die Mère Tangy wieder, die Alte aus dem Farbladen, sie hatte sich aber sehr verändert.
Vincent drückt sich immer sehr maßvoll aus, auch über Menschen, die er nicht mag.
Da, mit einem Male kommen scharfe Worte: "Dieses alte Scheusal, diese Mère Tangy, sage ihr doch, ich werde ihr einmal kommen; ich werde meine Farben wo anders kaufen, der gute Père Tangy ist zu bedauern, mit dieser Xanthippe." So, so, Mère Tangy, das waren die Wohltaten, die Sie dem "guten Jungen" erwiesen? Schau, schau, Sie konnten sich aber recht verstellen. —
Als ich nach Flandern kam und die belgischen und deutschen Freunde wiedersah, die sich in Heyst und Knocke zu einer kleinen Künstlerkolonie vereint hatten, war alles im Banne des Neo-Impressionismus, jede andere Art zu sehen, war verpönt, man durfte nur noch mit geteilten Farben malen. Von den deutschen Künstlern hier wurde die Bewegung auch nach Deutschland getragen. —
Am Strande von Heyst sah ich einmal einen jungen Mann vor seinem Bild stehen. Das Meer war in großer Bewegung, riesige Wellen kamen herangewälzt, eine Luft in gewaltigen Wolkenzügen stob darüber hin.
Ich erschrak vor dieser Malerei, so etwas hatte ich noch nicht gesehen. Man konnte hier draußen alle Arten von Naturbeobachtung sehen, denn es kamen viele Maler hierher; der eine sah mehr die Form, der andere die Farbe; ein anderer war Romantiker und machte Gedichte daraus, und wieder ein anderer steigerte das Gesehene ins Erhabene. Es war manchmal recht lustig zu sehen, was in solchen Malerseelen vorgeht.
Aber dieser hier! Sonst war doch immer etwas von der Natur darin, selbst beim Talentlosesten, irgend etwas Besonderes, was an dieses Wasser, an diesen Strand, an diese Luft erinnerte.
Hier aber war davon gar nichts zu bemerken. Das Wasser war in Wirklichkeit stark gelb, auf der Studie rot; die Luft blau mit hellen Wolken, hier tief violett; der Strand blaß-gelb, hier grün. Von Form war keine Spur vorhanden. Die roten Wolken schlugen hoch nach oben hinaus wie ein großer Feuerbrand, die Luft mit ihren mächtigen Wolken zuckte wie zum Kampfe hinunter in die rote Glut, nur der grüne Streifen unten beharrte in einer merkwürdigen Ruhe. Ich sah mir den jungen Mann von der Seite an und dachte mir: wenn er so etwas malt, braucht er doch nicht hierher zu gehen, das hat er zu Hause bequemer. Ich hörte, er sei der Sohn eines berühmten Advokaten in Brüssel, aus geachteter Familie, die äußerst ästhetisch beanlagt sei, der Vater schrieb auch Kunstkritiken und trat für die allermodernste Kunst ein.
Hier sah ich zum ersten Male das, was man heute Expressionismus nennt; der junge Mann hatte diese Bewegung viele Jahre vorausgefühlt. — Eines Tages erhielten wir einen ganz überraschenden Besuch. Ein Herr in goldner Brille, mit einem hochroten Gesicht, gut bürgerlichem Auftreten, der einen gelben Lederkoffer in der Hand trug, erschien und sagte: "Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle, mein Name ist Reichhardt. Ich suche Sie schon überall, ich war in München in der Redaktion der ,Fliegenden Blätter', da sagte man mir, sie wüßten nicht, wo Sie sind; ich war nämlich so unvorsichtig, den Herren offen zu sagen, daß ich Zeitungsverleger bin und von Ihnen gern Beiträge hätte; dann ging ich in das Haus, wo Sie wohnen, und erfuhr von der Hausmeisterin, wo Sie sich aufhalten. Und nun bin ich froh, daß ich Sie endlich gefunden habe. Die weite Reise hätte ich mir ersparen können, ich komme aus London und bin der Herausgeber des ,Pick-me-up'." "Pick-me-up!" rief ich aus, "das ist ja die Zeitschrift, die mich so arg bestohlen hat. Wollen Sie nicht auch zu Caran d'Ache nach Paris fahren, der wird sich "sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen."
"Will ich auch, will ich auch von hier aus, ich fahre über Paris nach London zurück. Ich will nämlich alles wieder gutmachen. Es war ein Unrecht von mir, weiß es, weiß es. Es ging mir im Anfang schlecht; was sollte ich tun, ich zeigte den jungen Zeichnern die Bilder: hier das brauche ich, das zieht, und dann machten sie es. Nun aber, wo mein Blatt gut geht, hört diese Imitation auf, und alle Künstler, die bestohlen wurden, sollen reichlich entschädigt werden." Mein Zorn legte sich, ich fing an, mich über den Herrn zu amüsieren, ja, er gefiel mir.
"Zeichnen Sie für mich das, was Sie für die ,Fliegenden Blätter' machen, der Preis spielt keine Rolle, ich zahle, was Sie verlangen." Das waren Worte, wie ich sie noch nie gehört hatte. Wir tranken unten im Restaurant noch einige englische Drinks, in deren Geheimnisse er mich zum Dank auch noch einführte, und er bot mir eine herrliche grünlich-braune feuchte Havanna an. Dem Mann geht's gut und er ist ein Gentleman, dachte ich, mit dem kann man geschäftlich verkehren. Abends reiste er nach Paris ab. Er bat mich noch um eine Empfehlung an Caran d'Ache, was ich aber doch abschlug. Und nun zeichnete ich jede Woche ein Blatt zu einem Preis, der mir märchenhaft vorkam, Herr Reichhardt hatte ihn mir förmlich aufgedrungen. Jede Woche schickte er mir die Zeitschrift. Er hatte einige gute Zeichner, namentlich Raven-Hill, der nach dem Tode des vorzüglichen Charles Keene an dessen Stelle im "Punch" trat, den hatte Herr Reichhardt entdeckt, er war mit Recht sehr stolz darauf.
Da kommt einmal die neueste Nummer, auf der ersten Seite stand eine große schwarzumränderte Notiz: "Wir freuen uns, unsern Lesern heute die angenehme Mitteilung machen zu können, daß es uns mit schweren Opfern gelungen ist, einen neuen hervorragenden Mitarbeiter für unser Blatt zu gewinnen. Es ist Hermann Schlittgen, der erste Federzeichner der Welt. Von der nächsten Nummer an wird wöchentlich eine Zeichnung von ihm erscheinen."
Ich sinke in einen Stuhl. Herrgott, eine solche Blamage! Na, zum Glück kommt das Blatt nicht nach München, das wäre ein gefundenes Futter für die lieben Kollegen. Ich schreibe sofort an Reichhardt und beschwere mich. Er antwortet mir, das wäre so Sitte bei ihnen drüben, jedes Geschäft müsse Reklame machen; er machte sie ja, nicht ich. So ergab ich mich also. Es ging gut bis zum Spätsommer, da blieben die Zahlungen aus. Auf meine Mahnungen schrieb er: "Haben Sie Geduld, das Geld wird kommen." Es kam nicht. Da entschlossen wir uns zu einem kleinen Ausflug nach England.
Ein kleines Seebad Birchington bei London war uns empfohlen worden, dahin gingen wir. Es war furchtbar langweilig, die Landschaft trübselig; sogar das Meer, das ich doch sonst so liebte, kam mir hier recht öde vor. Wir sehnten uns nach Heyst zurück. Meine Frau brachte die Zeichnungen nach London. Der Herausgeber vertröstete sie immer mit dem Geld, führte sie zum Speisen in ein feines Restaurant und wollte sie dann auf die Bahn setzen. Aber sie ließ ihn nicht los, tat, als verstünde sie ihn nicht, ging mit ihm in die Redaktion zurück und blieb sitzen, bis sie das Geld hatte. Da mußten erst die "Boys", die Zeitungsausschreier der Straße, abgewartet werden, die das Geld in kleinen Portionen brachten; das verlangte meine Frau und verließ nicht eher die Redaktion, bis sie alles hatte. Der Herausgeber lachte und lobte ihre Tüchtigkeit. In den Nebenräumen der Redaktion standen Klaviere und Schreibmaschinen, ein Nebenhandel des Herrn Reichhardt, auch wurden Preise an die Leser seines Blattes damit ausgeteilt. Er bot meiner Frau öfter an, doch irgend etwas davon an Zahlungs Statt anzunehmen, was sie verweigerte. Bald fuhren wir nach Heyst zurück. Wir waren froh, als wir die belgische Küste mit den geliebten Dünen und den Leuchtturm von Ostende auftauchen sahen.

Ein Sommer mit Wilhelm Leibl  

Wilhelm Leibl war für die Münchner Künstler eine fast legendenhafte Persönlichkeit. Von seiner Kunst wurde viel gesprochen, von einigen wurde sie hoch geschätzt; was aber seine Person betraf, so kannte man sie nur vom Hörensagen; es war gerade, als wäre er schon längst gestorben, denn nur einige Ältere erinnerten sich seiner noch aus der Zeit vor mehr als dreißig Jahren, als er noch in München lebte. Ihr Hauptinteresse bezog sich auf seine Kraftstückchen; er war ein Athlet und besiegte die stärksten Männer. Bei einem Jahrmarkt hatte er im Vorübergehen die "Bayerische Eiche", den stärksten Mann Bayerns, geknickt und hingeworfen wie ein Binsenrohr; die Eiche lag am Boden und wimmerte um Gnade, und der Herr möchte ihm doch nicht sein Ansehen verderben und sein Brot nehmen. Dann hatte er die große goldene Medaille, die ihm auf der Internationalen Ausstellung in München verliehen wurde, aus dem Futteral genommen und vor den erstaunten Kollegen mit einem Ruck in zwei Teile zerbrochen, was für die Ausstellungsleitung eine unangenehme Sache war, denn solch eine Medaille für eine so gute Malerei muß doch solid und komplett Gold und dürfte nicht mit Blei ausgefüllt sein. Darüber hatten die Künstler gelacht.
Leibl war als starker Mann jedenfalls populärer wie als Maler. Ein anderer Maler in München war nebenher Jongleur. Ais einmal im Kolosseum ein berühmter Chinese seine Jongleurkunststücke zeigte, nahm er Unterricht bei ihm und lernte verschiedene leichtere Kunststücke. Beim nächsten Künstlerfest trat er als Chinese auf und hatte viel Beifall, auch beim Prinzen Luitpold, dem späteren Prinzregenten, der sich sehr für solche Dinge interessierte: Er besuchte ihn zum Dank im Atelier, worauf die Neuesten Nachrichten den nächsten Tag die Notiz brachten: Seine Königliche Hoheit der Prinz Luitpold besuchte gestern den Kunstmaler K. in seinem Atelier und sprach sich sehr anerkennend über seine Jongleurkunststücke aus. Beinahe so war es bei Leibl. "Der ist stark", hieß es voll Bewunderung, "der wirft alles." Von Leibl sprechen, den Arm steif machen und den Bizeps anschauen, war eins. — Leibl war, um "echt" zu malen und nicht nach Modellen, Anfang der siebziger Jahre ganz auf das Land hinausgezogen, zuerst in ein Bauerndorf bei Dachau, wo er die berühmten "Dachauerinnen" malte, wohl eines seiner besten Bilder. Es war früher im Besitz von Munkacsy, der es bei einem Kunsthändler gegen ein eigenes Bild umtauschte und seine ganze Malerei danach einstellte.
Dann zog er nach Schondorf am Ammersee, wo er jahrelang einsam lebte; nach München kam er nur selten, um Malutensilien einzukaufen. Ausstellungen sah er sich nicht an. Meist war sein treuer Freund Sperl bei ihm, ohne den er nicht leben konnte. Hatte er ein Stück fertig gemalt, mußte Sperl her und es begutachten, denn es ist auch für den Größten schwer, allein zu sein und allein zu schaffen, da auch er den kritischen Blick verliert.
Hier in Schondorf malte er den "Jäger", der sich, wie die "Dachauerinnen", jetzt in der Nationalgalerie in Berlin befindet. Als ein Kooperator, mit dem er befreundet war, wegzog und eine Pfarrei in Berbling bei Aibling erhielt, schrieb ihm dieser von der Schönheit der dortigen Gegend, und Leibl, der gern wieder den Platz wechseln wollte, sah sie sich an und entschloß sich um 1880 herum, nach Aibling überzusiedeln, da er in Berbling keine Wohnung fand.
Aibling, oder Bad Aibling, wie man jetzt sagt, ist ein Marktflecken in den bayerischen Voralpen, an der Seitenbahn Rosenheim — Holzkirchen gelegen. Das Land ist ziemlich flach, auf einem Hügel liegt ein schloßartiger Bau, worin das Amtsgericht untergebracht ist, und der "Bierkeller", der bayerische Biergarten, der immer an der schönsten Stelle der kleinen Ortschaften liegt. Der Aiblinger ist berühmt, er streitet sich mit dem von Brannenburg um die Ehre, der schönste Bayerns zu sein; der Blick auf die Alpen ist herrlich. Mitten durch den Ort fließt die Glonn, ein schmales, bachartiges Flüßchen, an dessen Ufer Häuschen mit Holzaltanen stehen, deren Gärtchen bis zum Fluß gehen, wo Frauen an einer Treppe Wäsche bearbeiten; das ist das Hübscheste hier. Der Marktplatz ist malerisch, wie die meisten in Altbayern, ein interessantes altes Rathaus mit origineller Architektur; die Straßen langweilig, darin sieht man die Handwerker bei der Arbeit, sie bilden den Kern der Bevölkerung, die paar Beamten und Kaufleute verschwinden ganz. Einige Villen standen da, es werden jetzt wohl viele geworden sein, denn das Moorbad Aibling ist seitdem sehr bekannt geworden. Damals erinnerte nur das Hotel Ludwigsbad mit den Bädern und einer Wandelhalle hinten auf der Wiese an ein Bad.
Als öffentliches Kunstwerk besitzt Aibling einen großen Stein in griechischem Stil, der auf der Straße, die nach dem Süden führt, einsam steht. Eine Inschrift ist darauf eingemeißelt, daß an dieser Stelle die Königin Therese von Bayern von ihrem Sohn Otto Abschied nahm, als er als König nach Griechenland zog.
Dieses Denkmal ist die einzige Erinnerung an die Antike, sonst ist alles echt bajuvarisch. —
Als ich im Sommer des Jahres 1892 auf Rat des Arztes nach Aibling ging, dessen Moorbäder mir helfen sollten, da ich stark an Rheumatismus litt, kam mir nicht der Gedanke, daß ich mit Leibl in Berührung kommen könnte; es war bekannt, daß er menschenscheu, fast Menschenfeind sei. Er ließ die Maler, die zufällig mit ihm zusammenstießen, meist auf seine trockene Art "abfahren".
Mit keinem seiner früheren Kameraden, die den "Leiblkreis" bildeten, stand er mehr im Verkehr, außer mit Joseph Sperl, dem Landschaftsmaler, der sein treuer Freund seit langen Jahren her war.
Ich kannte Sperl seit der Zeit des Café Finsterwalder in der Schwanthaler Straße, dort hatten wir oft gesessen, und ich hatte mir von dem außerordentlich liebenswürdigen Kollegen, der vielleicht zehn Jahre älter war als ich, oft von Leibl erzählen lassen. Von jung auf war ich ein Verehrer der Kunst Leibls, und das hat sich auch nicht geändert bis auf den heutigen Tag. Ich habe so vieles dazwischen gesehen, so ganz anderes, oft Interessanteres, Hinreißenderes, Größeres; aber Leibl blieb, er stand wie ein Fels im Meere. Ich liebte seine Kunst und bin ihm treu geblieben. Wir waren kaum in Aibling angekommen, ich stehe auf dem Marktplatz und schaue, wie man so tut, wenn man frisch in einen Ort kommt, da schießt auch schon der kleine Sperl aus einer Gasse hervor.
"Sie sind hier? Das ist aber nett. Kommen Sie nur gleich heute abend auf den Keller. Leibl ist auch da." "Das geht doch nicht, ich weiß, wie Leibl ist; ich möchte mich doch nicht schlecht behandeln lassen." "Unsinn! Kommen Sie nur, freuen wird er sich." Nun, ich wagte es. Auch meine Frau zeigte Mut und ging mit, denn von Leibl hieß es immer, er hätte ein Grausen vor den Weibern, weil er einmal einen Korb von einem Bauernmädchen, das er heiraten wollte, bekommen hätte. Was so alles berühmten Leuten angehängt wird. Abends führte uns Sperl an den Stammtisch der Honoratioren des Ortes, die schon versammelt waren: der Herr Justizrat, der Herr Veterinär, der Herr Beamte (Steuerbeamte), der Herr Doktor und Sperl selbst, der Herr "Kunstmaler", ich hätte aufschreien mögen, als ich das hörte. Hier in der Provinz ist man ohne Titel nichts. Nur Leibl war "der Herr Leibi".
Er kam spät von der Jagd. Eine prächtige Erscheinung, die oberbayerische "Wichs", etwas ins Jägerische übersetzt, stand ihm trefflich. Er war von mittlerer Größe, der Oberkörper mächtig; die Beine waren etwas zu kurz, deshalb sah er beim Sitzen viel größer aus, und für den schweren Körper etwas zu schwach, sie machten seinen Gang etwas schwankend, er erweckte so den Eindruck eines Seemanns, eines Kapitäns. Ein schöner Kopf, scharf und edel im Profil, frische blaue Augen von mildem Ausdruck, ein schön geformter Mund, ein gestutzter Vollbart und ein prachtvoller Hals. Das war der "Bauer" der freundlichen Kollegen in München.
"Jrüß Jott, Herr Schlittgen", sagte er in seiner kölnisch-ober-bayerischen Mischsprache und drückte mir die Hand, daß die Finger knackten. Seine Kraft war riesig, das fühlte man, und den Respekt, den er stets bei den Bauern genoß, verstand man, wenn man einen solchen Händedruck gefühlt hatte.
Auch gegen meine Frau war er artig und benahm sich, solange wir ihn kannten, liebenswürdig, fast galant gegen sie.
Dann setzte er sich und ließ sich Essen und Trinken gut schmecken. Er strömte in seiner Gesundheit und Ruhe etwas ungemein Frisches und Wohltuendes aus, er hatte etwas Keusches an sich; sooft ich mit ihm an einem Stammtisch der Spießbürger saß, wagte sich keine Schlüpfrigkeit heraus.
Wir wurden bald gute Freunde.
Die Aiblinger empfanden doch das Starke an ihm, man sah es an dem heiligen Respekt, den sie vor ihm hatten; wenn er auch nicht viel sprach, so wandten sich die Augen im Gespräch immer zu ihm. In der Stille fragten sie mich aber doch aus, ob Lenbach nicht doch ein größerer Maler sei. Als ich einmal bei einer solchen Gelegenheit zur Freude Sperls wie ein Donnerwetter hineinfuhr und ihnen klarmachte, was sie hier für einen Mann bei sich hätten, sagten sie kleinlaut: "Ja, ja, wir wissen's schon, aber Lenbach ist halt berühmter." Leibl hatte ein altes Bauernhaus gekauft, das vor Aibling in einer großen Wiese an der Glonn lag; daran stieß das städtische Freibad. Ein Bauernzimmer war vollständig erhalten mit seinem alten Ofen, seinen Wandbänken, Kästen und Fensterchen. Hier malte er seine Bilder. Hier hatte er "echtes Licht" und "echten Raum". Daneben war ein größeres Zimmer, das "Atelier", wo er seine Bilder aufstellte. An den Wänden hingen einige Meisterwerke von ihm aus früherer Zeit, denn die Leute und Galerien rissen sich gar nicht um seine Bilder und sie hätten sie billig haben können. Da sah man das Porträt des Bildhauers, die Hände des Rembrandtdeutschen Lang-behn, die Pariserin, die alte Frau, die Kartoffeln schält. Letzteres Bild bot mir Leibl als Geschenk an, als er von Sperl hörte, ich möchte etwas kaufen; ich nahm es aber nicht an. Als später ein Möbelhändler aus Berlin das Geschäft mit Leiblbildern anfing, die in alle Museen Europas gewandert sind, bereute ich es.
Das wundervolle Bildnis des Bildhauers sah ich in der "Neuen Galerie" in Venedig wieder, der Möbelhändler hatte es für den Titel "Commendatore" hergeschenkt; er wird wohl nicht viel dafür gezahlt haben.
Vor dem Häuschen in der Wiese war eine kleine Bank, auf der die beiden Freunde oft zusammensaßen und Leibl sein Pfeifchen rauchte. Diese Freundschaft stand auf festem Grund, auf der Wahrhaftigkeit, wie sie nur bei bedeutenden Künstlern vorkommt. Meist gehen Künstlerfreundschaften nur nach dem stillen Übereinkommen: Lobst du mich, so lob' ich dich. Tüchtige Künstler können viel ruhiger eine Kritik anhören als die schwachen, die fortwährend gelobt sein wollen; deshalb sind Freundschaften unter kleinen Künstlern meist zärtlicher, aber auch zerbrechlicher. Sperl klagte, daß er durch die Freundschaft mit Leibl doch auch sehr gebunden sei, er als Landschafter könne nicht immer an einem Fleck sitzen, er könne doch nicht immer in Aibling bleiben; ginge er irgendwo anders hin, dauerte es keine vierzehn Tage, dann käme ein Brief von Leibl: komm, ich brauche dich. Wenn er antwortete: ich kann nicht, es ist unmöglich! kämen traurige Briefe: Du mußt kommen, ich kann nicht weiter arbeiten.
Als Leibl die "Drei Frauen in der Kirche" malte und den Kopf der jungen Bäuerin im Vordergrunde fertig hatte, mußte Sperl her: "Wie ist er?" fragte Leibl. "Er ist nicht schlecht, könnte aber besser sein." Den nächsten Tag kratzt ihn Leibl ab und malt ihn noch einmal.
Abends kommt Sperl, der mit der Kritik zögert. "Nun", sagt Leibl, "sprich!" "Gestern war er besser." "Weshalb hast du mir das nicht gestern gesagt?" brauste Leibl auf und schüttelte Sperl am Arm. Der Zorn dauerte nicht lange, und Leibl malte den Kopf noch einmal, und er ist einer der schönsten geworden, die er herausbrachte.
Leibl schätzte die Landschaften Sperls hoch, er verglich sie mit denen der Fontainebleauer.
Ich sah ihn malen, er hatte damals gerade ein Bild auf der Staffelei, eine alte Bäuerin in einer roten Jacke am Spinnrocken sitzend, im Profil gesehen, Breitformat, ein junges Mädchen sitzt hinten auf der Bank. Ruhig saß er, mischte seine Farben und setzte, sie vorsichtig hin, sie weich in den Nebenton mischend. Von Zeit zu Zeit kam ein leichtes Stöhnen heraus, es war wohl der Beginn seiner Herzkrankheit, an der er sieben Jahre später gestorben ist, denn von Quälerei konnte bei ihm keine Rede sein. Es fiel mir schon auf, daß er so schwer atmete, wenn wir einen Hügel hinaufgingen.
Er ging meist von den Augen aus und malte von da aus fertig, Stück für Stück, seine stete Sorge war das zu schnelle Trocknen der Farben, weil er auf das trockene Stück nicht mehr malen konnte. Vor dem Hause hatte er eine Grube, in die er eine Zeitlang das Bild nachts stellte, damit es frisch blieb.
Sonst zeigte die Leinwand nur einige Kohlestriche der Aufzeichnung, die meisterhaft waren; er hatte eine große Sicherheit, gleich das Richtige zu treffen, es wurde nicht viel herumgewischt und der Strich saß keusch und nobel an seinem Platz.
Auch das Malen geschah mit einer großen Sauberkeit der Mischung, auf der Leinwand war kein Fleckchen schmutziger Farbe, alles wie ein schöner Farbenguß, den man nicht mehr anrühren darf. Und eine Freude und ein Antrieb, weiter zu arbeiten! Er vereinigte beides: er war ein großer Zeichner und ein großer Maler.
Die Modelle mußten ruhig halten, es war kein Vergnügen, beim Leibl zu sitzen. Lachend erzählte er, wie er sie bei den "politisierenden Bauern" immer beim Kragen packen und aufrütteln mußte, wenn sie vor Stumpfsinn zusammensanken, einschlafen wollten und in ihrem Kampf zwischen Angst und Schlaf nach und nach in groteske Stellungen verfielen.
Der Dorfschneider war dabei, ein schwächliches, mageres Männchen, ein Pantoffelheld, dessen robuste Frau nicht leiden wollte, daß er Modell saß. Sie stand oft draußen und schimpfte zum Fenster herein und wollte ihren Mann weglocken. Dann redete Leibl in ihn hinein, er solle sich als Mann zeigen, als Charakter. Wenn es ihm zu arg wurde, lief er hinaus und verjagte das böse Weib. Dabei passierte es ihm öfter, daß ihm der Schneider im Rücken auskam. Nun mußte er hinter dem herjagen, bis er ihn erwischte. Von Leibls kräftiger Hand beim Rockkragen gefaßt, wurde der Arme nun zurückgeführt und auf seinen Platz gedrückt und mußte nun eine kräftige Schmährede Leibls über seine Feigheit und Schlappheit über sich ergehen lassen, wobei der Schneider ein leises Jammern und Klagen ertönen ließ. So unangenehm solche Szenen für Leibl waren, sie hatten auch ihr Gutes: durch die große Aufregung waren die Modelle aufgerüttelt und schliefen einige Zeit nicht mehr ein. —
Das Schönste zum Malen, sagte er gern, ist eine Hand. Oft beobachtete er die Hände meiner Frau und sagte: "Wundervoll, so eine Frauenhand, sie ist doch tausendmal malerischer als eine Bauernfaust. Da meint man immer, ich fände die Bauern schöner als andere Leute, weil ich sie immer male. Ich würde viel lieber Frauen mit schönen Händen malen. Aber die Zappelei kann ich nicht vertragen, dabei kann ich nicht arbeiten. Und dann noch galant sein müssen und die Damen unterhalten, das ist mir ganz unmöglich." Er konnte allerdings in so eine Hand ein ganzes Leben hineinlegen. Man sehe die Hände Langbehns, die er herausschnitt, wie so oft, wenn ihm alles andere mißlungen erschien; die Hände waren immer gut.
Und welch ein unruhiges Wesen ist eine Hand, sie kommt nie zum zweiten Male wieder in die Stellung, immer wieder verändert sie sich, man mag daran drehen und wenden, wie man will, immer wird sie anders. Es ist gerade, als wolle sie sich über den Maler lustig machen. Leibl hatte keine Angst davor, wie so viele Maler, er wählte die beste und charakteristischste Stellung, dabei blieb es, die wurde fertig gemacht, ob sie wollte oder nicht. Es ist wirklich zu bedauern, daß Leibl durch seine Schwerfälligkeit verurteilt war, sein Leben unter Bauern zuzubringen, weil er unter ihnen die ruhigsten Modelle fand; sein Werk hätte an Vielseitigkeit gewonnen, wenn er mehr Stadtleute, namentlich Frauen, gemalt hätte, denn keiner hatte so die Kunst in sich, die zarte durchsichtige Farbe, den unsagbar schimmernden Ton des Fleisches zu malen. — Leibl erzählte oft, daß im Anfang, als er noch nicht bekannt war, manche seiner Bilder, namentlich Landschaften, den Kunsthändlern zu wenig ausgeführt oder zu leer waren; da ließen sie die flüchtigen Stellen übermalen oder im Hintergründe einen Kahn oder ein Häuschen hineinsetzen; er konnte sich bis heute nicht über diese "Jemeinheit" beruhigen, und mit Recht.
Eines Abends setzten sich in der Halle des Schuhbräukellers zwei fremde Maler an unsern Tisch; Leibl ließ sie ruhig sitzen und beachtete sie nicht.
Der eine, ein Frankfurter, wollte sich bei ihm gut einführen und sagte scherzhaft: "Herr Leibl, wir sind eigentlich Mitarbeiter." "Wieso?"
"Ich habe einmal in ein kleines Bild von Ihnen, es war sehr gut, aber so etwas huschel-buschel gemacht, hinten, ganz hinten ein kleines Haus hineingemalt, weil der Besitzer es so lieber hatte", und dabei lächelte er Leibl ganz unschuldig an. Der wird blaß, schaut den Fremdling an, als wolle er ihn niederschlagen, geht aber dann hinaus ins Freie, um sich zu beruhigen. Als er nicht wiederkommt, sehe ich nach ihm, er geht draußen erregt auf und ab; es kostete mir viel Mühe, ihn wieder an den Tisch zu bringen.
Er würdigte den Frankfurter keines Blickes mehr und drehte ihm den Rücken zu.
Der Ahnungslose flüsterte mir noch zu: "Leibl ist wirklich sehr unzugänglich."
Nun fing er an zu erzählen, daß er lange in Rußland war und russische Volksszenen male. "Da fahren Sie wohl viel nach Rußland?" fragten wir.
"I Gott bewahre, das habe ich nicht mehr nötig; ich habe dort sehr viel fotografiert, die Bilder vergrößert und mein Atelier damit vollgehängt. Darinnen sitze ich, habe das Gefühl, als wäre ich in Rußland und male meine Bilder." Wie hat Leibl da gelacht, das Häuschen hatte er vergessen. — Viel geschadet hat er sich durch übertriebene athletische Übungen, die sein Herz schwächten und wohl der Hauptgrund der schweren Herzkrankheit waren, die ihn nach einigen Jahren zu quälen anfing und den Riesen schließlich niederstreckte.
Sperl litt sehr darunter und warnte ihn immer wieder, aber er lachte dazu. "Das tut mir nichts", sagte er. Der Freund nahm die Hanteln weg und versteckte sie; der Schwächliche kollerte die schweren Dinger nachts in die nahe Glonn, Leibl holte sie, ohne ein Wort zu sagen, morgens wieder heraus. So ging das eine Weile, bis Sperl nicht mehr konnte. — Leibls Freude neben der Kunst war die Jägerei; sein Freund Dr. Mayr hat in seiner ausgezeichneten Leiblbiographie seine Jagderlebnisse in schöner stimmungsvoller Art geschildert. Als Jäger hatte er dieselbe sichere Hand wie als Maler, weit und breit war er als guter Schütze berühmt. Ein Bauer, der einen Jagdhund an der Leine bei sich führte, kam einmal bei uns vorbei. Er grüßte Leibl, zog seinen Hund heran und sagte vertraulich zu ihm: "Da schau, dös is der Herr Leibi, dös is a Jaga!"
Auf unsern Spaziergängen in der schönen Landschaft der Umgebung Aiblings zeigte er mir seine Jagdgründe und erzählte mir seine Jagdabenteuer.
Eines Abends kamen wir gegen das Gebirge zu auf einen Hügel. Da sahen wir in der Ferne einen Kirchturm weiß aufblitzen. "Sehen Sie", sagte Leibl, "das ist die Kirche von Berbling. Dort habe ich meine ,Bäuerinnen in der Kirche' gemalt." Und nun erzählte er von den Schwierigkeiten, die er in dem öden, abgeschiedenen Bauerndorf hatte; nichts Ordentliches bekam er zu essen, die ganze Zeit war er in schlechter Gesundheit und hat es doch seinem Bild zuliebe drei Sommer lang ausgehalten.
Mitten in der Arbeit starb sein Freund, der Pfarrer, und der Nachfolger verbot ihm das Arbeiten in der Kirche. Das war ein furchtbarer Schlag. Erst durch die Vermittelung des Prinzen Luitpold, der davon erfuhr, wurde ihm das Malen in der Kirche wieder erlaubt. — Bei meinem zweiten längeren Aufenthalt in Paris hatte ich in der Ausstellung des "Cercle international" ein schönes Bild von Leibl gesehen: drei Jäger, die in einem engen Raum sitzen, besonders ein junger darauf, der, die Büchse zwischen den Beinen, die Pfeife im Mund, scharf zum Fenster hinausschaut, frappierte durch seine glänzende Charakteristik. Das Bild, obwohl etwas hart und in der Farbe nicht so hervorragend, stach hier inmitten dieser süßlichen, oberflächlichen französischen Salonmalerei heraus wie ein altes gotisches Tafelbild. Ich fragte einmal Leibl, wo es hingekommen sei, da wurde er verstimmt, er hatte es zerschnitten. Als es von Paris zurückgekommen war, bemerkte er, daß er dabei ganz aus den Verhältnissen geraten sei, die Körper waren zu lang, wie man es leicht macht, wenn man zu nahe am Modell sitzt und nicht zurücktreten kann. Dieser Fehler war mir schon in Paris aufgefallen, aber er genierte nicht so sehr, und Leibl bereute auch, daß er das Bild vernichtet hatte. Einige Stücke hatte er aufgehoben, den Kopf des jungen Jägers, noch einen ändern Kopf und natürlich sämtliche Hände. Das war ein Trost, aber nur ein schwacher, denn das Bild war sehr schön und von großer Kraft. Er war von einer außerordentlichen Strenge gegen sich und haßte alles Unwahre und Oberflächliche auch bei ändern Künstlern. Er ließ nur wenige gelten und namentlich gegen die Münchner Kunst hatte er eine große Antipathie, er fand sie zu wenig ernst und zu sehr im Atelier fabriziert. Für alles, was ihm echt erschien, hatte er warme Worte. Er konnte in Begeisterung geraten, wenn er Von Courbet sprach, den er über alles in der modernen Kunst schätzte, dessen persönliche Bekanntschaft seine schönste Erinnerung war. Hatte ihn doch der so hoch Verehrte in seiner Jugend auf die Schulter geklopft: C'est bien!
In der Pinakothek ging er schweigend von Bild zu Bild, dann blieb er stehen, machte mit der Hand einen Kreis um ein besonders schön gemaltes Stück, wie um die Silenenfrau von Rubens, dann schaute er einen an mit einem so glücklichen Blick: das ist gemalt! Er war ein echter Künstler, er dachte nur an seine Kunst. Unedle Gedanken: andere damit zu ersticken, Ausstellungslärm damit zu schlagen, Reklame in der Presse damit zu treiben, kamen ihm nicht in den Sinn.
Er versenkte seine ganze Liebe in sein Werk und war stolz darauf, wenn es gelungen war. Als sein Bild die "Drei Frauen in der Kirche" in München ausgestellt war, stand er beiseite und sagte: "Alles prima." Wie hat man darüber gelacht. Und er war hier wie ein Goldschmied der alten Zeit, der vor seinem Werk stolz betont: "Alles solide Arbeit, alles echt Gold." —
Als ich das letzte Mal nach Aibling hinausfuhr, um den armen Sperl zu besuchen, der halb gelähmt im Lehnstuhl saß, plauderten wir von dieser Zeit.
Sperl lebte nur noch in der Erinnerung an seinen Freund. Vierzig Jahre lang haben sie zusammen vor der Natur gearbeitet. Dann saß ich allein an unserm Tisch im Schuhbräu. Die Wirtin setzte sich zu mir, und wir sprachen von den beiden Freunden: Ich erzählte ihr, daß ich einige Tage vorher in der Zeitung gelesen hatte, daß die Stadt Köln von dem Berliner Möbel- und Kunsthändler für eine Million Mark Leiblbilder gekauft hatte, wie merkwürdig das sei, da doch Leibl sich immer darüber beschwerte, daß sich seine Vaterstadt gar nicht um ihn kümmere. Das Porträt seines Vaters hatten sie im Kölner Saal ganz hoch oben hinauf gehängt, weil er nur ein einfacher Domorganist war. Das Bildnis des alten Pallenberg, eines seiner schönsten Bilder, das sich doch sehr gut für ihre Sammlung Kölner Bürger geeignet hätte, war von den Maßgebenden ignoriert worden. Und nun, nach seinem Tode, mit einem Male dieser Umschwung, jetzt, wo der arme Leibl doch gar nichts mehr davon hätte.
"O mei", meinte Frau Schuhbräu, "der Herr Leibi, der hat doch so keine Delikatessen gemögt." Wie hat Sperl gelacht, als ich ihm das erzählte, ich hatte Angst, es würde ihm schaden.
Kurze Zeit darauf bekam er einen neuen Schlaganfall und er wurde erlöst. Er war ein treuer, guter Mensch, es ging ihm nie recht gut, erst die letzten Jahre fanden seine Bilder richtig Käufer und wurden anerkannt. Sein köstlicher Humor hat uns alle ergötzt, er war ein seltener Beobachter und Erzähler; sein herzliches Lachen, das nicht enden wollte, werden wir nicht vergessen.

Sezessionen  

In der alten Künstlergenossenschaft, wo man seit undenklichen Zeiten gewohnt war, für die große Ausstellung sein Genrebild oder die "oberbayerische Landschaft" zu malen, gab es lange Gesichter, als die verteufelte neue Richtung aufkam. Als Präsident herrschte ein sackgrober alter schwäbischer Maler; ein Tyrann, der sich als autokratischer Gebieter gab und keinen Widerspruch duldete; er befahl, und die Künstler mußten parieren. Beschwerte sich einer über den schlechten Platz seines Bildes in der Ausstellung oder über sonstige Bedrückung seiner Werke, dann schnob ihn der Alte in offener Versammlung an: "Was, beschwere wolle Se Ihne auch noch? Wisse Se was, beschwere Se Ihne beim liebe Gott, daß er Ihne net mehr Talent gebe hat." Was nun wieder die Rache der Abgekanzelten heraufbeschwor. Dieser alte Grobian brachte seine Morgenstunden im Café Finsterwalder damit zu, Zeitungen zu lesen, worunter sich auch eine französische "Le Siècle" befand. Nun erzählten die Gekränkten, wie sie mit ihm über eine französische Angelegenheit gestritten und er zum Schluß aufgeprotzt hätte: "I weiß es ganz genau, i hab's im ,Sietzle' gelese."
Solche idyllischen Zustände herrschten damals in der Genossenschaft.
Man kann sich denken, wie die moderne Kunst dort einschlug, wie eine riesige Dynamitbombe.
So bildete sich eine starke Opposition; ein Teil der Mitglieder war unzufrieden aus persönlichen Gründen, das war die Mehrheit, und ein anderer kleinerer Teil bestand aus den Idealisten, die eine freiere Kunst anstrebten. Diese Unzufriedenen traten aus und bildeten eine neue Gesellschaft, die von Dr. Georg Hirth, dem Münchener Kunstfreund, "Sezession'' getauft wurde.
So war nun die Trennung da, wie in Paris, wo schon seit Jahren zwei Salons bestanden, der alte mit der akademischen Kunst, die jahrzehntelang alles beherrschte und Millet, Courbet, Manet, Cézanne refüsiert hatte, und der neue, der frischer und moderner war, aber auch mit einem Zaun umgeben, den er nur ein wenig nach links gerückt hatte. In diesem Sinne entwickelte sich auch die Münchener Sezession; es waren zu viel Halbe darin, zu viel Gekränkte, denen die moderne Kunst ganz gleichgültig war und die nur an ihr eigenes Wohlergehen dachten; der Hauptgedanke bei den meisten war: wird es dir hier besser gehen, wirst du hier besser gehängt? Idealisten, die an das Ganze dachten, an etwas Höheres, an den Fortschritt, gab es nur wenige. Das war auch der Grund, weshalb die Münchener Sezession jahrelang nicht das erfüllte, was wir Jungen von ihr erhofften. Wir machten schon nach der ersten Ausstellung Opposition, beantragten, eine Gruppe innerhalb der Sezession bilden zu dürfen mit dem Vorschlag, daß auch andere Gruppen sich bilden sollten, um so dem verderblichen Einfluß einiger Arrivierter entgegenzutreten. Der Vorstand lehnte ab. Wir versuchten es nun in der Genossenschaft selbst, in deren großem Ausstellungskasten, dem Glaspalast, Platz genug für uns gewesen wäre; vergebens, auch dort wollte man uns nicht. Der Vorstand hatte schon zugesagt, aber in einer großen Mitgliederversammlung wurden wir stürmisch abgelehnt, waren wir doch noch viel schlimmer und radikaler als die erste Sezession.
So ging unser schöner Plan zugrunde. Die meisten von uns sind dann nach Berlin gezogen, zum Schaden für München, das dadurch eine Reihe der besten Künstler verloren hat.
In der Berliner Sezession, die einige Jahre danach gegründet wurde, ging es nach unsern künstlerischen Prinzipien, mit welchem Erfolg, das hat München am eigenen Leibe erfahren müssen, denn das Übergewicht Berlins als Kunststadt nahm damals seinen Anfang. Die großen Ausstellungen waren die einzige Möglichkeit für den Künstler, seine Bilder zu zeigen, deshalb der ewige Kampf; jede Richtung suchte die Macht zu erhalten, und deshalb wären für München, wo die Meinungen zu sehr auseinandergingen, diese Gruppenbildungen die einzige Möglichkeit gewesen, eine gerechte Verteilung der Plätze zu garantieren.
Heute gibt es so viele Kunsthandlungen, daß jedem Künstler jeder Richtung die Möglichkeit gegeben ist, seine Arbeiten an das Licht zu bringen; sie haben nur den Nachteil, daß vom Erlös zu viel dem Vermittler zufließt. Unser "Sezessiönchen", Wilhelm Trübner, Otto Eckmann, Peter Behrens, Hans Olde, Lovis Corinth, Max Slevogt, Thomas Theodor Heine und ich, machte noch eine kleine Demonstrationsausstellung in Berlin, dann fiel es zusammen; viele Jahre später hat sich die "Neue Sezession" in ähnlicher Weise gegründet.
Die Ausstellungen der Münchener Sezession waren kleiner, intimer und wirkten durch ihre geschmackvolle Aufmachung; sie bestachen das Auge. Von Paris ließ man die Schlager aus dem neuen Salon kommen, die "Schinken", die auch kompromißlerisch waren.
Hie und da verirrte sich ein Manet, ein Renoir, ein Monet, ein van Gogh her, diese bescheidenen Bilder wurden von den großen Protzen erdrückt. Jedenfalls wäre in München ein anderes Tempo in die Kunstbewegung gekommen, wenn es uns damals gelungen wäre, Fuß zu fassen. Es dauerte nicht lange, da kam auch ein neues Leben und eine "Sezession" unter die Zeichner und Illustratoren. Eines Tages besuchte mich Thomas Theodor Heine und brachte einen jungen Buchhändler, Albert Langen, mit, der in Paris gelebt hatte und mit der Absicht umging, in München eine billige satirische Wochenschrift zu gründen in der Art des "Gil Blas illustre", der mit den guten Illustrationen von Steinlen für 10 Centimes die Nummer verkauft wurde. Er fragte mich, ob ich mitarbeiten wolle, und ich sagte zu, da mir viel daran lag, einmal in freierer Art mich betätigen zu können; den "Fliegenden Blättern" konnte das nicht schaden, denn dieses neue Blatt war keine Konkurrenz, sondern hatte einen ganz anderen Charakter.
Zu gleicher Zeit gründete Dr. Georg Hirth die "Jugend", die mehr münchnerisch-gemütlich war, mit einem Stich in das Dekorative, der sich dann zum "Jugendstil" auswuchs. Der "Simplizissimus" war mehr politisch, radikal, mit scharfer Gesellschaftssatire und ein wenig sozialistischem Einschlag, der sich aber bald verlor.
Ich zeichnete ein großes, zweiseitiges Blatt nach einem erlebten Text. Ich war in Berlin einmal bei einem sehr reichen Herrn eingeladen, dessen fünfzigster Geburtstag gefeiert wurde. Es waren lauter hohe Beamte und schwere Kapitalisten am Tisch. Da gab es einen Rheinwein, edelstes Gewächs, der dasselbe Geburtsjahr hatte wie der Gastgeber.
Als ich diese reichen Schlemmer so sitzen und den Wein schlürfen sah, kam mir plötzlich ein Übermut, und als mein Tischnachbar so recht schmalzig mit mir anstieß, sagte ich: "Wir wollen die armen Leute leben lassen, die heute keinen so guten Wein trinken können." "Die Leute sollen zurücklegen!" sagte der Herr trocken. Dieser Scherz mit der Zeichnung, in der neuen schmiegsamen Technik ausgeführt, fand viel Beifall, ebenso wie meine anderen Beiträge. Oft hörte ich: "Das ist doch etwas anderes als die ,Fliegenden Blätter'." Leider dauerte meine Freude nicht lange: Die Redaktion verbot mir die Mitarbeit an dem neuen Blatt. Albert Langen forderte mich auf, ganz überzutreten, was ich aber nicht wagte, da das Unternehmen gar nicht so aussichtsvoll erschien; dies habe ich später sehr bereut, denn hier hätte ich mich künstlerisch viel mehr ausleben können. — Wie es so geht, daß es oft nur eines Anlasses bedarf, um Kräfte zu wecken, so war es auch hier.
Mit einem Male standen eine Anzahl talentvoller junger Zeichner da, an die vorher kein Mensch gedacht hatte. Thomas Theodor Heine, dessen Bilder aus dem deutschen Familienleben von einer Satire und einer Stärke der Beobachtung waren, die als etwas ganz Neues einschlugen; auch seine eigenartigen dekorativen Zeichnungen waren ersten Ranges; Rudolf Wilke, auch ein hervorragender Meister ganz besonderer Art, ein geistvoller Menschenschilderer, rassig, genial; Wilhelm Schulz, mit poetischen, groß gesehenen alten deutschen Städtebildern und stark empfundenen Illustrationen zu Gedichten; der Populärste von allen, aber nicht der Stärkste: F. von Reznicek, leicht, graziös, ein großer Könner mit einem Stich ins Pikante und Kitschige; Eduard Thöny mit seinen Offiziers- und Gesellschaftsbildern, etwas trockenrealistisch, aber von großer Schärfe der Charakteristik, und dann einer der Stärksten, Olaf Gulbransson, eine ganz originelle Erscheinung, von einer Schönheit des Stils und des Federstrichs, die ganz neu war. Daneben noch manch anderer tüchtiger Künstler. In der "Jugend" zeichnete sich ein Junger aus: Max Feldbauer mit seinen grotesken, stark malerisch gesehenen Bauern- und Kleinstadtfiguren echt bajuvarischer Färbung; in dieser Zeitschrift wurde mehr die Heimatkunst gepflegt, das Gemütlich-Bayerische, stark stilisiert, im Charakter alter Bauernkunst.
Albert Langen hatte auch Glück mit den literarischen Mitarbeitern, er fand Ludwig Thoma, dessen prachtvolle Peter Schlemihl-Gedichte stark einschlugen, und Frank Wedekind, der köstliche Gesellschaftssatiren im Bänkelsängerton brachte, später kamen noch "Ratatöskr" und "Dr. Owlglass" dazu, Pseudonyme des Dichters Dr. Blaich, eines hervorragenden Lyrikers ernster und heiterer Stimmungen. Die Redaktion des "Simplizissimus" bestand aus einem Tisch und einigen Stühlen. Der Herausgeber lief nervös im Zimmer hin und her: "Haben Sie nichts Neues? Etwas Packendes, etwas, was wirkt?"
Der Künstler ist kein "Angestellter" mehr, sondern ein freier Mann, dessen Zeichnungen wohl kritisiert werden können, der aber auch etwas zu sagen hat.
Kein Chef und keine Untergebenen, beide mehr Kameraden, die zusammen etwas Gutes machen wollen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb dieses Blatt nicht verflacht ist und sich jahrzehntelang frisch erhielt. Das neue Druckverfahren mit den Druckplatten in verschiedenen Farben gab etwas Neues. Langen ging ganz in seinem Blatt auf, alles drehte sich darum, er war das reinste Quecksilber.
Wir machten eine gemeinsame Radtour nach Venedig. Bei jedem schönen Stück in der Landschaft oder in den Straßen fragte er: "Schlittgen, wieviel Platten sind das?" Auf dem Markusplatz in Venedig: "Drei Platten? Zwei genügten vielleicht auch." Bei jedem komischen Erlebnis: "Könnte man nicht etwas fürs Blatt daraus machen?" Vor jedem Buchhändlerladen: "Könnte man hier nicht das Blatt auslegen lassen?"
In Bozen traf ich einen Berliner Bekannten, den Chef eines großen Bankhauses. Langen rief mich hinaus: "Fragen Sie ihn doch, ob er sich nicht am Blatt beteiligen will." "Um Gottes willen, der Herr ist streng nationalliberal." "Das tut nichts, der Mann kann verdienen." "Nein, ich wage es nicht."
Diese Regsamkeit hat alle angespornt, er war der treibende Geist.
Alle meine Witze, die ich erlebte, hat er mir herausgelockt und sie verwertet; nicht nur meine, sondern auch die aller meiner Bekannten; er hatte darin eine riesige Fertigkeit. Er hörte harmlos zu, als wäre es nichts Besonderes, dann kamen sie nach zwei Wochen mit großen Illustrationen versehen im Blatt.
Das war neues Leben und nicht schwerfällig, man war von dem Mann gefangen und konnte ihm nicht böse sein. Er hatte eine außerordentlich feine Witterung für das Gute. Eine Gesellschaft junger Künstler bildete sich um die Jahrhundertwende in München mit dem kriegerischen Namen "Die Phalanx". Ich wurde Mitglied. Wir wollten moderne Kunst ausstellen, vor allem die bedeutenden Ausländer, von deren Werken sich nur selten eins nach München verirrte. Mit einer großen Kollektion des Impressionisten Claude Monet fingen wir an. Wir hatten große Geschäftsräume in der Theatinerstraße, die gerade leer standen, gemietet. Es war sehr kühn, denn uns fehlten die Mittel, die Ausstellung wurde wenig beachtet.
Kandinsky, der bei uns war (er malte damals ganz anders als heute), hatte einen Neger, der sonst Modell stand, angestellt und in eine Livree gesteckt. Abends kam dieser immer und berichtete; er wurde immer trauriger: "Heute ging es ganz schlecht. Es wird immer schlimmer." Er fühlte sich so geehrt auf seinem Posten und nun litt er mit uns. Eines Abends kam Kandinsky zu mir und sagte: "Der Mohr ist krank geworden. Es geht zu Ende. Heute waren es drei Besucher. Wir müssen schließen."
So wurde die Ausstellung ein vollständiger Mißerfolg, der auch den Zusammenbruch der "Phalanx" herbeiführte. Eine zweite Ausstellung von Werken Pissarros war schon in Vorbereitung und mußte aufgegeben werden.
Mitte der neunziger Jahre hatte mir Strindberg aus Paris geschrieben, er hätte dort einen hervorragenden, aber noch wenig bekannten Maler entdeckt, namens Gauguin, der sehnlichst wünschte, seine Werke in München zu zeigen. Vielleicht könnte ich eine Ausstellung zustande bringen. Es gelang mir nicht. Nur der Buchhändler Littauer am Odeonsplatz war bereit, einige Bilder kommen zu lassen und auszustellen, aber sein Lokal, mehr ein Verkaufsladen, war zu klein und das Licht zu schlecht für die großen Formate Gauguins, und so zerschlug sich der Plan, und München kam um die Ehre, einen der ersten modernen Künstler zuerst in Deutschland gezeigt zu haben. Erst im Jahre 1906 brachte eine kleine Kunsthandlung in der Maximilianstraße Bilder von Gauguin und auch Werke von van Gogh zur Ausstellung, von ersterem aber nur solche aus seiner ersten Zeit mit Motiven aus der Bretagne. Gauguin war kurze Zeit nach dem Zusammentreffen mit Strindberg als Europamüder auf eine kleine Insel im Stillen Ozean geflüchtet, malte dort die paradiesischen Menschen in ihrer Landschaft und ist bald darauf gestorben. Sein künstlerischer Nachlaß war verschollen, bis man ihn um das Jahr 1905 in New York fand; seine Bilder lagen, als dicke Rolle verpackt, vergessen auf einem Speicher. Diese Werke kamen nach Deutschland. Verständige Kunstliebhaber machten sich darüber her, die Bilder waren recht billig zu haben. Ein großer Teil kam in das Folkwangmuseum nach Hagen in Westfalen. Wie sah es in dieser Zeit in Deutschland aus? Tieferes Interesse für die damalige neue Kunst fand man eigentlich nur in Norddeutschland, wo Liebermann mit seiner "Gesellschaft der Elf" und "Sezession" gut vorgearbeitet hatte. Berlin und Hamburg, aber auch die kleineren Städte, wie Dresden, Weimar, Darmstadt und andere, brachten mehr davon zur Ausstellung als München. Dazu kamen viele Sammler und Kunstliebhaber in den Hauptstädten, wie auch in der Provinz, welche diese Bilder nicht nur ansahen, sondern auch kauften. Viele Privatsammlungen in Berlin, Dresden, Hamburg und Lübeck sind berühmt geworden, und ihre klugen oder gutberatenen Besitzer haben sich Schätze erworben.
In München gab es damals keine einzige derartige Sammlung von wirklich modernem Gepräge; hier hing man zu sehr an der Tradition, man war mehr konservativ und etwas mißtrauisch gegen das Neue.
Auch die Staatssammlungen haben sich die günstige Gelegenheit, in der ersten Zeit Bilder der großen modernen Maler billig kaufen zu können, entgehen lassen. Diese Kunst wurde noch nicht verstanden.
Tschudi, der später Direktor der Staatlichen Sammlungen wurde und aus Berlin kam, hat diese Unterlassung zum Teil wieder gutgemacht. Er fand opferbereite Bürger in München, welche ihm die Mittel gaben, eine kleine gute Sammlung zu erwerben.
Daran sieht man, daß es nur einer energischen, verständigen Anregung bedarf und der Fähigkeit zu überzeugen, dann wird auch der Schwerfällige lebendig.

Italienische Reise  

Goethes herrliches Gedicht: "Kennst du das Land?" wird jedem, der nach Italien zieht, etwas hinterlassen, was er, wenn er dort ist, beharrlich sucht. Ob er es findet, hängt von ihm ab. Goethe dichtete das kleine Meisterwerk, ehe er in Italien war, er sah das Land so, wie er es sich wünschte, er drückt darin die Sehnsucht aus.
Wenn man Italien bereist, hat man diese Mignonstimmung nötig, sie muß in einem nachklingen, dann sieht man alles verklärt. Denn das Nüchterne ist auch da und drängt sich sogar gehörig vor.
Mein Freund, der Maler Cecil van Haanen, der jahrzehntelang in Italien lebte, behauptete immer, das Gedicht, so schön es sei, sei total falsch und gäbe einen ganz falschen Begriff des Landes. Er dichtete zum Scherz eine Parodie darauf, die vielleicht ein wenig respektlos aussieht, es aber doch nicht ist: sie gibt die andere Seite wieder, die Goethe noch nicht kannte. Mein Freund war etwas verbittert, er war zu lange in diesem Lande — war doch Goethe bei seinem zweiten Aufenthalt, als er Venedig besuchte, auch schon etwas ernüchtert — und dann war er mit dem ewigen Schnupfen des "Auch Einer" von Vischer behaftet.
Jedenfalls gibt die Parodie sehr gut die Stimmung der Künstler wieder, die zu lange in Italien leben. Ich setze sie deshalb hierher.

Mignon (nach Goethe)

Kennst du das Land, wo die Katarrhe blühn,
Durch ungeheizten Raum die kalten Lüfte ziehn,
Wo in Lokalen weder Tür noch Fenster schließt,
Wo alles hustet, spuckt und schnäuzt und niest?
Von dort, von dort,
O mein Geliebter, laß uns fliehn!

Kennst du das Haus? Es regnet durch sein Dach,
Verfallen stehn im Schmutz Trepp' und Gemach,
Armsel'ges Volk sieht dich verwundert an:
Was sucht, was will er hier, der fremde Mann?
Kennst du es wohl?
Dahin, dahin
Laß uns, beschütze Gott, nie wieder ziehn!

Im Frühling, wenn die Osterferien unseres Sohnes kamen, fuhren wir oft nach Bozen und machten einen kleinen Abstecher an den Gardasee. Wer die Gegend um diesen schönen See kennt, kann sich die Fahrt durch Italien ersparen, er sieht hier den italienischen Volks- und Landschaftscharakter besser als in Mittelitalien und findet ihn erst im Süden wieder. Romantische Felswände, malerische halbzerfallene Ortschaften mit traulichen weinumrankten Osterien, märchenhafte Olivenhaine, baumlose, mit Steinen besäte Berghänge: "Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg"; hier oben eine herrliche Einsamkeit Grau in Grau mit dem Blick auf den tiefblauen Streifen unten, den See. Das Volk ist von einer echt südlichen Trägheit, wie unten in Neapel.
Oben auf dem Monte Baldo bemerkten wir einmal, wie Steine gesprengt wurden, wir hörten von Ferne die abgelösten Steine mit donnerndem Getöse in die Tiefe sausen. Wir kamen näher, da stand der Mann und wartete schon. Wir setzten uns und wollten gern das Schauspiel in der Nähe sehen. Der Mann setzte sich auch hin und sah immer zu uns herüber.
Da winkte ich ihn heran und gab ihm zwei Lire. Dann ging er in sein Loch, und nach zehn Minuten schlug der Knall in die Luft, und ein großer Stein tobte tanzend den Abhang hinab.
Den nächsten Tag sah ich den Mann in seiner blauen Sammethose und roten Schärpe in der Tür einer Osteria stehen, die Arme gekreuzt, einmal rechtes Bein über das linke, linkes über das rechte, und so fort. Nachmittags stand er noch da; ich fragte ihn, ob er heute nicht sprenge. "No, Signore." "Weshalb denn nicht?" "Le due Lire."
Also von den zwei Liren lebte er jetzt im holden "dolce far niente", bis sie verbraucht waren, und oben in den Bergen war es doch viel schöner als hier in der Tür. Die Witwe Bertolini hatte unten am See ein kleines Wirtshaus mit großer Terrasse in den See, hier saßen die Künstler und Schriftsteller aus München, Paul Heyse war Stammgast und mancher noch aus der Zeit, wo die Dichter noch lange Haare trugen. Hier saß man an der nördlichsten Spitze und sah den See in seiner ganzen Länge, in der Mitte war eine kleine Verengung der hohen Ufer, das gab eine schöne Linie. Goethe hat sie gezeichnet, der "Umriß" hing in dem Zimmer, in welchem er auf seiner ersten italienischen Reise zwei Tage wohnte, man konnte genau die Stelle und das Fenster finden, von wo aus er zeichnete. Er schreibt in der "Italienischen Reise", daß er hier an der "Iphigenie" gearbeitet hat. Er ging, wie wir noch heute, den Weg von Nago nach Torbole hinab, zwischen Weinreben und Felsgestein, in dessen Ritzen die blauen Eidechsen sich sonnen. Auf dem Wege von Mori hierher liegt in erhabener Einsamkeit das Felsenmeer, die Stätte, die schon Dante betrat und die in die "Göttliche Komödie" hineinspukt mit ihrer vom Felsensturz begrabenen Stadt. Hier war der Ort, den die beiden größten Dichter der germanischen und der italienischen Kultur betreten hatten und von dem sie starke Eindrücke empfingen.
Als man in Torbole von italienischem Geld ein großes Hotel baute, wollte man einen Saal mit Bildern schmücken. Ich schlug einem beteiligten Herrn zwei Motive für zwei Bilder vor: Goethe, den Hang nach Torbole hinabgehend, und Dante im Steinmeer zwischen Nago und Mori. Der Herr lächelte verlegen und ging nicht weiter darauf ein, er war ein Irredentist. —
Torbole ist dann verdorben worden, wie alles Schöne, was die Maler finden, von den Spießbürgern zertrampelt wird.
Frau Bertolini verpachtete ihr Gasthaus an eine österreichische Familie, der Mann war Hausdiener und die Frau Köchin im berühmten "Greifen" in Bozen gewesen; das Haus wurde eine wahre Schlemmerstätte. Mittags und abends saßen die Gäste stundenlang an langen Tafeln auf der herrlichen Terrasse, sie waren angelockt weniger durch die Schönheit der Landschaft, als vielmehr von der berühmten guten und reichlichen Küche der Wirtin. Diese ging herum und fragte: "Schmeckt's Ihnen? Sie essen ja heute nicht, sind Sie krank? Nehmen Sie sich etwas mit aufs Zimmer." Die gute Frau zog damit immer mehr Gäste an, sie mußte anbauen und Häuser mieten, um alles unterzubringen, aber die Künstler und Dichter vertrieb sie für alle Zeiten. — Hier in Torbole sah ich einmal eine Szene, die so recht den italienischen Charakter zeigte.
Ein junger Fischer war im See ertrunken, die Trauergesellschaft kam vom Begräbnis und ging in das Haus des Verstorbenen. Ein großer Hof mit einer Holzaltane hoch oben, wohin eine Holztreppe führte. Die Schwester des Ertrunkenen ging die Treppe hinauf und mußte von zwei Frauen geführt werden: sie krümmt sich vor Schmerz und stößt lange Klagelaute aus.
Mitten auf der Treppe wirft sie sich weit zurück, daß die Frauen sie kaum halten können, ringt die Hände und bleibt in dieser Stellung einige Zeit starr, wie die Maria auf der Kreuzigung von Grünewald.
Dieses Bild mit den schwarzen Leuten unten war eine vollendete Komposition; es war ergreifend, ich sah nie so etwas Starkes an Schmerz und ich ging erschüttert in mein Hotel. Nach einer Stunde sah ich in einer Gasse zwei Frauen in Schwarz kommen, die harmlos, fast heiter plauderten, als wäre nichts gewesen; die eine war die schmerzensreiche Schwester. —
Einmal schrieb mir ein Freund aus Rom, ich solle doch endlich einmal kommen, und ich entschloß mich zu einer kleinen Fahrt nach dem Süden.
Über den blauen See und über Verona, das auch italienischer ist als die meisten Städte, die dann kommen, in die Lombardei hinein. Ich sehe mir nicht nur die Landschaft draußen an, sondern auch die Menschen, die im Abteil kommen und gehen. Ein blonder, noch junger Mann steigt ein und setzt sich mir gegenüber; er hat rotblondes Haar, ist augenscheinlich germanischer Abkunft, wie man es hier im Norden Italiens viel findet.
Er hat einen weißen, frischgewaschenen Leinwandanzug an, der von oben bis unten mit schwarzen Flecken bedeckt ist. Man sieht genau: ein Tintengefäß ist vor ihm auf den Fußboden geworfen worden, die Spritzer gehen strahlenförmig von einem Punkt aus nach oben, unten sind die Kleckse größer und dichter, nach oben zu werden sie schwächer, so wie ein Maler Sonnenstrahlen stilisiert. Der Herr ist ganz ruhig und schämt sich gar nicht, die andern Insassen werfen einen schnellen Blick auf seinen Anzug und verziehen keine Miene.
Als der gesprenkelte Herr ausgestiegen ist, kommt ein andrer Mann und setzt sich mir gegenüber an das Fenster; echt italienischer Typus, blaß, schwarzes, volles Haar, das in die Höhe strebt, lebhafte Augen.
Ich sehe zum Fenster hinaus, da kommt ein Städtchen, dahinter ein leichter Höhenzug. Mit einem Male springt der Mann auf, winkt mir zu, macht eine heftige Gebärde den Höhen zu, zeigt in großen Linien mit dem Arm hinüber und sagt mit ergriffener, zitternder Stimme: "Custozza! Custozza!"
Er sieht mich mit feurigem Auge an und setzt sich glücklich lächelnd wieder hin.
Ich hatte doch so eine Erinnerung, daß hier die Italiener zweimal von den Österreichern geschlagen wurden, wurde aber doch ein wenig irre.
Als ich später meinem Freunde van Haanen dieses Erlebnis erzählte, lachte er und sagte:
"Ja, weißt du denn nicht, daß der Italiener alle seine Niederlagen als Siege feiert? Keiner wird zugeben, daß er unterlegen ist; bei Custozza hat er zweimal gesiegt." Da kam mir einmal der Gedanke, man könnte von diesen drei Szenen ein Triptychon malen: das italienische Volk. In der Mitte das Drama im Hof an der Altane in Torbole: der Italiener als Schauspieler.
Links als kleines Seitenbild den Mann, der den Mund aufreißt: der italienische Patriot.
Und rechts den gesprenkelten Herrn im Leinenanzug, der sich nicht geniert: die Natürlichkeit in Italien. Diese ist seine schönste Eigenschaft und gewinnt ihm die Herzen.
In seiner Haltung, seinen Bewegungen ist er ganz Natur, in seinen Gefühlen und Äußerungen ein Kind. Er fragt nicht danach, was die Leute sagen, er zieht hellgrüne Hosen an und hängt einen zinnoberroten Mantel um, wenn ihm das gefällt, und diese starken Farben, die bei uns schreien würden, wirken hier harmonisch, da die Sonne sie verklärt. Das macht auch die Straßen und Plätze in italienischen Städten so malerisch, diese gewagte Farbigkeit gehört geradezu hier in diese vom Sonnenbrand gebleichten und vom Alter verwitterten Häuserwände. In diesem Land sind die Städte das Interessanteste zum Malen, die Landschaft ist schön in den Linien, aber als Farbe blaß und gläsern, diese ewige Sonne hat den Saft, der Farbe gibt, herausgezogen, und der Staub hat alles überzuckert. Der alte Schadow sagte: "In Italien stehen lauter Regenschirme in der Landschaft, die offenen sind die Pinien, und die zugeklappten sind die Zypressen." Mit der deutschen Landschaft, die durch den steten Witterungswechsel interessante Stimmungen mit herrlichen Wolkenbildungen erhält, kann sich die italienische nicht im entferntesten messen.
In Rom wurde ich von meinem Freunde an alle Stätten geführt, die vom modernen Kitschgeschmack des heutigen Italieners noch unberührt waren.
Der Eindruck war gewaltig, auch sah ich manche erhabene Stimmung beim Blick von den Höhen auf die ewige Stadt. Rom war nicht mehr die Stadt der Sehnsucht des deutschen Künstlers wie ehemals, wo die Italienfahrt sein höchster Traum war. Oft blieb er damals ganz hier sitzen, und wenn er in die Heimat zurückkehren mußte, war er zeitlebens krank.
Das Leben war hier angenehm, der Unterhalt billig, der Wein gut und kostete fast nichts, und die reichen Fremden kauften ihre "Veduten" und "Genreszenen". Oder sie begleiteten die großen Herren, machten den Fremdenführer und verewigten die schönen Ansichten, die dem hohen Reisenden am besten gefielen, in "illuminierten" Zeichnungen, die er zum Andenken an seine Italienfahrt zeitlebens aufbewahrte oder einer Holden verehrte. Wer denkt da nicht an den Vertreter dieser Gattung Künstler, an , den Begleiter Goethes! Er reiste mit Goethe als eine Art künstlerisches Faktotum, und jener bemerkt in seinem Tagebuch, nachdem er seine wichtigen Erlebnisse eingetragen hat, noch kurz: Kniep umriß die Landschaft.
Nach dreißig Jahren trifft Ludwig Richter irgendwo oben in den Bergen Siziliens Kniep als alten Mann, von aller Welt verlassen, abseits aller Kultur, der richtige Italienhocker seiner Zeit.
Kniep erkundigt sich nach alten Freunden in der Heimat. "Sagen Sie mal," fragt er in seinem sächsischen Dialekt, "da war hier vor vielen Jahren ein gewisser Goethe; was ist aus dem eigentlich geworden?" —
Es gab noch einige Veteranen aus dieser Zeit, aber sie paßten nicht mehr in das moderne Rom. Sie saßen abends in den paar Osterien, die aus der Zeit gemütlicher Künstlergeselligkeit übriggeblieben waren, und klagten über den Verfall Roms; sie schwärmten traurig von alter Zeit und erzählten, wie es hier noch vor dreißig, vierzig Jahren aussah, sie schilderten alte Straßen und schöne Winkel, die alle, eine nach der andern, der modernen Großmannssucht der Italiener zum Opfer gefallen waren. Es war der letzte Aufschrei der "Barbaren", die verschwundene Schönheiten bejammerten.
Unsere Freunde, die jungen Künstler, waren skeptischer veranlagt, sie schwärmten nicht mehr, sie schimpften. Im Winter froren sie in den ungeheizten Lokalen, an den marmornen Kaffeetischchen, die man nicht mit der Hand berühren durfte, sonst fuhr man zurück, als hätte man ein Stück Eis berührt; im Sommer war die Hitze unerträglich. Mit der antiken Kunst sei es auch nicht weit her, alle bedeutenden Werke befänden sich oben im Norden, in London, in Paris, in Berlin in den Museen, und hier wären nur ganz wenige verblieben. Man stritt sich, ob es heute für den Deutschen noch nötig sei, in Rom zu sitzen. Die Sachsen waren dafür. Otto Greiner sagte: "Jawohl, wir müssen wieder antike Menschen werden." —
In der Galerie Doria sah ich den "Papst Innozenz" von Velasquez, eines der größten Meisterwerke der Malerei. Dieses Porträt ist ganz in Rot gestimmt, hellrot ist das Gewand, weinrot der Hintergrund und blaßrot das Gesicht des Papstes. Von der Farbe war ich etwas enttäuscht, sie war nicht recht fein im Zusammenklang, vielleicht hat die Zeit sie auch verändert, aber welch psychologische Feinheit und Kraft zugleich ist im Ausdruck dieses Mannes.
Wie der Papst dasitzt und den Beschauer mit scharfem, fast bösem Blick mustert! Er sieht aus, als wäre er von einer guten, reichbesetzten Tafel aufgestanden, die rosa Glanzlichter huschen über sein Gesicht.
Und diese Hand auf der Stuhllehne, welche Malerei mit ein paar Pinselstrichen, welches Leben und welche Farbe! Der Papst war gar nicht beleidigt von dieser unhöfischen Auffassung, sondern im Gegenteil entzückt, er erklärte das Bild für ein Meisterwerk, ließ es den neidischen römischen Malern zeigen und hängte dem Künstler eine goldene Ehrenkette um.
Wahrheit, Psychologie, Charakteristik waren in damaliger Zeit keine Majestätsbeleidigungen. —
Acht Tage bummelte ich in Rom herum, dann fing ich an, etwas zu zeichnen; die Sonne schien mir auf das weiße Blatt, ich bekam ein rotes Auge. Ich dachte: ich will erst die Zeichnung fertigmachen, dann kann ich es heilen. Als ich nach Hause kam, erhielt ich plötzlich einen Schlag in das Auge von der Stirn aus, als wenn mir ein Dolch hineingestoßen würde.
Der Schmerz war furchtbar, das Auge schwoll dick an und wurde blutrot; ich mußte es schließen, nicht den geringsten Lichtschimmer konnte ich vertragen.
Die befreundeten Kollegen schickten mir einen alten deutschen Arzt. Er sah es an, sagte: "es ist eine Entzündung'' und gab mir etwas zum Einträufeln. Ich saß fest im Zimmer bei verhängten Fenstern, der kleinste Lichtstrahl schmerzte. Acht Tage blieb ich so, das Auge wurde nicht besser. Mit dem Freunde hatte ich verabredet, nach Neapel zu fahren, ich wollte nicht allein zurückbleiben, verband das Auge und fuhr mit.
Ich ging in das deutsche Hospiz. Der Arzt pinselte vierzehn Tage lang mit Höllenstein, es war ein Höllenschmerz. Das Auge wurde immer schlimmer.
Da kam mein guter Geist, ein österreichischer Arzt, der die Krankheit erkannte, es war die Iritis. Er träufelte Atropin hinein, es war höchste Zeit, vielleicht nur noch Stunden, und die Iris wäre dauernd angeklebt; in München und Kiel konstatierten die Ärzte, daß eine kreisrunde Anzahl schwarzer Flecken zeigten, daß die Iris schon klebte und vom Atropin abgerissen wurde.
Nun wurde das Auge besser, ich blieb noch vier Wochen, dann erlaubte mir der Arzt die Heimfahrt.
Die schwarze Brille vor den Augen, fuhr ich zum Bahnhof. Ich hatte noch eine Stunde Zeit und sagte zum Kutscher: "Ich will Neapel sehen." Ich konnte mein heftiges Verlangen nicht bezähmen: sollte ich hier so traurig Abschied nehmen, ohne irgend etwas von dieser Stadt gesehen zu haben? Der Kutscher fuhr mich hinauf auf die Höhen, an die sich die Stadt anlehnt. Dort oben sah ich das einzige Bild: Neapel mit dem Vesuv.
Der Blick ist würdig seines großen Rufs. Vorn im eleganten Halbkreis Neapel, dann als große Kulisse der Vesuv. Wie der Berg steil aus dem Meere aufsteigt, oben am Krater einige kokette Zickzacks macht und dann in einer wunderbaren großen, edlen Linie weit in das Land hinein verklingt, das ist einzig.
Ich war ergriffen und war noch einmal leichtsinnig. Ich tat etwas, was mir der Arzt streng verboten hatte. Ich hob die schwarze Brille einige Sekunden hoch und sog das herrliche, in der Sonne glänzende Bild mit dem gesunden Auge ein, bis mich das kranke schmerzte. Nun sagte ich zum Kutscher: "Am Hafen vorbei zum Bahnhof."
Häßliche alte Frauen, wie man sie nur in Italien findet, hängten unten, wo die Boote lagen, Wäschefetzen auf. Zwei davon waren in Streit geraten und hielten sich bei den Haaren. Ihre Körper standen dunkel gegen die untergehende Sonne, sie wirkten wie chinesische Schattenbilder, grotesk, nicht mehr menschlich, wie zwei Fabelwesen aus einem unheimlichen Reich. Die Gesichter waren tiefbraun, die Haare, die um den Kopf wehten, blauschwarz, die lumpigen Kleider bunt; die Mäuler, die sich anschrien, standen dicht aneinander und klappten auf und zu, ihre Hände hatten sich in die gegenseitigen Haare verwühlt und zerrten die Köpfe hin und her.
Dann plötzlich ließen sie sich los, sagten kein Wort mehr und gingen an ihre Arbeit, als wäre nichts geschehen. Nun fuhr ich befriedigt ab, ich hatte Neapel gesehen.

Kunstkenner  

Wie merkwürdig sind doch oft die Wege, die ein Künstler geht. Mein Freund, der Norweger, fing als Maler an und erschien als solcher schon in sicherer Stellung. Das Museum in Gent kaufte von ihm ein Bild, zwei alte Leute darstellend, die am Meeresstrand stehen und in die Abendsonne hinausblicken. Von hinten gesehen, das liebte er; auch die Profile waren seine Leidenschaft. Eine Genter Zeitung nannte ihn nach diesem Bild den Ibsen der Malerei. "Schlittgen," sagte einmal Paul Höcker, als ich noch mit Bernt zusammen arbeitete, "jage Grönvold doch von den Profilen fort", was ihm sehr übelgenommen wurde. Als Bernt einmal aus Tirol zurückkehrte und mir seine Studien zeigte, machte ich ihn darauf aufmerksam: "Weshalb denn immer die Menschen im Profil?"
"Die Leute stehen dort so herum", sagte er in seiner traurigen Weise.
Langsam kam er von der reinen Malerei ab und interessierte sich hauptsächlich für die Zeichnung. Das führte ihn zu den Nazarenern und zu der Kunst der Biedermeierzeit. Er suchte überall herum nach Künstlern aus dieser Epoche, es war eine reine Leidenschaft geworden. Und dann konnte er so überzeugend und so eindringlich die Schönheiten einer reinen Linie oder einer einfachen naiven Menschencharakteristik preisen. Er, dem die deutsche Sprache sonst so schwer wurde, konnte dann so beredt werden, die Worte folgten einander etwas holperig, das tat nichts, im Gegenteil, es erhöhte die Wärme, wenn er mehr mit den Augen sprach. Etwas Keusches und Reines ging da von ihm aus. Er war der Sohn eines hohen Geistlichen in Norwegen, und manchmal, wenn er von Kunst sprach, kam es mir vor, als stünde er als junger sympathischer Geistlicher in der Kirche und lobte Gott.
Freilich hatte diese Art auch ihre Schattenseiten. Was nicht so war, wie er es für richtig fand, konnte er recht von oben herab behandeln. Er hatte einen trockenen Humor, der durch die etwas komische Aussprache des Deutschen noch gesteigert wurde. Als ich, entgegen seinem Weg, mich der modernen Malerei zuwandte, konnte er manchmal sehr unduldsame Bemerkungen machen. Seine Atelierbesuche waren von den Freunden gefürchtet, er brachte es in seiner stillen Art fertig, einem die Lust am Arbeiten für einige Tage zu nehmen. Das Versöhnende war, daß er selbst gar nicht empfindlich war. Als er mir einmal nach einer Studienreise seine Arbeiten zeigte, fragte er mich, welche davon mir am besten gefielen. Ich bezeichnete ihm drei.
"Die sind von meiner Frau", sagte er traurig. "Du hast recht, es sind die besten."
Einmal schrieb er mir von Bozen aus: Komme möglichst schnell hierher, ich muß dir etwas zeigen und möchte dein Urteil hören. Es war im Frühling und ich machte diesen Ausflug gern. Da brachte er eine Mappe mit vergilbten Zeichnungen und legte mit einem stillen Ausdruck des Glücks eine nach der andern vor mir hin, erwartend, was ich dazu sagen werde. Es waren Zeichnungen aus der Zeit der dreißiger, vierziger Jahre, voll keuscher Anmut, auf schönen, reinen Kontur gesehen.
Italienische, auch deutsche Mädchenköpfe mit dicken, schöngeschwungenen Zöpfen, die an den Ohren brezelartige Ornamente bilden, Bildnisse idealistischer junger deutscher Künstler mit hohem Haarschopf in ihren breiten Rockkragen und Faltenhemden mit der Biedermeierkrawatte, italienische Landschaften mit Figuren, Landvolk im Grünen liegend mit spitzen, hohen Hüten auf dem Kopf, um die sich das farbige Band in mehrfachen Windungen schlängelt, Ochsenwagen und Eselkarren, in der Ferne auf einer Anhöhe ein italienisches Städtchen. Auch einige Photographien nach Bildnissen Bozener Bürger und Bürgerinnen waren dabei von schöner Auffassung und feiner Charakteristik. Ich war entzückt über diese reine Kunst, ihr Stil erinnerte entfernt an Ingres und die Nazarener; sie war aber frei vom Akademischen, alles war einfach und natürlich gesehen, manchmal dachte man ein wenig an den jungen Menzel. Gezeichnet waren sie: Friedrich Wasmann; den Namen kannte ich nicht.
Bernt erzählte nun. Er sah in Meran im Schaufenster eines kleinen Schreibwarenhändlers einige dieser Zeichnungen; ein Zettel lag dabei: mehr davon im Laden. Da fand er einige Mappen voll und suchte diese hier aus. Er erfuhr, daß dieser Maler Wasmann vor kurzem hier in Meran in hohem Alter gestorben sei, seine Witwe lebte noch. Diese suchte Bernt auf und fand ein steinaltes Mütterchen mit einer Tochter, der Sohn war Jesuitenpater; er ist bekannt als Naturforscher und Haeckelgegner. Wasmann, ein geborener Hamburger, war Anfang der dreißiger Jahre nach Rom gefahren und hatte sich dort den Nazarenern angeschlossen, namentlich ihrem Führer Overbeck, und war zum Katholizismus übergetreten, wie es in diesem Kreise oft vorkam. Er kehrte dann in seine Heimat zurück, wo er sich seine Frau holte. Später zog er aus Gesundheitsrücksichten nach Meran, wo er Altarbilder und viele Bildnisse von Bozener und Meraner Bürgern malte; er hieß dort: das Malerl. Diese Zeichnungen stammten alle aus seiner Hamburger und Römischen Zeit.
Bernt, ein Idealist, sagte: "Die Bilder und Zeichnungen müssen zuerst nach Hamburg geschickt werden, die Kunsthalle muß welche erwerben." Der Direktor Dr. Lichtwark war bekannt als großer Förderer, speziell der Hamburger Kunst, er hatte schon verschiedene alte Hamburger Maler der Vergessenheit entrissen, ja, es war ein förmliches Steckenpferd von ihm, Hamburger Künstler zu entdecken. Auf meinen Rat schrieb Bernt an Lichtwark und schickte Zeichnungen mit, ebenso an Professor Gurlitt, einen bekannten Kunsthistoriker in Dresden, um ihn auf Wasmann aufmerksam zu machen. Dieser machte es kurz, die Zeichnungen kamen bald zurück mit dem Bescheid: ich kann nichts Besonderes daran finden.
Aber Dr. Lichtwark brauchte lange. Ein Jahr verging, keine Antwort. Da fuhr ich einmal nach Kiel, und Bernt bat mich, wenn ich Hamburg berühre, doch zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen.
Ich tat es. Dr. Lichtwark war sehr liebenswürdig und führte mich stolz durch die Säle seiner Hamburger Entdeckungen. Dann fragte ich ihn im Auftrage Bernts nach Wasmann. Er ging mit mir in sein Büro, holte die Mappe, nahm die Zeichnungen heraus und sagte: er könne zu keinem rechten Urteil kommen.
Dann fing ich an und redete in ihn hinein, er solle sich so etwas Gutes nicht entgehen lassen. Ich kam in Feuer, sah ich doch die schönen Zeichnungen wieder. Lichtwark hörte lange still zu, dann sagte er: "Ich danke Ihnen, ich sehe nun diese Kunst mit ganz ändern Augen an." Nun schrieb er an Bernt, erwarb Zeichnungen von der Witwe, die nun glückselig war über die späte Anerkennung ihres Mannes; er hatte wenig davon gehabt im Leben, Lichtwark fuhr nach Meran und kaufte Porträts für die Kunsthalle und war mit einem Male begeistert für Wasmann. Inzwischen hatte Bernt auf eigene Kosten die Selbstbiographie Wasmanns mit Bildern herausgegeben, die kein Mensch kaufte. Erst auf der Jahrhundertausstellung deutscher Kunst 1901 in Berlin wurde Wasmann anerkannt als einer der besten deutschen Künstler aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
Später hörte ich verschiedene Male, wenn von diesem Künstler gesprochen wurde: "Wasmann? Wasmann? Ist das nicht der, den Lichtwark ent —" "Nein! Der norwegische Maler Bernt Grönvold hat Friedrich Wasmann entdeckt. Ich bin Zeuge." — Ein anderes Erlebnis. Max Slevogt brachte mir Mitte der neunziger Jahre einen jungen Mann, der Reallehrer in Freising bei München war. Er kam immer mit einer Mappe unter dem Arm, ich sah ihn überhaupt nicht, ohne daß er irgend etwas von Kunst bei sich hatte. Er zeigte große Begeisterung und fing an, für die "Allgemeine Zeitung" Kritiken zu schreiben, worin er scharf über die damalige Münchener Kunst, namentlich über Lenbach, herzog.
Er wurde dann Konservator an der alten Pinakothek und Professor an einer Hochschule; er war ein wirklich leidenschaftlicher Kunstfreund, überall kroch er, mit seiner Mappe unter dem Arm, herum, um wahre Kunst zu suchen. Wie erschrak ich, als im Halbdunkel der Kathedrale von Granada plötzlich aus dem Hintergrund Dr. Voll auftauchte. Er machte sich einen Namen als Kunsthistoriker, seine Bücher über altniederländische Kunst sollen gut sein. Ich lese solche Werke nicht. Wenn ich einen Künstler liebe, möchte ich etwas über seine Persönlichkeit, sein Leben wissen, das andere langweilt mich.
Wenn man große Kunst liebt und versteht, braucht man dazu nicht noch große Worte.
Wie hat Max Klinger oft gelacht über seine Erklärer: was sie in seine Werke, namentlich in seine Radierungen hineinlegten, Dinge, an die er gar nicht gedacht hatte. Und Wilhelm Leibl sagte: "Ich kann nicht verstehen, wie ein Vater dulden kann, daß sein Sohn Kunstgelehrter wird, — ein so unnützer Beruf."
Die Künstler sind nicht gut auf die Kunstschreiber zu sprechen, sie werfen ihnen vor, daß sie sich zu sehr in ihre Angelegenheiten mischten, ohne oft die Befähigung dazu zu besitzen. —
Dr. Voll kam oft zu mir, um sich, wie er sagte, über die französische Kunst zu informieren.
Als er Konservator geworden war, wollte er sich für die kleinen Dienste, die ich ihm erwies, erkenntlich zeigen und ließ alle Bilder in der alten Pinakothek, die in den Sälen zu dunkel hingen, ans Licht bringen. Sogar Tizians herrliche große "Geißelung Christi", ein Lieblingsbild von mir, wollte er herunternehmen lassen, aber der Diener sagte: "Es geht nicht, das Bild wiegt dreißig Zentner, der Rahmen ist massiv." Da bat ich ihn, mir den "Schatzmeister Tuke" von Holbein zu zeigen.
Dr. Voll war damals in hitzigem öffentlichen Streit mit Meier-Graefe. Auf dem Bildnis steht im Hintergrund der Tod, der die Geige streicht. Meier-Graefe fand diesen Tod herrlich, stilgerecht, der mußte da sein und sei mit dem Mann zusammen geboren. Sein Gegner sagte: "Nein, das ist ein anderer, späterer Stil, der Tod stört, er paßt nicht hin, er muß erst in der Barockzeit dazugemalt sein." Und er hatte recht. Als der Diener das Bild abnehmen wollte, fiel es aus dem Rahmen; ich stand daneben und konnte es gerade noch auffangen. Es war auf Holz gemalt.
Da sah ich etwas Merkwürdiges. Der Rand, den der Rahmen bedeckte, hatte eine andere Farbe als der Hintergrund, sie war hellblau und auf dem andern Teil grün. Es war klar, auf dieses Bild hatte ein Maler späterer Zeit darauf gemalt, und zwar wegen dieses Todes, denn um einfach eine andere Farbe hinzustreichen, hatte es doch keinen Zweck. Er hatte sich gar nicht die Mühe genommen, das Bild aus dem Rahmen zu nehmen, deshalb war die ursprüngliche Farbe am Rand stehengeblieben.
Ich sagte zu Dr. Voll: "Ja, weshalb, lieber Doktor, haben Sie das nicht gleich Meier-Graefe gesagt, da hätte er sich doch sofort beruhigt, und der Streit wäre zu Ende gewesen." — Ich kannte einen anderen Berühmten unter den Kunstgelehrten. Ein Sammler lud mich einmal ein, ein neuerworbenes Tiziansches Bildnis anzusehen. Der Gelehrte bat mich, mitgehen zu dürfen. Ich hatte das Bild kaum angeschaut, da wußte ich: das ist kein Tizian. Schon an der Zeichnung war das zu sehen: wie unsicher die Augen im Kopf standen; die Farbe war tizianisch, aber nachgemacht.
Der Besitzer war hauptsächlich gespannt auf das Urteil des Kunstkenners, dem ich gern den Vortritt ließ. Der wiegte den Kopf hin und her und gab keine bestimmte Meinung kund; er müsse es sich bis morgen überlegen, die Sache sei zu wichtig.
Da kam ich an die Reihe.
"Das Bild ist eine Pfuscherei, und von Tizian kann keine Rede sein."
Und nun zeigte ich den Herren erst die flackerige Zeichnung, unwürdig eines Meisters, und dann die feste eingeriebene Farbe, die ein Maler, der etwas kann, nicht so ängstlich hinsetzt.
Das war doch ganz klar, und ich hätte mir den Kopf dafür abschlagen lassen. Man sieht doch, was ein Meister gemacht hat und was ein Pfuscher.
Nun, ich habe nie gehört, daß dieser sogenannte Tizian noch von sich reden gemacht hätte. Auch der Besitzer, ein vernünftiger Mann, hatte sich abgefunden.
Derselbe Kunstfreund besaß eine ganze Sammlung herrlicher Originaldrucke Rembrandtscher Radierungen. Ich sah sie mit Dr. Voll an. Bei einer, die einen Gelehrten in seinem Büchergerümpel darstellt, erklärten beide, sie sei wohl nicht echt. Dann wurde ich gefragt. Ich sagte: "Nun, der Kopf ist doch sehr gut."
Schnell wurde der "Bartsch" hergeholt, die Erklärung der Rembrandtschen Radierungen.
Darin stand: Der Kopf ist von Rembrandt, das übrige von seinen Schülern.
"Donnerwetter", sagte Dr. Voll, "Sie verstehen wirklich etwas von Kunst." —
Auf der großen Rembrandtausstellung in Amsterdam im Jahre 1898 traf ich Max Liebermann. Abends saßen wir unter lauter Kunstgelehrten, die sich um die Echtheit eines Bildes stritten.
"Ach was", fährt Liebermann dazwischen, "was gut ist, ist von Rembrandt, und was nicht gut ist, ist nicht von ihm." So ist es. Weshalb ich das alles erzähle?
Um zu zeigen, daß die Künstler mehr von Kunst verstehen als die "Kunstkenner".

Monte Carlo  

Jahrelang hat mir die Augenkrankheit, die ich mir in der römischen Sonne holte, schwere Sorge gemacht; scheinbar geheilt, kam sie immer wieder.
Das Auge hatte mir der gute Arzt in Neapel gerettet, aber es war die Gefahr da, daß die Iris wieder an die Hornhaut ankleben könnte, wodurch ihr Spiel bei Licht und Dunkel verhindert wird; eine chronische Entzündung und Verlust der Sehkraft ist die Folge davon. Schonen sollte ich meine Augen, sagten die Ärzte; aber was war das für ein hartes Gebot für einen Künstler, der wie ich Freude am Arbeiten und ein unruhiges Blut hatte. Und das Zeichnen der Illustrationen auf Papier war so schädlich. Kaum war ich soweit hergestellt, daß der unheimliche Schleier über dem Auge verschwand und ich die Gegenstände wieder klarer sehen konnte, hielt es mich nicht länger; im stillen, ohne meiner Frau oder dem Arzt etwas zu sagen, holte ich im Atelier die geliebte Arbeit vor und erfreute mich wieder am Schaffen. Dann vergaß ich dabei ganz das Maß, vergaß, daß ich ein krankes Auge hatte, bis ein Druck darin mich zur Besinnung brachte und bald ein starkes Stechen mein neues Unglück ankündigte. Mit Angst und Zittern schaute ich dann in den Spiegel und sah verzweifelnd die blutige Röte sich langsam im Auge verbreiten. Der Rückfall war wieder da. Nun mußte ich wieder monatelang stillsitzen, Atropin einträufeln und die große schwarze Brille aufsetzen.
Schon fing mich der schreckliche Gedanke zu quälen an, daß ich wohl überhaupt nicht mehr zum Malen kommen würde; auch den Arzt hatte ich nach Art der Kranken bald durchschaut, aus seinen Andeutungen und Mahnungen herausgefühlt, daß die Krankheit chronisch sei. Oft lag ich nachts in Verzweiflung, die Tränen bissen wie Gift in das kranke Auge, so daß sie mir keine Erleichterung brachten und meinen Zustand nur verschlimmerten. Ich war nun schon am Ende meiner dreißiger Jahre und hatte noch nichts Ordentliches zustande gebracht. Einmal saß ich niedergeschlagen am Tisch, da sagte mein kleiner Junge: "Vater, sei nicht so traurig, es wird schon noch etwas aus dir werden." Endlich siegte auch hier meine kräftige Natur, die Krankheit verschwand. Und sie kam nicht wieder; drei Jahre hatte mich dieser Jammer niedergedrückt, herrlich war die Auferstehung. Nun konnte, ich mich mehr der Malerei ergeben, denn meine Zeichnungen wurden jetzt besser bezahlt. Unser Sohn litt an Nervosität, der Arzt riet uns, ihn vom Gymnasium zu nehmen und ein Jahr in ein ländliches Institut zu geben, wo er sich mehr im Freien aufhalten konnte. Wir wählten das College international des deutschen Herrn Thudichum bei Genf, das einen guten Ruf hatte. Wir waren nun für einige Zeit frei, und ich entschloß mich, die langgeplante Reise nach Madrid zu unternehmen, — ein Traum langer Jahre. Das Papstbildnis in Rom hatte einen neuen Anstoß gegeben, die Meisterwerke des Velasquez zu sehen.
Nachdem ich meine gesunden Augen wieder in Farbe gebadet und einen Sommer im Freien gemalt hatte, gingen wir im Spätherbst auf die Reise. Zuerst wollten wir Paris wiedersehen, die Dreyfusaffäre tobte gerade, man hörte nichts als Dreyfus. Die dramatische Entwicklung ging Schlag auf Schlag, eine Sensation hetzte die andere. Auch wir wurden von dem Fieber erfaßt und nahmen leidenschaftlich für Dreyfus Partei.
Die Kunst war beim Dekorativen angelangt, Gauguin erschien und einige Junge von großem Geschmack, aber nicht sehr stark. Ein ganz Großer, ein Kolorist ersten Ranges, kündigte sich an: Cézanne.
Weihnachten fuhren wir zu unserem Sohn nach Genf und feierten das Fest oben auf dem Mont Salève; eine Bergbahn führte uns hinauf durch dicken Nebel hindurch, so daß wir nur unsern Wagen sahen und dessen Räder knarren hörten. Als wir oben ausstiegen, lag die Landschaft im herrlichsten Sonnenschein gebadet vor uns. Es war, als wären wir einer unheimlichen Unterwelt entronnen. Weit und breit unter uns das dicke Nebelmeer; der Gedanke, daß unter dieser schweren grauen Masse Menschen leben und atmen mußten, war bedrückend.
Als wir wieder im Wagen saßen und er sein Schnurren anhub und uns langsam in die Tiefe rollte, war es, als sollten wir ersticken. Ich besuchte einen alten Münchner Freund, Otto Vautier, der mich in die Genfer Künstlergesellschaft einführte, die sich nachmittags nach der Arbeit im Kaffeehaus traf. Unter diesen Halbfranzosen saß ein blonder germanischer Maler, der immer mit einem großen Pack Pinsel aus dem Atelier kam. Er war lange in Spanien gewesen und gab mir Winke für die Sammlungen, für Velasquez interessierte er sich nicht besonders, dafür aber in hohem Maße für die alten flämischen Meister, deren Bilder vielfach nach Spanien gekommen sind. Er schien sich mehr für die Form als für die Farbe zu erwärmen. Er war mir als Monsieur Odlähr vorgestellt worden.
Als ich einmal Vautier fragte, ob er nicht den Maler Hodler kenne, der in Genf leben sollte, lachte er und sagte, ich hätte mich ja die ganze Zeit mit ihm unterhalten; er säße neben mir.
Da man uns geraten hatte, nicht zu früh nach Spanien zu fahren, beschlossen wir, nach Monte Carlo zu fahren, das am Wege lag, und dort einige Zeit zu bleiben, in der ich Studien für meine Zeichnungen machen konnte. Mitte März ging ein französisches Schiff "Flauchat" von Marseille nach Teneriffa, das wir benutzen wollten, um Tanger zu sehen und dann Spanien von unten herauf zu durchfahren. Als wir zum ersten Male das Kasino von Monte Carlo betraten, wurden große Depeschenplakate im Vorraum angeschlagen: Emile Zola war wegen seines Artikels "J'accuse!" in der Dreyfusaffäre zu langer Gefängnisstrafe verurteilt worden.
Die Spieler kamen aufgeregt aus den Sälen heraus, manche Damen und Herren gebärdeten sich wie wahnsinnig, alles schrie durcheinander: "Bravo, Bravissimo! A bas Zola!" Lachende und kreischende Halbweltlerinnen mit ihren Begleitern wollten einen Mann besudeln, dessen Charakter mir niemals so rein und überragend vorgekommen war wie hier in diesem Augenblick, als ich diesen Menschenabschaum sah, die gemeinen Gesichter der Herren und die geschminkten der Damen dieser Welt, die in ihrer anmaßenden Schadenfreude und hysterischen Wut über einen solchen Mann nur noch gemeiner wirkten. Ich staunte nur so, daß nicht ein Franzose da war, der protestierte. Förmlich erlöst war ich, als ich aus dem Saal hinaustrat und ein unbekannter Herr, ein sympathischer Deutscher, an mich herankam und lächelnd sagte: "Das Gesindel!"
Das Leben in den Spielsälen interessierte mich einige Zeit sehr; gibt es doch wohl keinen Ort auf der Welt, wo man so ruhig und ungeniert Gesichter studieren kann. Die Leute verstellen sich meist gar nicht. Da sie die Nachbarn am Spieltisch nicht kennen, halten sie es auch nicht für nötig, sich umsonst anzustrengen und ihr wirkliches Gesicht zu verbergen. Man sieht hier den Menschen ohne Maske, das rein Animalische tritt nirgends mehr in Erscheinung als hier. Alles wirkt ziemlich ordinär, auch der bessere Mensch erhält sofort einen gewöhnlichen Ausdruck, wenn er Geld setzt und den Gewinn erwartet.
Einen merkwürdigen Eindruck machten mir die jungen Witwen, die ich oft am Spieltisch sah, wie sie im Trauerkleid dasaßen, noch mit einem Anflug von schmerzlichem Gesichtsausdruck, der aber durch die Aufregung, das Verlangen, das Erbe zu vermehren, bald erlosch. Und dann wunderte ich mich über den amerikanischen Milliardär Vanderbilt, der nach Verlust von zehntausend Franken bleich und aufgeregt den Spieltisch verließ. Dann war ich Zeuge, wie ein Herr, ein ungarischer Aristokrat, in kurzer Zeit eine halbe Million Franken gewann. Das ging zuerst ganz ruhig zu. Es waren wenig Leute da, ich saß neben ihm und sah seinem Spiel zu. Er hatte schon einen großen Haufen gewonnenes Geld vor sich, dann besetzte er eine Nummer mit Maximum. Die Nummer kam heraus, ebenso eine zweite. Alles lief herbei, das war ein seltener Glücksfall. Auf meinem Rücken lag eine Wand Menschen, hauptsächlich üppige Halbweltlerinnen, die sofort die Belagerung des Glücklichen begannen, wovon ich als Nachbar auch einen Teil abbekam. Der Spieler war schon bekannt, die Damen sangen laut sein Lob: "Ein so netter Herr und er ist so freigebig." Die dritte Nummer, mit Maximum belegt, kam nicht heraus ; er stand auf, steckte das viele Geld nachlässig in alle Taschen und verließ phlegmatisch den Spieltisch, gefolgt von dem Schwarm Damen.
Später hörte ich ihn im österreichischen Dialekt zu einem Herrn näseln: "Der Prinz hat mir gratuliert." Damit war der Prinz von Wales gemeint, den ich dann auch am Spieltisch bewundern konnte. Er sah beim Spiel gar nicht fürstlich aus, ärgerte sich wie jeder andere Mensch sichtbar über jeden Tausender, den er verlor. Er zog die zusammengekniffenen Scheine aus der Westentasche, als hätte sie ihm seine Mutter heute früh als Taschengeld gegeben. Auffallend war sein kleiner, schiefer Mund, den er jedesmal noch schiefer verzog, wenn seine Banknote von der Harke des Croupiers erfaßt wurde.
Als ihm jemand auf den Fuß trat, verzog er das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse und mummelte mit dem schiefen Mund.
Eine Gruppe Engländer stand ihm gegenüber und starrte ihn mit dem Ausdruck höchster Verehrung an, was ihn sehr zu genieren schien. Als seine Westentasche leer war, ging er. Als der Prinz später König von England geworden war und durch seine erfolgreiche Einkreisungspolitik gegen Deutschland ganz Europa beherrschte, habe ich oft an ihn gedacht, wie ich ihn in Monte Carlo sah, mit dem schiefen, ungezogenen Mündchen, und wie er unter den Spielern stand, unscheinbar und unbedeutend, genau wie die andern Leute um ihn herum, und dachte mir: Wie merkwürdig es doch ist, von was für Leuten die Weltgeschichte gemacht wird. — Einmal saß ich draußen auf der Bank neben zwei alten Franzosen; nach einer längeren Unterhaltung über das Spiel sagte der eine: "Das Unglück ist nicht, zu verspielen, sondern zu gewinnen."
Dieses Wort fiel mir auf, seine Wahrheit sollte ich bald an mir selbst erfahren.
Das Spiel als solches hat mich nie gereizt; oft in meinem Leben sah ich zu, wie um Geld gespielt wurde, es kam mir nie die Lust mitzutun, auch hier in Monte Carlo nicht. Da suchte ich einmal vor dem Nachhausegehen meine Garderobenmarke in der Westentasche und fand ein Zwanzigfrankenstück. Ich sah es verdutzt an, denn ich trug nie Geld in der bloßen Tasche. Der Gedanke schießt mir sofort durch den Kopf: das ist gefunden. Sogleich kommt der andere: damit wird gespielt.
Ich trete an den nächsten Spieltisch und setze das Goldstück auf Nummer 33. Die Kugel läuft schon ganz langsam und ich kann gerade noch meine Hand zurückziehen, da ruft der Croupier schon: Numero Trentetrois. Ich kehre in das Hotel zurück, meine Frau sitzt im Sofa, ich lasse die Goldfüchse auf dem Tisch vor ihr tanzen, wie es die Croupiers so geschickt machen, wenn sie das Geld im weiten Bogen auf die gewinnende Nummer werfen. "Damit fahren wir morgen nach Nizza, und Du kaufst dir etwas Schönes."
Acht Tage darauf bin ich allein, meine Frau ist in Nizza zur Anprobe. Ich hatte viel gearbeitet und war etwas abgespannt. Die Zeit bis zu ihrer Rückkehr wollte ich ein wenig beim Spiel zusehen und ging in das Kasino. Ich hatte unser Reisegeld in der Tasche. Es war eine alte Sache, daß bei mir das Geld in der Tasche rumort; es will hinaus. Ich dachte gar nicht an das Spielen, aber das Geld arbeitet und stößt mich zum Spieltisch hin. Ich fange an zu setzen, ich verliere.
Wie im Traum setze ich weiter, alles, was ich hinlege, verschwindet. Ich zähle nicht mehr, gehe an den nächsten Tisch und versuche es mit einer neuen Art, nicht einmal gewinne ich. Zum Schluß setze ich ganz gedankenlos, plötzlich ist meine Tasche leer. Ich gehe hinunter an den Bahnhof, um meine Frau abzuholen. Ich lächle. "Das Kleid sitzt ausgezeichnet, - aber Du lachst so komisch." "Ja, ja, ich habe halt alles verloren."
Meine Frau weinte und legte sich ins Bett und stand erst wieder auf, als telegraphisch neues Geld eintraf. Ich habe nie mehr gespielt. — Eines Morgens las ich etwas in der Zeitung, was uns anging; ich sah unter den Depeschen das Wort: Flauchat. Das war unser Schiff, wir hatten es allein fahren lassen, weil wir kein Geld mehr hatten.
Mir lief es kalt den Rücken hinab: es war in den Klippen von Teneriffa untergegangen. Die Hälfte der Passagiere war ertrunken, die Mannschaft hatte sich unseemännisch benommen und sich zuerst gerettet.
Nun wollte meine Frau auf kein Schiff mehr, wir mußten also Spanien hinunter und hinauf im Zug sitzen. Ende März fuhren wir östlich der Pyrenäen bei Port-Bou über die spanische Grenze.

Spanien  

Es war Abend und schon dunkel, als unser Zug in die spanische Grenzstation einfuhr und vor dem Zollhaus stehen blieb. Einige Laternen brannten trüb, das große Fenster des Zollhauses war von innen scharf beleuchtet, darin sah man die Silhouetten der spanischen Zollsoldaten mit ihren napoleonischen Hüten hin und her huschen, es war ein schönes Goyabild, das mich gleich ganz spanisch stimmte. Meine Frau war in das Zollhaus gegangen, um das Gepäck durchsehen zu lassen.
Ich sehe mir das chinesische Schattenspiel im Fenster an, erkenne meine Frau, wie sie mit den Zöllsoldaten spricht; sie wird lebhaft, sie wehrt sich.
Sie hat etwas Viereckiges in der Hand und schlägt lachend einem Zollsoldaten auf die Hand. Alle lachen. Meine Frau kommt lachend aus der Tür, ein Zollsoldat trägt ihr galant den photographischen Apparat nach, ein anderer reißt die Tür des Abteils auf, und alle grüßen militärisch. Meine Frau erzählte, daß die Zöllner den Apparat aufmachen wollten und die Schachteln mit den Platten, da wurde sie energisch, und das hatte Eindruck auf sie gemacht. Wir konnten kein Wort Spanisch, immer mußte ich den Sprachführer in der Hand halten und hatte deshalb immer etwas Angst vor dieser Reise. Nun war ich beruhigt: "Martha, fahre so fort, dann kommen wir gut durch." Kaum waren wir eine Viertelstunde in Spanien, fing es an, leicht zu schneien. Wir hatten nur Sommerkleider mitgenommen, ein Freund, der die Reise gemacht hatte, riet uns: nehmt kein unnützes Gepäck mit, laßt die Überkleider zu Hause, da unten ist es heiß. Eine Nacht blieben wir in Barcelona — eine Hafenstadt wie jede andere in der Welt. Im Kaffeehaus fiel es auf, daß die Kellner mit der Zigarre im Mund bedienten, hier in Spanien wird überall geraucht, im Konzertsaal, im Theater; bei einer militärischen Parade am Schloß in Madrid sah ich später, wie die Soldaten sich bei: "Rührt euch!" ruhig die Zigaretten anbrannten.
Als wir am nächsten Tag eine Weile im Zug saßen, strich ein eisigkalter Wind über die kahle Ebene. Bei Saragossa fuhren wir über den Ebro, da dachte ich an ein Lied, das ich in meiner Jugendzeit gesungen hatte:

"Fern im Süd' das schöne Spanien,
Spanien ist mein Heimatland,
Wo die schattigen Kastanien
Rauschen an des Ebro Strand."

Daraufhin hatte ich mir immer Spanien als ein Land vorgestellt, wo man vor lauter Kastanien weit und breit nichts sieht, und nun erblickten wir nichts als weite öde Flächen mit kahlen Felsen, auch am Ebro keine Spur von einer Kastanie. Hie und da leuchtete in der Ferne eine blendend weiße Ortschaft auf; schön war es auch, aber anders. "Afrika im Schnee", sagten wir. Wir froren in unsern leichten Sommerkleidern.
Etwas Poetisches hatten wir erwartet und nun sahen wir die kahle Nüchternheit; der Süden ist im Winter nicht schön. Nur die militärische Bedeckung von sechs Soldaten, die auf jeder Station hinaustraten und mit aufgepflanztem Seitengewehr die Räuber erwarteten, gab unserer Fahrt romantischen Zauber. Der Offizier, ihr Kommandant, saß in unserm Abteil und erzählte uns in gebrochenem Französisch, daß auf dieser Strecke in letzter Zeit öfter Raubüberfälle auf Züge gemacht wurden.
Auf jeder Station betrachteten wir die Spanier, die in ihre großen Radmäntel vermummt waren und finster blickten; wir warteten, ob es nun nicht bald los ginge. Es kam nichts, alles war heute friedlich.
So ging die Fahrt weiter. Der Offizier saß in einer Ecke und langweilte sich, er gähnte oft und machte dabei das Zeichen des Kreuzes über dem Mund; eine spanische Sitte, damit der Teufel nicht eindringe, wenn die Öffnung ihn dazu einlädt. Dann wickelte er ein Papier aus, seine Mahlzeit. Es war eine Art schwarze Wurst, die er in kleine Stücke zerschnitt. Er stand auf und bot uns galant sein karges Mahl an, eine spanische Höflichkeit.
Wir kamen an einer großen Station vorbei, deren Namen ich meiner Frau aus dem Baedeker vorlese: Guadalajara. Der Offizier macht ein leidendes Gesicht, springt auf und macht mir vor: Ch-uadala-chara. Die Ch und die J müssen leicht geröchelt werden. Ich röchelte es einige Male nach, dann setzte er sich befriedigt wieder und nickte lächelnd: so ist es recht. Als wir in Madrid einfuhren, schneite es in dicken Flocken. Dem Gläubigen, der nach langer Pilgerfahrt Mekka erreicht und die heilige Moschee Mohammeds betritt, kann nicht feierlicher zu Mute sein als mir war, als ich die Treppen zum Prado hinaufstieg.
Heute wird einem das Reisen leichter gemacht, aber damals war die Fahrt nach Spanien ein großes Unternehmen, und mancher Maler hat sie sich zeitlebens vorgenommen und nie ausgeführt. Es war schon etwas, wenn einer sagen konnte: ich war in Madrid und habe die Velasquez gesehen. Wir hatten unsere Werkstätten mit Photographien dieses Meisters behängt, standen davor und seufzten: wenn man das sehen könnte. Leibl hatte in seinem Schlafzimmer eine Auswahl mit Kopierzwecken befestigt. "Wenn ich morgens die Augen aufschlage," sagte er, "dann sehe ich die Trinker und die Spinnerinnen."
Damals galten die Meisterwerke des Velasquez noch als die hohe Schule der modernen Malerei; nicht umsonst hatten die Franzosen sich in Madrid gebildet, Velasquez und Goya waren an der Wiege ihrer Kunst die Paten; ihre große Frische, ihre leichte Pinselführung, ihr ungetrübter Blick in das Leben hatten den Modernen große Vorteile und Anregungen gegeben.
Wie Velasquez einige Zeit überschätzt wurde, so wird er heute zu niedrig gewertet. Freilich, wenn man wieder bei den alten Indianern und Höhlenbewohnern der Vorzeit anknüpfen will und wenn man vergißt, daß Kunst von Können kommt, dann wird ein so großer Könner wie er nicht mehr verstanden werden.
Es fehlt ihm etwas, und damit enttäuschte er auch mich ein wenig: die hinreißende Farbe Tizians und Grecos, die hier im Prado seine gefährlichen Nachbarn sind und ihn erdrücken. Aber es bleibt noch genug übrig, um ihn bewundern zu können. Er kränkelt nicht, er stammelt nicht; was er sagen will, kann er mit souveräner Meisterschaft. Seine Gesamterscheinung ist groß, die Leichtigkeit seines Schaffens hervorragend, die Bravour seines Metiers muß jeden Maler bezwingen.
Er würde mir wohl heute noch gefallen, denn ich liebe nun einmal das Natürliche, ich finde den menschlichen Körper, wie er ist, sehr schön; die Bäume, wie sie wachsen, und die Wolken, wie sie ziehen. Ich verstehe nicht, weshalb die menschlichen Gliedmaßen erst in Windmühlenflügel stilisiert und die Hälse verrenkt werden müssen, um Kunst daraus zu machen. Die natürlichen Bewegungen des Körpers sind reich und voll Rhythmus, es ist nicht nötig, sie in Unmöglichkeiten gewaltsam zu verdrehen.
Velasquez hat oft auch große Schönheiten im Kolorit. Wie packend ist das Spinnerinnenbild auch als Farbe. Im Hintergrund strahlt das schönste Stück Velasquezmalerei, umrahmt von der warmen dämmerigen Stimmung des Vorraumes mit den spinnenden Frauen, die in der Form etwas rundlich barock sind. Die Farben der Hofgesellschaft vor den Teppichen blitzen wie Juwelen, in köstlichen Blaus und kalten Nebenfarben.
Oder die rachitische Prinzessin im grauen steifen Reifrock mit dem roten Tuff im Haar. Wie fein steht das blasse Köpfchen mit dem dünnen blonden Haar und die magere Hand mit dem halbverwelkten Strauß von Vergißmeinnicht, Rosen und Reseden im Bilde.
Wie frisch und schön als Farbe ist der Prinz auf dem Ponny: das blasse Gesicht, die weinrote Schärpe, das braune Pferdchen auf dem starkgrünen Hintergrund. Nein, den Velasquez könnt ihr nicht totmachen. Hat doch mancher große Künstler sich seinem Einfluß nicht entziehen können. Hans von Marées, der doch ganz anderes anstrebte, mußte ihn fühlen, die Bildnisse von Frau Schäuffelen und des Herrn Fiedler sind reinste Velasquezschule. Herrlich als Farbe sind die Grecos, strahlend in ihrer keuschen Reinheit.
Und dann die große Überraschung: Tizian ungeselcht, ohne den üblichen braunen Galerieton, der seinen Bildern so oft etwas Kitschiges gibt.
Seine Bilder hängen hier als wären sie gestern fertig geworden. In keinem Museum sah ich solche Tizians, so frisch, so blond, so modern. War es die trockene Luft von Madrid, die sie so gut konservierte, oder war es, weil es hier keine Konservatoren gab? Gab es hier keine Kunstkenner, die anderswo auf den Bildern herumwaschen und herumlackieren? War es hier nicht wie im Haag, wo ich einmal vor der "Anatomie" Rembrandts stand? Was sah ich da! Zwei Galeriediener kamen mit einem großen Kübel, gefüllt mit einer fettigen Masse, heran, der eine stieg auf eine Leiter und bestrich mit einem großen Pinsel das Bild. Die Schmiere wurde dann mit einem Lappen hineingerieben. Ich hätte aufschreien mögen, als ich diese Roheit sah. Diese Prozedur machte den Eindruck, als würde ein Fußboden frisch gewichst, und der Mann machte es so gewandt, daß man sah, er wichst die ganze Zeit auf den Bildern herum. Die Madrider Museumsleiter waren vielleicht zu "unkultiviert" und ließen die Bilder in Ruhe.
Wie herrlich strahlen sie hier, die Tizians. Freilich sind es auch die schönsten, hat sie doch Velasquez ausgewählt, den der König zum Zweck des Ankaufs nach Italien sandte. Der Herzog Gonzaga, der schwarzbärtige Mann im leuchtend blauen Kostüm mit den blaßgelben Seidenhündchen in der Hand, das Bacchanal mit den entzückenden Putten und der liegenden Venus im Vordergrund, Adam und Eva vor dem Baum, und viele andere noch, an die sechzig Bilder, ohne das "tiefgoldige warme Kolorit", wie es offiziell heißt, die Künstler sagen: "braune Sauce".
Diese haben sie, wie man in Venedig sieht, durch die feuchte Temperatur erhalten, die durch jahrelanges Anfressen die Farbe mit dem muffigen Schimmer bedeckt hat, oder durch fortwährendes Firnissen wie im Haag.
So ohne Galerieton glänzen hier auch die schönen herben Vlaamländer, die in der Albazeit aus den Niederlanden hierhergebracht wurden. Im Keller des Prado hängen die Goyas. Ich kenne keinen großen Künstler, der so ungleich ist wie er. Immer ist er voll Temperament, Leben und Bewegung, aber die Farbe ist oft so bunt, so auf seinen Bildern aus dem Volksleben, daß sie einem wehtut. Er hat zuviel gemalt und zuviel aus dem Kopf. Oft gibt er Stimmungen von großer Feinheit und Wahrheit, die entzücken, und daneben ganz ähnliche, die roh und bunt sind. Hervorragend sind meist seine Porträts und seine Handzeichnungen, oft Vorarbeiten zu den Radierungen. Merkwürdig ist es, mit welcher Ungeniertheit er das böse Gesicht der Königin gemalt hat und wie er diesen Typus leicht verändert für seine Kupplerinnen und ähnliche Weiber verwertete. Da wundert man sich nicht, daß er in Ungnade fiel und das Land verlassen mußte.
Abends saßen wir beim trocken-herben Landwein in einer einfachen Weinschenke und waren glücklich. Als wir in unser Hotel de Paris, in welchem vor vierzig Jahren Manet wohnte, zurückkehrten, flog der Schnee lustig durch die Straßen. Die Spanier liefen prustend an uns vorüber, sie waren bis an die Nasenspitze in ihre großen faltigen Mäntel eingewickelt, die Sombreros hatten sie tief im Gesicht, wie die Intriganten in der Großen Oper, die im Hintergrunde lauern, den Dolch im Gewande.
Für uns in unsern Sommerkleidchen war nun keine Rettung mehr als der Süden. So beschlossen wir denselben Abend noch, am nächsten Tag nach Andalusien zu fahren. Im Zug machten wir die Bekanntschaft eines Züricher Seidenfabrikanten, der mit seinen beiden Söhnen Spanien auch auf Kunst hin bereiste. Ein sympathischer Mann, der nur einen Fehler hatte, er schwärmte fortwährend von Lenbach und verglich ihn mit Velasquez. Ich wurde verstimmt. Dann fing er von Fritz August Kaulbach an, ich wurde einsilbig und überließ mich endlich meinem Naturgenuß. Die Landschaft bekam etwas Freundlicheres, oft huschten schöne Bilder von eigenartigem Charakter vorüber, aber die Gesamterscheinung war Langweiligkeit.
Wir fuhren durch Don Quichotes Heimat La Mancha, in der Ferne erschien die Sierra Morena, in der er seine Abenteuer bestand. In Cordova besahen wir die berühmte Moschee, deren Inneres mit seinen achthundert Säulen in allen Farben, rosa, blau, grün, gelb, einen märchenhaften Eindruck machen würde, wenn der Einbau von christlichen Altären nicht da wäre, der jede Stimmung stört. Die Säulen haben meist keine Basen, sie wachsen glatt aus der Erde, was nach dem Baedeker den Eindruck erhöhe, daß man in einem Palmenwald stehe.
Unser Führer suchte etwas in einer Ecke, wo er seine Habseligkeiten versteckt hatte, da ging eine Stufe hinab, und da sah ich den schönsten Mosaikboden, in der Mitte eine Säule mit einer Basis.
Die Christen haben wahrscheinlich nach Vertreibung der Mauren den unheiligen Boden der Moschee mit einer Schicht belegt und damit auch die Füße der Säulen bedeckt. In der Stadt gingen die jungen Mädchen mit Blumen im Haar, die an Stelle des Hutes den Kopf schmücken, das einzige Reizvolle in diesem öden Nest, dessen Ruhm vor tausend Jahren durch alle Lande scholl. Dann ging es nach Granada, wo wir nachts zehn Uhr ankamen. Unser großer, mit sechs Maultieren bespannter Postwagen rasselte durch die Straßen, wo uns sogleich die andalusische Sitte des "Fensterlns" auffiel.
Er darf nicht hinein und sie nicht hinaus, er muß draußen am Fenster stehen, das noch dazu recht hoch liegt, und sie zeigt nur ihren Kopf. So schäkern sie par distance oder vielleicht auch nicht, denn in diesem traurigen Lande geht alles ernst und feierlich zu, wie es scheint auch in der Liebe. Die Maultiere stampften die Anhöhe zur Alhambra hinauf, ihre Schellen klirrten lustig, und oben nahm uns das Hotel auf.
Hier blieben wir zwei Wochen, froren im Freien und im Zimmer, das man nach südlichem Brauch nicht ordentlich heizen konnte. Wir waren melancholisch wie die spanische Landschaft.
Kam einmal ein Sonnenblitz, so wagten wir uns hinaus in das Freie, oben in die Gärten der Alhambra, und sahen im Norden die schneebedeckten hohen Berge der Sierra Nevada und im Süden die weite Ebene sich ausbreiten, die, ausgebrannt und ausgetrocknet, sich bis nach Afrika hindehnt.
Die Räume und Vorhöfe der Alhambra, diese kleinen Fenster und Veranden muß man sich in der Fantasie mit Menschen bevölkern, mit ernsten Mauren und reizenden Zuleikas, zu deren Füßen schwarze Sklavinnen kauern, dann bekommen diese traurigen, abgebröckelten Gipsornamente Leben und Heiterkeit.
In den Gärten stolzierte ein alter Zigeunerhauptmann herum, der ein altes Originalkostüm trug, großen, spitzen silberbeschlagenen Hut, kurze Sammetjacke, breiten Ledergurt und hohe Ledergamaschen. Ich erkannte den Alten sogleich nach einer Federzeichnung Fortunys wieder, er war ein Künstlermodell aus den siebziger Jahren, als Granada bei den Malern Mode war und die kleinen pikanten Bilder aus dem spanischen Volks- und Zigeunerleben und die riesigen blutrünstigen "Schinken" aus der Maurenzeit gemalt wurden; Fortuny und Regnault waren die Häupter dieser Epoche. Am Fuße der Alhambra sahen wir ein Geschäft, in dem einzelne Stücke, ja, ganze Zimmer aus der Alhambra in Gipsabgüssen zum Verkauf aufgestellt waren; sie waren teilweise schreiend bunt gemalt. Wir fragten, wer denn das kaufe.
Die Besitzerin sagte, das gehe meist für Wohnungseinrichtungen, namentlich für Rauchzimmer nach Berlin. Wir mußten lachen, als wir uns vorstellten, wie in Berlin-West die reichen Bankiers in diesen stilvollen Einrichtungen sitzen und Frau und Tochter als Zuleikas darinnen auf- und abwandeln.
Gegenüber der Alhambra liegen die Anhöhen, in deren Felsenhöhlen sich die Zigeuner eingenistet haben. Eine Familie bewohnt fast immer zwei Höhlen, eine ist Salon und Küche, die andere Schlafzimmer. Im Salon steht ein kleiner Hausaltar mit buntem Papierschmuck, alles ist von der peinlichsten Reinlichkeit und gar nicht zigeunerhaft. — Der Spanier ist stolz und verachtet alles Fremde, sieht man anders aus als er, ist man komisch. Man gewöhnt sich bald daran und achtet nicht mehr darauf.
Als wir einmal die Alhambra hinaufstiegen, gingen zwei junge Mädchen aus dem Bürgerstande neben uns her und amüsierten sich herrlich über mich. Ich hatte einen sehr weiten hellen Mantel an und einen großen Hut auf dem Kopf, wie ihn die Amerikaner tragen, mit einem schleierartigen Band, das man gegen die Sonnenstrahlen benutzen kann; ich hatte mir diesen Hut in Monte Carlo gekauft, ich dachte mir: da unten in Spanien ist eine tropenartige Hitze, der Schleier wird dich gegen den Sonnenstich schützen. War es nun dieser Hut, der nicht in diese kalte Witterung paßte, oder mein Gesicht, das ihnen so komisch vorkam, das konnte ich nicht entscheiden.
Sie blieben stehen, beäugten mich, stießen sich gegenseitig an und kicherten. Erst lachte ich mit, teils aus Galanterie, und weil sie mir auch komisch vorkamen, dann aber, als es nicht aufhörte, wurde es mir lästig. Die Kleinen waren ein wenig frech.
Ich verwünschte meine Faulheit, die schuld war, daß ich nicht wenigstens ein paar spanische Brocken mit einigen kräftigen Schimpfwörtern gelernt hatte; in den Sprachführer wollte ich nicht sehen, aus Angst, mich noch lächerlicher zu machen.
Ich dachte an das einzige spanische Wort, das ich mein eigen nannte: Pintor, Maler, das ich auswendig gelernt hatte für den Fall, daß ich einmal mit der Polizei zu tun bekäme, damit ich sagen könne, was ich sei.
Da schießt mir plötzlich der rettende Gedanke durch den Kopf.
Ich nähere mich den beiden jungen Damen mit auffallender Galanterie, nehme den Hut ab und mache eine elegante Verbeugung, zeige auf ihre Wangen und frage höflich und voll Interesse: "Pintora?"
Sie waren nach Art aller Spanierinnen arg gepudert. Sie begriffen nicht sogleich. Nun klatschte ich in die Hände und rief aus: "Ah, Pintora! Ah, Pintora!"
Nun verstanden sie, daß ich ihre Malerei bewunderte. Sie schnatterten bös und liefen schnell den Weg zur Alhambra hinauf, hier und da sahen sie sich noch wütend um, dann rief ich noch einmal "Pintora!" hinterher, bis sie verschwanden. Mein Spanisch hatte mich gerettet. — Ein anderes echt spanisches Erlebnis hatten wir auf dem Postamt. Ich wollte einen Geldbrief erheben, den der Postbeamte, ein langer, dünner Don Quichote mit weißem, langem Knebelbart mir nur gegen das Zeugnis zweier Bürger von Granada aushändigen wollte, daß ich wirklich der Empfänger sei. Ein wahnsinniges Verlangen! Alle meine Pässe und Scheine wies der Mann stolz zurück. Er ließ sich endlich milde stimmen und sagte, wenn ein angesehener Bürger, den er nannte, es erlaubte, dann bekäme ich das Geld. Ich suchte diesen Herrn, dem ich vom Hotelwirt empfohlen wurde, auf, aber er war verreist. Nun standen wir wieder vor dem kleinen Loch, Don Quichote hielt den Brief mit beiden Händen fest und schüttelte sein weißes Haupt.
Da sagte plötzlich meine Frau zu mir: "Reiß ihn weg!" Und wirklich, wie der Blitz geschah es. Ich reiße dem Mann den Brief aus der Hand und stecke ihn in die Tasche. Über diese Kühnheit waren wir alle drei einen Augenblick verdutzt und sahen uns an. Don Quichote winkt mit dem Finger, wir sollen hineinkommen. Ich werde arretiert, denke ich. Drinnen ist der Mann artig, reicht mir einen Schein zum Unterschreiben, und wir konnten das Büro verlassen. Er war vielleicht selbst froh, daß ich diese peinliche Frage auf so einfache Art gelöst hatte. —
Auf einem Spaziergang den Bergen zu, an die sich die Alhambra anlehnt, bemerkten wir auf einem kahlen Hügel ein von riesigen Mauern umgebenes Gebäude. Wir gingen hinauf und sahen, als wir durch das Tor kamen, wie in einer Ecke der Mauer eine Gruppe Zigeuner kauerte, Männer, Frauen und Kinder, die in schwarz-weiße Tücher gehüllt waren und auf die halbgesungene Litanei eines stehenden Mannes leise einen klagenden Refrain sangen. In einiger Entfernung arbeiteten Männer an der Mauer mit Äxten und zogen eigentümliche mannshohe Gegenstände heraus, die von weitem aussahen wie trockene Baumstämme mit Ästen.
Als wir näher kamen, bemerkten wir mit Schrecken, daß es menschliche Körper waren, die hier nach antiker Art vier Etagen übereinander eingemauert waren und jetzt herausgenommen wurden, um neuen Platz zu machen. Ein Mann wies uns auf ein niedriges Haus in der Nähe, eine Art Beinhaus.
Durch das hohe Fenster sahen wir an den Wänden eine Reihe solcher Leichen stehen, vollständig erhalten, wie Mumien, in verrenkten Stellungen, als wären sie begraben worden, wie das Leben sie verlassen hatte. Der dämmerige Raum mit den safrangelben Körpern in den tollen Stellungen, die aussahen, als vollführten die Leichen einen grotesken Tanz, machte einen so unheimlichen Eindruck, daß wir eilends davonliefen. Die Totengräber lachten hinter uns her.
Im Hotel erfuhren wir, daß diese Körper aus einer Choleraepidemie der früheren Zeit herrührten. — Von alter Malerei ist in Granada wenig zu sehen. Die Kathedrale ist herrlich und mit guten Skulpturen spanischer Meister geschmückt. In einer Seitenkapelle sahen wir ein schönes kleines Triptychon von niederländischer Malerei auf Holz. Die geweihten Kerzen, die seitwärts angebracht waren, hatten tiefe Löcher in die Malerei gebrannt, ein merkwürdiges Beispiel spanischer Gleichgültigkeit. — Nun ging es nach Sevilla. Ein anderes Bild: in reicher, fruchtbarer Landschaft liegt die Stadt, umgeben von üppigen Parks. Schön breitet sie sich unter uns aus, von der Giralda aus gesehen, dem Wahrzeichen Sevillas aus der Maurenzeit; weiß schimmert sie in der Sonne, die nun endlich uns erquickt, auf ihren Dächern blühen Gärten. Alles weiß, weiß mit Blumen. Wir sahen die berühmte große Tabakfabrik, wo fünftausend "Carmen" sitzen und Zigarren drehen.
Lange endlose Säle in einem riesigen Gebäude, die Luft draußen ist schon durchbeizt von der Tabaklauge, drinnen ist sie entsetzlich. Da sitzen die armen Mädchen, meist Zigeunerinnen, in farbigen Kleidern an langen Tischen, ihr Haar ist mit Blumen geschmückt. Fast an jedem Tischende steht eine Wiege mit einem kleinen Kind darin, das die Mutter mit hierhernehmen muß, weil sie es sonst nicht unterbringen kann. Armes Volk!
Vor der Fabrik ist eine Kaserne, wie in der Oper. In Granada sahen wir Zigeunertänze, hier in Sevilla den reinen spanischen Tanz. Der Zigeunertanz ist offenbar asiatischer Abstammung, er erinnert lebhaft an die siamesischen Tänze, die auf der Weltausstellung in Paris 1889 gezeigt wurden. Im Zigeunerviertel von Granada sahen wir ein junges Mädchen tanzen, das später an die Oper nach Paris engagiert wurde, um dort in "Carmen" und ähnlichen Opern "echt" zu tanzen.
Das ruhige Spiel des Körpers ist nur durch stärkere Akzente der Arm- und Handbewegungen belebt. Der spanische Tanz ist das Gegenteil, er ist wohl maurischen Ursprungs und kommt vom afrikanischen Bauchtanz. Das sinnliche Spiel ist weniger verdeckt, er ist voll Leben, Temperament, Feuer. Die Spanierin hat dem überlieferten ihren Schwung, ihre eigene Grazie zugefügt.
In einem nüchternen Saal zeigte eine kleinbürgerliche Familie den echten spanischen Tanz des Volkes, — ein Unternehmen der beiden großen Hotels für die Fremden. Im Hintergrunde saßen zehn Leute, Männer und Frauen, auf einer langen Bank, einige mit Musikinstrumenten in der Hand, eine langweilige Gesellschaft.
Als wir alle Platz genommen hatten, ertönte ein Zeichen. Die Musik stimmte an, die Frauen klatschten in die Hände, gaben schrille Laute von sich und ließen die Kastagnetten klappern.
Ein großes, schlankes Mädchen, dunkel und einfach gekleidet, als einzigen Schmuck eine rote Blume im Haar, das schläfrig unter ihnen saß, springt plötzlich auf wie ein Panther, bleibt mit einem Ruck mitten im Saal in stolzer Haltung stehen und lehnt dann langsam ihren schönen Körper zurück. Sie fängt an zu tanzen, ihre Arme bleiben fest in den Hüften, nur der Körper spricht. Im Hintergrund laute Musik und Geschrei. Sie tanzt mit wilder Leidenschaft, wiegt sich in den Hüften, schreitet langsam vorwärts, wird unter den Zurufen immer feuriger, kommt in ein immer wilderes Tempo, wirft sich wirbelnd herum, bis sie fast umsinkt. Dann kehrt sie tiefatmend, fast taumelnd an ihren Platz zurück, läßt sich auf die Bank fallen und sieht wieder aus, als könnte sie nicht bis drei zählen.
Wir waren alle begeistert, und der Saal dröhnte von einem stürmischen "Bravo, bravissimo", das sie gar nicht beachtete. Dann gab es in Sevilla Lokale, in denen Berufstänzerinnen tanzten. Mitten im Saal, der dicht gedrängt voll Männer war, die ihre Hüte auf dem Kopf hatten, saßen auf einem hohen Podium in einem furchtbaren Tabaksqualm, die Tänzerinnen in schönen, farbigen Schals, Blumen im Haar. Ihr Tanz kam uns nicht so echt vor wie der unserer schönen Kleinbürgerin, schon etwas geschäftsmäßiger, doch war das Ganze ungemein malerisch. Dieses rauchige Lokal in schwacher Beleuchtung nur mit dem hellen farbigen Fleck in der Mitte war ein interessantes Bild, und ich bedauerte, daß ich mein Malzeug nicht bei mir hatte. —
Die Kirchen Sevillas sind in maurische Moscheen eingebaut, überall sieht man hier im Süden die arabischen Einflüsse, die gotische Kathedrale ist gewaltig.
Großes Interesse erregte eine Arbeit des italienischen Bildhauers Pietro Torrigiano, des Rivalen Michelangelos, der, eine Art Benvenuto Cellini, von rabiater, ehrgeiziger Natur war und in einer Rauferei mit Michelangelo diesem das Nasenbein einschlug. Er mußte fliehen und fand hier in Sevilla Aufnahme und Anerkennung. Doch scheint es, daß er auch hier seine Natur nicht bändigen konnte. Er starb, noch nicht alt, in den Kerkern der Inquisition. Das Werk ist in Ton modelliert und leicht angemalt, es stellt den heiligen Hieronymus dar, der nackt vor einem Kruzifix kniet, das er mit der linken Hand umfaßt, während die rechte mit einem Stein die Brust zerschlägt. Diese Arbeit ist von einem in der Renaissance des Südens ungewöhnlichen Naturalismus, zeigt eindringliches Naturstudium, man fühlt einen Künstler, der seine Kunst heiß geliebt hat; aber nach diesem Werk zu urteilen, konnte er sich nicht als Rivale Michelangelos fühlen.
Nun fuhren wir denselben Weg, den wir gekommen waren, wieder hinauf nach dem Norden, nach Madrid. Wir kamen gerade recht zu einem großen Stiergefecht, das zu Ehren des internationalen hygienischen Kongresses mit den ersten Stierkämpfern Spaniens gegeben wurde.
Wir zögerten lange, hatten etwas Grausen davor, aber schließlich sagten wir uns, das muß man in Spanien doch gesehen haben.
Der Aufmarsch der Stierkämpfer war sehr schön, ihre Anfahrt in den farbigen altspanischen offenen Wagen, die Picadores zu Pferd, sehr malerisch. Ihr Zug in der Arena bis vor die Loge des Bürgermeisters von Madrid, der einem Stierkämpfer den Schlüssel zum Verlies, in dem die Stiere untergebracht waren, übergab, war in seiner spanischen Grandezza und starken Farbigkeit ein prachtvolles Bild. Aber was dann kam, war scheußlich.
Wie das arme Tier herausgelassen wird, das gar keine Lust zum Kämpfen hat und von den Banderilleros gepeinigt wird, indem man ihm Pfeile mit bunten Bändern in den Nacken stößt, daß das Tier gar nicht weiß, wie es sich dieser teuflischen Peiniger erwehren soll, das ist entsetzlich. Und es kommt immer schlimmer.
Die Picadores kommen auf armen Kleppern angeritten, von oben bis unten beschient und bepanzert, und stoßen dem Tier die Lanzenspitzen tief in den Rücken. Es brüllt auf und wühlt seine spitzen Hörner in den Leib des Pferdes. Der Kerl fällt herunter und legt sich platt auf den Bauch, der Stier steigt vorsichtig und rücksichtsvoll über ihn hinweg. Andere Quäler locken ihn mit ihren roten Tüchern fort, und nun werden dem Pferd die Gedärme hineingestopft, der Reiter besteigt das zitternde Pferd wieder und fährt mit der Lanze wieder in den Körper des Stieres. Dieser gibt dem Pferd den Todesstoß; es bleibt liegen, bis der Kampf zu Ende ist, dann wird es an ein Geschirr zweier Pferde befestigt und hinausgezogen.
Nun kommt der Schlußeffekt, der Toreador, der eigentliche Stierkämpfer, der das Tier töten muß. Das trieft von Blut, die Pfeile im Nacken haben tiefe Löcher gerissen, schweiß-bedeckt steht es da, den Schaum vor dem Maul, und fährt auf alles zu, das sich bewegt. Der Toreador bleibt allein in der Arena, die ändern stehen seitwärts an der Planke.
Er beginnt sein Spiel mit dem wildgemachten Tier, tänzelt vor ihm, weicht gewandt seinen Stößen aus, springt, als es im wütenden Lauf auf ihn zu rennt, über seinen Kopf auf seinen Rücken und hinten herunter.
Er hält sein rotes Tuch hin und zieht es schnell zurück, ehe der Stier es berührt. Er stellt sich ruhig hin, läßt den Stier ansausen und macht einen Sprung auf die Seite, wenn man meint, die Hörner durchbohren ihn schon. Und man denkt im stillen: wenn der Stier ihn doch erwischte. Dann, wenn das Tier schon halb zusammenbricht, ein Bild des Jammers, stößt er ihm mit einem Sprung den Degen in den Nacken. Man atmet auf. Das Fürchterliche ist zu Ende. Nun kommt der nächste Stier daran, es sind im ganzen sechs. Uns wurde übel, wir mußten gehen. Neben uns saß eine Familie, die ihre Kinder dabei hatte, zwei reizende kleine Mädchen, die jauchzten und lachten wie bei uns die Kleinen im Kasperltheater. Bei jedem geschickten Stoß auf den Stier riefen sie "Bravo!" und aßen Orangen dazu. Als wir unsern Platz verließen, lächelten die Nachbarn überlegen.
Wir sahen noch, wie der Toreador durch die Arena ging und unter tosendem Beifallsgeschrei der Menge mit seinem blutigen Degen salutierte. Zwei Diener mit Körben sammelten die Geschenke, die in weitem Bogen hinunterflogen. — Der Rest des Sonntags gab uns Gelegenheit, diesen schauerlichen Eindruck wenigstens etwas zu verwischen. Der deutsche Buchhändler, ein junger freundlicher Norddeutscher, wollte uns die Vorstadt am Manzanares zeigen; wir wanderten am trocknen Flüßchen entlang, an dessen Ufern kleine reizende Vergnügungslokale liegen, gemütlich-niedrige Häuser von Holz, wo sich das Volk sonntags amüsiert. Der Hauptraum ist überall ein Tanzsaal. Wir hatten das Glück, eine kleinbürgerliche Hochzeit zu sehen.
Das ging anders zu als bei uns zu Hause, wo alles vor lautem Tanz und Juhugeschrei dröhnt.
Hier war alles ruhig und brav. Die Tanzenden drehten sich mit Anstand und Würde, kein Zeichen von Freude wurde laut; es war fast traurig. In der Tanzpause gingen die Paare an die Tische und tranken Wasser, das in Karaffen überall herumstand. Der Buchhändler sagte uns: die Leute sind arm und müssen viel Steuern zahlen, sie sind mäßig. Er lobte die Spanier der untern Klassen, sie seien ehrlich, fleißig und anständig. Abends auf dem Heimweg sahen wir ein schönes Bild, einen echten Goya.
Auf einer Wiese war eine Art Volksfest, die Menschen lagen im spärlichen Grase herum, die hellgekleideten Kinder tummelten sich und spielten, sie ließen große farbige Ballons in der Luft fliegen, im Hintergrunde funkelten in der Sonne die kahlen Hänge des Manzanares. Oben am Königsschloß zogen sich die Hintergründe hin, die Velasquez zu seinen großen Bildern benutzt hat. Am nächsten Tage fuhren wir nach Toledo, ein Stück echtestes altes Spanien, dort sahen wir den schönsten Greco, das Begräbnis des Grafen d'Oraz. Die Stadt ist vom Tajo umflossen, der aber fast kein Wasser führte, die Straßen sind schmutzig und verlassen, in einer der schmutzigsten sah ich das schönste Bild in Spanien. Wir stiegen etwas bergauf, rechts und links hingen aus den Fenstern die schmutzigen farbigen Fetzen. Oben, wo die dunkle Straße ins Lichte ging, stand an einem Brunnen ein junges Mädchen und füllte einen hohen Tonkrug mit Wasser. Mit einer schönen schwunghaften Bewegung nahm sie ihn auf die Schulter.
Sie war in Lumpen gehüllt und kaum bekleidet, mit einem Arm hielt sie den schwankenden Krug, den ändern stemmte sie fest in die Hüfte. So kam sie uns langsam entgegen. Sie trug schwer und mußte acht auf das Wasser im Krug geben, dabei spielte ihr Körper in leicht verhaltener, bewegter Linie, er hatte etwas keusch Tanzendes.
Wie schön war sie, wie majestätisch in ihrer Haltung! Wir blieben stehen und sahen sie an, und sie blickte seitwärts freundlich zu uns herüber.
Wir sahen ihr nach, und sie drehte sich langsam nach uns um und blieb stehen. Wir lachten und nickten ihr zu, sie verstand es und ging lachend weiter. — Nun noch einmal in den Prado und Abschied genommen. Am ändern Morgen fuhren wir zum Bahnhof. Der Krieg mit Amerika um Cuba war erklärt worden. Mein Hut reizte die Leute am Wege, einige riefen: "Americano!" Dann ging es über Paris in die Heimat.

Das Idyll am Chiemsee  

Es gibt Ästheten und Kunstkenner, auch unter den Malern, genug, die blind durchs Leben gehen, denen nichts Schönes, das die Kunst geschaffen hat, entgeht, die sämtliche Kruzifixe aller Kathedralen kennen, aber für die charakteristische Schönheit eines Menschen oder einer Landschaft nicht das geringste Gefühl haben. Ich mußte oft staunen über solche überfeine, deren hypersensible Geschmacksnerven bei der kleinsten hübsch geschwungenen Linie eines Ornaments ins Zittern gerieten, aber die lebendigen Dinge um sie her gleichgültig betrachteten.
Ich habe die Museen, Kirchen und Monumente immer nur als einen Teil des Ganzen betrachtet; das Volk, das Leben in den Straßen, die Landschaft gehörte dazu. Wenn man das alles sieht und beobachtet, versteht man manches in der Kunst, was einem sonst verschlossen bliebe. In Madrid liefen die Modelle Goyas auf der Straße herum, man findet sie auf seinen Bildern wieder, oft hat man bei einer Figur sofort das Gefühl: die habe ich draußen gesehen. Die steife Grandezza, die starren Gesichter der Spanier, die im Park und den eleganten Straßen wandelten oder im Theater in den Logen saßen, sie findet man wieder bei Velasquez, seine Hintergründe sieht man am Weichbilde von Madrid. Die gepuderte, schwarzhaarige Spanierin ist auf allen Bildern Goyas zu sehen, diese farblosen beiden Flecken, weiß und schwarz, Fleisch und Haar. Die Rubensschen Frauen im Prado wirken frisch, lebendig neben diesen blutleeren Köpfen, diesen angemalten Puppengesichtern. Die Kleine am Brunnen in Toledo war nicht gepudert, sonst hätte sie uns nicht so entzückt.
Jedes Land, ja jeder Landstrich hat seine eigenartige Farbe, seine Menschen, ihre charakteristischen Formen und Bewegungen, ihren Stil, der unbewußt in die Malerei kommt. Was ein Maler immer sieht, gräbt sich in ihn ein und es färbt in seinen Werken ab. Velasquez hätte in Berlin anders gemalt und Rembrandt in München auch. Die wassergetränkte Luft in den Grachten Amsterdams zeigt bei grauen Stimmungen den unsagbar feinen, merkwürdig tiefen kaltvioletten Ton der Bilder Rembrandts. Der silberige Kolorismus Vermeers konnte nur in diesem Lande entstehen, wo ein Zitronengelb neben perl-muttergrauen Tönen diesen zarten Klang hat. Die Farbe, die der Maler immer vor Augen hat, malt er. Ich sah es bei einem jungen Freund, der koloristisch begabt war. Er ging in die Alpen und blieb dort sitzen, er verlor seine feine Farbe und malte große Effekte, wie er sie täglich sah.
Kolorismus hat ein Maler in sich, aber er muß täglich, ja stündlich gereizt werden. —
Als unser schönes einsames Sommerland an der flandrischen Küste vom Fremdenstrom überschwemmt und das weltverlorene Knocke in ein Seebad Knocke-sur-mer verwandelt wurde mit geschmacklosen Häuschen und Villen in den Dünen und großen viereckigen Kästen, den ersten Hotels am Strande, da zogen die Künstler davon, um andere Stätten zu suchen, die noch unberührt vom Spießbürger waren. Hat er ein schönes, stilles Plätzchen gefunden, so vergehen einige Jahre, dann wird er wieder vertrieben, bis zum Schluß nichts mehr übrigbleibt und die ganze Welt verschandelt ist.
Wir verbrachten nun die Ferien unseres Sohnes am Chiemsee. Lange konnte sich mein Auge an diese starke Farbe der oberbayerischen Landschaft in der Nähe der Alpen nicht gewöhnen. In Flandern der schöne Ton der Dünen, der leichte Duft des Kolorits, Corot-Silber überall, und hier diese tiefen, blaugrünen Wälder, die eintönigen Wiesen und Felder in schweren Tönen; die Hauptfarbe grün; grün, wohin man sieht, man sehnt sich nach einer andern Farbe. Ein paar Blumengärtchen vor den Bauernhäusern sind die einzige Abwechslung fürs Auge, aber diese stehen so isoliert und sind so starkfarbig, die Bauern lieben nur solche, daß sie hart und bunt wirken. Der Himmel ist meist eintönig blau, nur bei Gewittern sieht man andere Lüfte, dann allerdings oft von einer unheimlich düstern Schönheit, wie ich sie nur hier am Chiemsee sah und im Herbst, der in diesem Landstrich das Malerischste ist.
Bei einer richtigen bayerischen Abendstimmung in den Vorbergen sieht man oft Färbungen, die von einer unglaublichen Stärke sind; man meint fast, die Palette reiche nicht aus, diesen Glanz wiederzugeben. Wenn das Orange der untergehenden Sonne ein farbiges Blumenbeet trifft, scheint es, als hätten die Blumen innere Lichter, die sie so intensiv leuchten lassen, daß das Auge fast geblendet ist. Es dauert oft nur einige Minuten, ehe die Sonne hinter den Bergen verschwindet, da ist rings die Natur in einem fabelhaften Leuchten, die Ebene schillert und gleißt bis zum fernen Horizont. Es ist berauschend, aber zum Malen fast zu schreiend.
Am südlichen Ufer des Chiemsees, wie man sagt, dem wenigst bevölkerten Landstrich Deutschlands, fanden wir am Rande von Wiesenland und Moor ein einsames Bauernhaus, wo wir viele Sommer lang immer einige Monate lebten; wenn mein Sohn wieder zur Schule mußte, blieb ich bis in den Spätherbst allein zurück.
Hier haben wir zu dritt ein wundervolles Idyll gelebt. Auf der südlichen Seite sahen wir die Vorberge nach Salzburg zu, mit ihren weich abfallenden Linien, auf deren schönstem das Kloster Mariaeck schimmerte, nach Norden zu das weite Moorland, und in der Ferne einen lichten Streifen, den Chiemsee.
Im Rücken ein flacher, breiter Hügel, der Buchberg, mit herrlichen Buchen bewachsen; ein Waldweg führte hinauf auf eine Hochebene, auf der unter Nußbäumen einige uralte Bauernhäuser mit geschnitzten und bemalten Altanen und Dachrändern standen, dazwischen ein kleines frühgotisches Kirchlein.
Hier hatten wir einen prachtvollen Blick ins weite Land hinein bis in die österreichischen Alpen, im Rücken den Chiemsee mit seinen beiden Inseln; Schloß Herrenchiemsee leuchtete massig aus der einen, Kloster Frauenwörth aus der andern, in der Ferne das flache Uferland mit seinen Feldern und Bauernhöfen.
In dem Moos zu Füßen des Buchbergs, dem Chiemsee zu, war weit und breit keine Menschensiedlung; schmale, kaum bemerkbare Pfade, von einsamen Jägern getreten, führten durchs Schilf immer weiter und weiter hinein, scheinbar ohne Ziel und Ordnung. Da hört man keinen Ton, nur das Rascheln und Zirpen von etwas Lebendigem da unten und oben in der Ferne, den Gesang eines Vogels, den Schrei einer Möwe oder plötzlich über sich das Krächzen eines seltsamen Wasservogels.
Das bräunlich-gelbe trockene Gras oder Schilf in schwerer Farbe ist durchwirkt mit violettem Heidekraut in riesigen Mengen, gelblich und violett ist die Farbe, eintönig und ernst, wie ein feierlicher Teppich. Auf der ändern Seite, der wilden Ache zu, die hier in den See mündet, ist die Landschaft bewegter und reicher; flache Erhöhungen ragen aus dem Schilf, einsame Eichen durchbrechen die lange horizontale Linie.
Dorthin zog mein Sohn, ein leidenschaftlicher Angler, oft in der Frühe, um gute Fischstellen zu suchen, und ich begleitete ihn. Da lagen wir nach langer mühsamer Wanderung am wild schäumenden Fluß und schauten in den Himmel, wir kamen uns vor wie die ersten Ansiedler eines neuentdeckten fernen Landes. Tagelang sahen wir oft keinen Menschen, selten einmal, daß hinter einem Strauchwerk plötzlich etwas Lebendes auftauchte, ein Bauer, der hier sein Schilf zur Stallstreu trocknete, oder ein Jäger, dessen Tritt man plötzlich rascheln hörte und dessen Kopf jäh hinter dem Gestrüpp auffuhr. Schöne Wanderungen, unvergeßliche Stunden! Auch hier hat man alles verdorben, als man den Chiemsee tiefer legte, dessen schöne Ufer mit den einsamen Eichen vordem bis an das Wasser reichten. Man gelangte nur mit dem Kahn hierher an diese weltverlorenen Stellen, denn der Weg durch Schilf und Gestrüpp war beschwerlich. Nun ist ein breiter Sandstreifen am Ufer freigelegt und damit ein bequemer Spaziergang geschaffen. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, dann werden auch hier Villen und Badehotels stehen, wie überall in der Welt, wo es ehemals schön war.
Abends saßen wir an unserm Häuschen und plauderten mit unserm alten Bauern, dem Vater Plank, einem weltfremden, aber klugen Mann, der sein Leben in dieser Einsamkeit verbracht hatte; ich erklärte ihm den Sternenhimmel und erzählte von den Naturwundern und von den Schlichen in der Welt draußen. Er ließ jeden Augenblick sein Gläschen Wein, das er mit mir trank, am offenen Mund haltmachen mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens: "Aber na, aber na!"
Über alles Unbegreifliche, worüber er sich sein Leben lang den Kopf zerbrochen hatte, fragte er mich aus; aus seinem Hirn kramte er alles aus, was ihm unerklärlich und sonderbar gewesen war. Alle Rätsel dieser Welt sollte ich ihm lösen, es wurde mir manchmal recht schwer. Über das Jenseits war er vom Herrn Pfarrer vollkommen beruhigt, darüber sprachen wir nicht; fing ich einmal davon an, schielte er mich von der Seite an: das verstehst du nicht; es war die einzige Sache, für die ich nicht kompetent war. Einmal sah ich ihn in seiner Kammer vor einem Kruzifix mit nackten Beinen auf Erbsen knien und erfuhr, daß er einer kirchlichen Bruderschaft angehörte, deren Mitglieder sich zur Buße wöchentlich einige Stunden auf diese Weise kasteien.
Hier am Häuschen saßen wir abends oft bis in die Nacht hinein. Kein Laut war zu hören, nur hier und da Hundegebell in weiter Ferne. Die Sonne umränderte mit schönem Orange die blaugrünen Bergsilhouetten nach Westen und schüttete ihr Gold auf das weite Moos und den Wasserstreifen am Horizont, daß alles funkelte. Dann kamen die Sterne und die klare, stille Nacht, und wir saßen und "philosophierten". Einmal hatten wir zum Geburtstag meiner Frau italienische Nacht; die japanischen Lampions hingen in den Obstbäumen. Die Nachbarkinder der nächsten Höfe, die Freunde unseres Sohnes, waren eingeladen.
Da trat aus der Dunkelheit ein alter Betrunkener zu uns. Als ich ihn vertreiben wollte, wurde er bös und lud alle bayerischen Schimpfwörter ab, worunter sehr komische waren; über jedes neue brach die ganze Festgesellschaft in ein fröhliches Lachen aus, was ihn immer mehr reizte. Schließlich kam sein höchster Trumpf: "Rührmillifresser!" Die Kinder lachten, standen doch so feine Gerichte auf dem Tisch.
Er verschwand schließlich; vom Buchberg herab klang es noch lange nach: "Rührmillifresser!" Selten sahen wir sonst Menschen in unserer Einöde. Ein kleines siebenjähriges Mädchen, die Tochter eines kleinen Bauern in der Nähe, kam oft an unser Haus, während ihre Ziegen am Buchberg weideten. Ein gescheites, wißbegieriges Kind. Einmal drehte sie meinen Trauring am Finger hin und her. Die Hand war von der Sonne tief gebräunt, die Stelle unter dem Ring schimmerte weiß hervor. "Was is dös für a Ring?" fragte die Franzl. Er war in leichten Linien graviert, sonst hätte sie es schon gewußt. "Das ist mein Trauring", sagte ich. Da zeigte sie auf die helle Haut darunter. "So weiß warst du also, wie du geheirat' hast?"

Villa Romana  

Auf der Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes, der Vereinigung aller Sezessionen Deutschlands, erhielt ich für ein Porträt meines Sohnes den Villa Romana-Preis. Die Villa Romana in Florenz war auf Anregung Max Klingers von einer Gruppe Kunstfreunde angekauft worden und wurde Künstlern mit einer Geldprämie überlassen, um ihnen Gelegenheit zu bieten, längere Zeit in Italien zu leben. Der Deutsche Künstlerbund hatte den Auftrag, den Preis an Stelle der früheren Medaillen zu vergeben.
Mit meiner Familie ein Jahr in Florenz leben zu können, mit allen Bequemlichkeiten der Häuslichkeit und der Ateliers, war verlockend, und ich nahm den Preis gern an. Ich liebte Italien und zudem dachte ich an meinen Sohn, der schon lange den Wunsch hatte, Bildhauer zu werden. Ich war diesem Plan anfangs sehr abgeneigt, denn bei einem Künstlerkind ist es schwer, zu sagen, ob es Talent hat. Es wächst in der Kunst auf, hört die Kunstgespräche mit an, wächst förmlich in den Beruf hinein, lernt früh, Kunst zu beurteilen, gewöhnt sich durch vieles Sehen leicht eine oberflächliche Geschicklichkeit an und hat den Wunsch, in dieser Künstlerluft weiter zu leben. Und wie selten wird der Sohn eines Künstlers wieder ein Künstler; man hat schlimme Beispiele genug, auch bei Schriftstellern und Musikern. Bei einem jungen Mann, der aus einer ganz kunstlosen Umgebung kommt, ist es leichter zu beurteilen, ob etwas in ihm steckt, da ist meist etwas Ursprüngliches und Eigenes darin, trotzdem es immer sehr schwer ist, die Zukunft vorauszusagen. Manchmal sieht man einen, der von Talent strotzt, der ist ja meist sicher, aber auch nicht ganz, denn man weiß nicht, ob er die nötigen Charaktereigenschaften besitzt.
Mancher hat alles, was er braucht, es fehlt ihm der Geschmack; ein anderer hat ihn, dem fehlt das Können; der eine hat zuviel Selbstbewußtsein, der lernt nichts, der andere hat zu wenig; dem einen fehlt die Selbstkritik, der andere hat sie bis zur Selbstvernichtung.
Manche sind so eitel, daß sie keinen schiefen Blick auf ihre Arbeit vertragen können. Als mich einer davon aufforderte, seine neuen Arbeiten anzusehen, stand er an der Ateliertür: "Sage mir offen deine Meinung, aber schimpfe nicht". Ein anderer, ein guter Freund, der viel Talent hatte, malte einmal ein Bild, starkes Breitformat, eine Abendlandschaft bei Dachau. Rechts, fast am Rahmen, eine Gruppe von der Arbeit heimkehrender Bauern. Das war gut gegeben, die Bauern, die in den leeren Raum hineingehen. Da kam Kollegenbesuch. "Ja, mein Lieber, die Figuren passen doch da nicht hin, die solltest du links hinsetzen, dann schneiden die Sensen ins Bild, das wäre bedeutend besser." Gesagt, getan.
Den nächsten Tag kam ein anderer: "Aber diese leere Fläche und hier am Rand die schwere Gruppe, das geht doch nicht, das balanciert nicht." Nun wanderten die Bauern in die Mitte. Die erste Änderung sah ich ruhig mit an, aber nun platzte ich heraus: "Mensch, wie kannst du nur alles machen, was die ändern wollen. Dein Erstes war das Beste, und das mußt du lassen." Die erste Idee ist fast immer die beste, sie hat Wurf, Frische, das Geborene. Aber nun war dem Freunde die Lust vergangen, er meinte, wenn die Arbeit Tadel herausfordert, ist sie nichts wert; und das Bild wurde nicht gemalt. Jede neue Richtung oder starke künstlerische Erscheinung regte ihn auf, sie war nicht da zum Sehen und Lernen, sondern zum vollständigen Umkrempeln seines künstlerischen Ichs. Bei seiner Begabung hätte er mit mehr Festigkeit viel erreicht.
Mein Sohn hatte eine gute Arbeit für sein Alter in Stein gehauen, einen sitzenden Knaben, und nun gab ich mein Jawort unter der Bedingung, daß er in ein kunstgewerbliches Fach übertreten müsse, wenn ich es für besser hielte. Große Freude hatte ich an seinen naiven Zeichnungen, an der grausamen kindlichen Charakteristik der dargestellten Menschen, die der Anfänger leider meist verliert, wenn er geschickt wird.
Die Leitung der Villa hatte ihm freundlicherweise ein kleines Atelier neben dem meinigen überlassen, so waren wir Ateliernachbarn, wir arbeiteten zusammen wie zwei gute Freunde. Wir wanderten zusammen durch die Museen, die Kirchen und überall dorthin, wo es gute Kunst zu sehen gab; wie freute ich mich, als ich sah, daß er das Echte leicht herausfand. Rührend war seine Begeisterung für Michelangelo; wie etwas Heiliges betrachtete er dessen Werke, wie ein Wunder erschien ihm, was dieser Meister aus einem Steine schuf.
Unvergeßlich sind mir die Stunden, die wir zusammen in der Capella Medici verbrachten. Wir hatten immer den Sonntagmorgen gewählt, da waren wir meist allein in der Kapelle. Die Tür zur Kirche war offen, und wir sahen die andächtige Menge, während die Messe gelesen wurde. Es war ein erhabener Eindruck, wir standen im dämmerigen Raum vor den Grabmälern Michelangelos, ein leichter Weihrauchduft drang aus der Kirche zu uns, im bläulichen Dunst zuckte aus einem hohen Fenster ein heller Lichtstrahl auf die knieenden Menschen herab und warf einen goldigen Strahl durch den großen, feierlichen Raum. Wir waren wie verzaubert, selten hat mich etwas so erschüttert wie der Augenblick, wenn der Chor seinen feierlich-heitern Gesang anstimmte, der jubelnd durch die Kirche brauste und bis zu uns drang, die wir diese ewigen Meisterwerke vor Augen hatten. Das waren unsere Sonntagsandachten. Der gefürchtete Sommer kam und brachte eine außergewöhnliche Hitze. Wir ertrugen sie gut und fanden Italien erst recht schön, als die Stadt und Landschaft im zitternden Licht alle festen Konturen verloren hatte und der Sonnenbrand über alles einen silbernen Schleier warf. Für die körperliche Erschlaffung gab es eine Erlösung, die Brise vom Mittelmeer, die am Spätnachmittag sich einstellte. Wenn die Erde einem Brutofen glich, die Bäume regungslos gegen die gläserne Luft standen, alles Lebende in träger Lähmung atmete, hob plötzlich ein leichtes Klingen an. Das ausgetrocknete Laub erzittert fast unmerklich, ein frischer Hauch geht durch die Luft, man atmet auf, der Körper wird frei. Die Blätter erklingen ein wenig lauter, und nun setzt bald ein gedämpftes Rauschen in allen Bäumen ein: der Meerwind ist da, wir sind erlöst. Er kühlt uns leicht, wir fühlen ihn bis in die Nacht hinein.
Wir sitzen abends im Garten auf der Terrasse und hüllen uns in dicke Rauchwolken gegen die Moskitos, oder wir liegen oben auf dem Dach der Villa und sehen Florenz im Dunst nach und nach verschwinden, bis zuletzt ein leichtes Rosa die glänzenden Türme tönt und in der Ferne auf dem Hügel die Häuser und Zypressen von Fiesole langsam in Luft und Nebel aufgehen. Die Villa Romana ist ein stattlicher Bau im Renaissancestil, hochgelegen an der Straße nach Siena, vor der Porta Romana. Umgeben von einem schön angelegten echt italienischen Garten, mit der weiten Campagna im Rücken, bietet sie einen herrlichen Blick auf das Tal, in welchem Florenz liegt.
Diener und Pfleger von Haus, Garten und Land war Cesare, der neben der Villa ein altes, halbzerfallenes Bauernhaus besaß und für seine Arbeit die Hälfte vom Ertrag des zur Villa gehörigen Landes erhielt. Wir waren erstaunt über diesen großen, schönen Bauern, wenn er leise und gemessen, mit vollendeter Höflichkeit mit uns in seinem wohlklingenden Florentiner Dialekt sprach, daß ich mir dachte: wie ein Kardinal.
Später, als ich von den Künstlern zum "Direttore" ernannt wurde und er sein weiches "Signor il Direttore!" lispelte, lernte ich ihn von einer anderen Seite kennen. Ich wollte die Verwaltung der Villa "sanieren", da ich bemerkte, daß alle Lieferanten, die bisher ihre Geschäfte durch Cesare vermitteln ließen, uns übervorteilten. Ich erklärte Cesare, daß ich die Bestellungen von jetzt an persönlich machen würde. Da wurde er blaß, verlor sein Gleichgewicht, die edle Haltung war verschwunden, und er stürzte zur Tür hinaus. Draußen lief er vorüber, das Gesicht zu einer fürchterlichen Fratze entstellt, stieß heftige Worte aus und drohte mit geballten Fäusten nach meinem Fenster. Ich ließ mich nicht beirren und sanierte weiter.
Manchmal stiegen wir die staubige Landstraße hinab und erfreuten uns an dem Treiben in der Stadt, dann setzten wir uns in die Birreria an der Piazza Vittore Emanuele. Hier war das Stelldichein der Deutschen, hier saßen die Landsleute in allen Ausgaben, die Künstler und die Spießer, und ruhten von der Kunst aus, die sie gemacht oder gesehen hatten. Da saßen die Berliner Kunstgelehrten am Nebentisch, und wir hörten, wie sie laut von der "Florentina Kultua" redeten, oder junge Kunstbeflissene waren da, die sich spreizten und taten, als wären sie allein auf der Welt. Hier in Florenz lernte ich durch meinen Sohn einige von diesen Typen kennen. Wir waren ja auch jung und wir schrien: "Plein air!", aber so wie diese hier trieben wir es doch nicht. Wir hatten doch wenigstens Pietät. Wenn man diese jungen Leute reden hört, sollte man meinen, es hätte überhaupt noch nichts gegeben, was sich Kunst nennen kann. Und dabei schöpfen sie mit vollen Eimern aus der Vergangenheit. Sonst mußte der Künstler ein Leben lang schaffen, bis er durch ein Werk über seine Kunst geehrt wurde, und in dieser neuen amerikanisierten Welt bekommt schon mancher Junger, der die Dreißig noch nicht erreicht hat, seine schwülstige Monographie: "Die Kunst des N.", die aber das Gute hat, daß sie keiner versteht. Die Sucht, um jeden Preis junge Talente an das Licht zu ziehen, verdirbt oft mehr, als sie nützt. —
Die Via Senese, die an unserer Villa vorbeiführte, stieg etwas an, und da waren wir oft Zeugen von Tierschindereien, wie man sie nur in Italien sieht, namentlich die armen Esel werden mit einer geradezu teuflischen Bosheit gequält. Einmal kam ein Fuhrwerk, auf dem ein Bauer und ein Geistlicher saßen, ein Esel konnte es kaum den Berg hinauf ziehen, von seinem Rücken rann das Blut aus einer Wunde, in die der Bauer immer hineinschlug. Ich rufe dem Geistlichen zu: "Cristiano?" Der lacht, zeigt auf den Esel und sagt: "Non è cristiano." — Ich hatte meinen Collie "Jocky" meist bei mir. Selten fuhr ein Droschkenkutscher vorüber, ohne dem Tier lachend einen Schlag mit der Peitsche zu geben, daß es aufschrie. Ich hatte für diesen Fall große Steine in der Tasche, und die Rohlinge bekamen jedesmal einen an den Kopf geworfen. Einmal mußte ich aber lachen; da kam plötzlich um die Ecke ein Mann mit einem großen Bären. Jocky bekam Angst, er zitterte, legte sich platt auf die Erde, streckte die Beine breit von sich und blieb so, ohne sich zu rühren, bis das unheimliche Tier vorüber war; er sah aus wie ein Bettvorleger. "O, Firenze è bella!" rief immer unsere Köchin aus, wenn sie vom Einkaufen aus der Stadt kam. "Bella, bella", sie konnte sich nicht beruhigen. So ging es auch uns. Diese einzig schöne Stadt hatte es uns angetan, wir brauchten nur hinunter zu bummeln durch die malerischen Straßen oder hinaus in die Campagna, wo die Landhäuser in edlen Linien sich aufbauen. Da fanden wir auch einen andern Italiener als den der Städte, den Bauern mit seiner alten Kultur, freundlich und gastfrei. So herrlich uns der auserlesene Geschmack des früheren Italieners anmutete, der sich am besten in seiner Architektur ausdrücken konnte, von seiner Malerei gefiel uns manches nicht. Die Kunst der Renaissance hat doch zu viel Schwülstiges, Unwahres, Theatralisches. Da sahen wir in einem Frauenkloster ein Bild des Flamen Hugo van der Goes: Anbetung der Hirten; wie keusch und rein, auch als Malerei wirkte das hier unter so viel leerer Kunst. Und der Kopf des alten Mannes von Rembrandt im Pittimuseum schlug alles neben sich. Am besten gefiel uns die Frührenaissance, Fra Angelico, die Fresken von Massaccio und anderes. Und vor allem die Florentiner Bildhauerei.
Und neben dieser großen Kunst sieht man den heutigen Italiener mit seinem Kitsch. Da steht in der Auslage eines Kunsthändlers ein weiblicher Akt, der in einer Hängematte liegt, in schönstem karrarischen Marmor ausgeführt. Das Fleisch quillt aus den Maschen heraus, jedes Stück ist glatt poliert, das Geflecht der Matte in seiner Knüpfung gegeben wie ein richtiger Strick, der Körper liegt darin mit diesen unzähligen Fleischcarreaus, liebevoll herausmodelliert, Partie an Partie. So etwas gibt es nur im heutigen Italien. Es ist so scheußlich, daß man aufschreien möchte. Und die Italiener, Herren und Damen, stehen bewundernd davor: "Que bella, que bella!" Der schlimmste Parvenügeschmack überall; die Zimmereinrichtungen der feinen Leute, diese wahnsinnig geschwungenen modernisierten Louis-quinze-Formen, diese entsetzlichen Nippsachen, die Potschamberln mit täuschend nachgemachtem Inhalt, die im Salon als Zierde aufgestellt werden; man faßt sich an den Kopf: ist das dasselbe Volk? Diese süßliche bunte Spritzmalerei, diese glattpolierten Marmorwerke, die aussehen, als wären sie überarbeitete Naturabgüsse, mit Zucker überstrichen, soll das dieselbe Rasse sein, die Tizian, Donatello, Verrocchio hervorbrachte? Von Michelangelo gar nicht zu reden. Nein, man kann's nicht fassen. Kitsch überall, er fällt hier noch mehr auf, weil er auf dem Hintergrunde einer großen, edlen Kunst steht. — Im Spätsommer wurde die Hitze unerträglich. Wir saßen oft stundenlang träge unter den Bäumen der Villa, die mit einer dicken Staubschicht bedeckt war, die Landschaft wirkte wie eine Wüste, Menschen und Fuhrwerke der Via Senese zogen in der zitternden Glut vorüber wie Schemen. Die Straße war so heiß, daß man die Füße schnell vom Fußboden hochzog, da die Fußsohlen brannten. Auf einem Platz in der Vorstadt standen, schief an die Steinbänke gelehnt, Zwetschgenkuchen zum Backen.
Da sehnten wir uns nach Wasser und fuhren Mitte September nach Venedig, wo es uns so gefiel, daß wir auch im Sommer des nächsten Jahres dorthin zurückkehrten und bis tief in den Herbst hinein verblieben.

Venedig  

Venedig ist viel gemalt worden. "Es ist ausgemalt", sagen viele Künstler, als ob eine malerische Stadt überhaupt ausgemalt werden könnte. Venedig war die Stadt des italienischen Kitsches, des Genrebildes, die Venezianerin das Modell für so viele rührende und heitere zuckersüße Bilder, sie spielte in Italien die Rolle wie bei uns früher das Gretchen. Lange Zeit saß hier eine Kolonie österreichischer Maler; Passini, v. Pettenkofen und van Haanen waren die Häupter. Der Gründer und Anreger war Cecil van Haanen, der anfangs der siebziger Jahre als junger Maler nach Venedig kam, die Venezianerin sah und beschloß, ihr sein Leben und seine Kunst zu weihen. Wie merkwürdig das ist mit den Künstlern; Rops fand die Venezianerin "scheußlich". — Van Haanen kam noch in die Zeit, wo Venedig "die rote Stadt" hieß. Die Häuser waren meist mit der schönen, stumpfen rotgelben Terra di Pozzuoli angestrichen, die ich unten am Golf von Neapel am Ufer liegen sah. Die Frauen und Mädchen trugen noch Tücher in allen Farben und Nuancen, was den malerischen Reiz erhöht haben soll. Ich fand, daß die eintönigen schwarzen Schals von heute in das unruhige, flackerige Getriebe der Stadt besser passen, die Figuren bekommen dadurch etwas Geschlossenes. Die Venezianerin, meist hoch gewachsen, schlank, lebhaft, elegant in ihren Bewegungen, schwarzer Typus, auch vereinzelt blond, ist so, wie ich mir die Spanierin vorgestellt, aber nicht gefunden hatte; wie gemacht zum Tanz. Wenn die "Lazerten" Arm in Arm durch die engen Gassen gehen, ihre Köpfe neugierig nach allen Seiten herumfahren lassen, mit ihren langen Schalfransen elegante Linien schlagen, mit ihren Füßchen, die in zierlichen Pantoffeln stecken, auf dem Pflaster klappern, lachen, kichern und sich lustig machen, dann sind sie reizend.
Die Venezianerin ist graziöser als die Italienerin überhaupt, sie hat mehr Leben und, wie es scheint, mehr Rasse. Viele rühmen die Schönheit der Römerin; ein Künstler, der in Rom lebte, sagte: "Oft sieht man plötzlich eine im Theater, oder im Wagen vorüberfahren, namentlich unter den Frauen der Aristokratie, daß man hinschlagen könnte." Feuerbach hat sie gemalt als Iphigenie, und in einzelnen Köpfen, da ist sie wirklich von erhabener Schönheit. Sie muß von großer Gestalt sein, die kleine Italienerin, die vorherrscht, hat meist zu kurze Beine und ein zu breites Becken. Auch der kurze Italiener hat den langen Oberkörper; Michelangelo schuf in seinem "David", der auf der Piazza Michelangelo in Florenz steht, den typischen Italiener, die Beine sind ein wenig zu kurz.
Auch das schwarze Haar der Italienerin, das Byron entzückte, ist nur schön, wenn es tief blauschwarz ist und leicht gewellt fällt; das kleingelockte, mit afrikanischem Einschlag, das man viel sieht, ist leer und farblos.
Die Farbe des Fleisches ist bei den Schwarzen auch meist eintönig weiß, die Brünette, und namentlich die Blondine hat mehr Reiz und Schiller in der Haut, darin ist die Nordländerin der Italienerin überlegen. Die Italiener fühlen es selbst, ich sah es oft, wenn eine blonde nordische Schönheit auf der Straße vorüberschritt, wie sie bewundernd stehen blieben. Der Ausdruck des Gesichts, der Augen ist im Süden oft von einer rührenden Schönheit, innig, weiblich. Schon die Münchnerin hat ein lieberes Gesicht als die Norddeutsche, deren Augen oft so kalt und nüchtern sind. Mein Freund van Haanen hatte die schönsten Schalmädchen von Venedig zum Modell, er war liebenswürdig, geistvoll, freigebig; sie nannten ihn mit dem Kosenamen Carletto. Jeder fremde Maler hatte seinen Spitznamen, freundlich oder boshaft, wie er es verdiente. Einen kleinen snobistischen Amerikaner mit rotem Gesicht und rotem Haar, der krampfhaft den Verkehr mit hohen Adeligen suchte, nannten sie: Il principe Pomodoro, den Prinzen Paradiesapfel. Oft, wenn ich mit van Haanen durch enge, abgelegene Gäßchen wanderte, schoß plötzlich eine Frau aus einer Tür, lachte ihn an und rief:
"Buon giorno, Signor Carletto." "Das war einmal eine Schönheit, ich habe sie gemalt", sagte er dann. Es war manchmal kaum zu glauben; die Italienerin verblüht so schnell. Van Haanen hatte eine sehr interessante Vergangenheit; wenn er erzählte, dachte man an die galanten Abenteuer des Casanova. Wie der Liebhaber der Tochter in der Familie aufgenommen und als Familienmitglied betrachtet wird, die Mutter sich um ihn sorgt, ohne jemals von einer Ehe zu sprechen oder nur eine Andeutung darüber zu machen, das war wie ein Liebesidyll von einer stillen Insel in der Südsee.
Da, wo man große Häuserflächen sieht, wirken die Stadtbilder in Venedig kleinlich und unruhig, die vielen Fenster und Ornamente zerreißen die einfache Wirkung, sie besäen die Fronten mit dunklen Löchern und kleinen Formen. Aber hinter den Kulissen, in den Tiefen der engen Gassen, wo vor der Tür und am Kanal Frauen und Kinder sitzen und klöppeln und wo die Sonne nicht strahlt, in den kleinen Höfen und Wirtschaften, in den Werkstätten der Handwerker, wo Rembrandtsches Halbdunkel herrscht, da findet der Maler noch große Motive. Da kann man das Volk noch urwüchsig sehen, am Markusplatz und da, wo der Fremde sich breit macht, ist es etwas befangen. Hier in seinem Reich gibt es sich rein und natürlich, wie es ist.
Oft sieht man Szenen, wo das südliche Temperament aufbraust. Hier war ich einmal Zeuge eines echt italienischen Dramas. Eine enge Gasse, nach oben hingen die vorgebauten Holzetagen tief herein, ein Stückchen blauer Himmel, sonst alles in tiefer Farbe. Ein Auflauf entsteht, die Menschen stürzen aus den Häusern. Ein Weib will mit einem langen Messer auf ein junges schönes Mädchen im schwarzen Schal zustürzen, wird aber von Männern an allen Gliedern gehalten. Sie gebärdet sich wie wahnsinnig, ihre Nachtjacke wird heruntergerissen, die Brust entblößt, die Kleider hängen in Fetzen herab, sie würgt und windet sich, das Messer, das ihr die Männer entreißen wollen, hat sie verletzt, ein dicker Blutstreifen rinnt über Arm und Brust herab, und sie schreit in einem fort ihrer Feindin zu: "Putana, putana!" Diese steht ruhig, mit verschränkten Armen da, legt den Kopf zurück und lächelt höhnisch, sie ist die Siegerin, — Eine Steinbrücke über einem schmalen Kanal, über die im Dämmerlicht oder nachts, wenn im Hintergrund nur eine Lampe brennt, die Menschen geisterhaft huschen, hinauf, hinunter, und in einer Gasse verschwinden; ein Schalmädchen, das seinen Geliebten erwartet, in schöner Haltung am Eingang eines dunklen Hofes, in dem sich Holzaltanen hinziehen; ein heller Lichtstreifen, der aus der offenen Tür einer Spelunke fällt und in dessen Bereich plötzlich alles Schattenhafte grell beleuchtet wird, das sind Stimmungen, wie man sie nur in Venedig findet und die noch kein Kitschmaler gemalt hat.
Wenn man aus dem Maulwurfsbau hinauskommt ins Licht, an den Markusplatz und Dogenpalast, hier ist das echte Venedig nicht mehr zu finden. Da lassen sich die Hochzeitsreisenden fotografieren, wie sie Tauben füttern, da steigen die Sachsen herum mit den nägelbeschlagenen schweren Schuhen, den Rucksack am Rücken, den langen Bergstock in der Hand, am Bauch baumelt die Thermosflasche. Da sieht man die deutschen Handwerksburschen, diese rührendsten Italienbummler. Einmal ging ich mit einem Venetianer Maler, der sich schon ärgerte, wenn er einen sah. Da kommt ein echter auf uns zu, den Ranzen am Rücken, den Knotenstock in der Faust, bestaubt, guckt rechts und links und reißt die Augen auf. Als er nahe ist und uns deutsch sprechen hört, bleibt er stehen: "Ach, Se entschuldigen, wo is'n hier das deitsche Konsulat?" "Herrgott", sagt mein Freund, "diese deutschen Handwerksburschen in Venedig machen mich ganz nervös, alle Tage ein paar andere."
"Was wollt ihr denn eigentlich hier?" fragt er den Sachsen. Der nimmt den Knotenstock nach hinten, lehnt sich ruhig zurück, steckt die Hand in den Brustschlitz und sagt gelassen und von oben herab: "Nuu, Fenedch is doch nich für Sie alleene?" Das Volk ist in Venedig noch ungebundener als sonst in Italien, vielleicht machen das die Fremden; es fühlt, seine Natur gefällt. Ich saß täglich an einem Kaffeehaus. Täglich um dieselbe Zeit kam ein langer halbwüchsiger Bursche mit einem großen Korb auf dem Kopf vorüber, er hatte anscheinend Brote ausgetragen. In der Rechten hatte er einen langen Stecken.
Die Tische waren, wie es üblich ist, in langen Reihen schnurgerade gerichtet, an einigen saßen Gäste, Herren und Damen. Jedesmal kam er nahe heran, und vor jedem leeren Tisch schwang er seinen Stecken in weitem Bogen und ließ ihn mit aller Gewalt und mit einem fürchterlichen Knall auf das eiserne Tischchen niedersausen, wobei er ein Wort herausschrie, eine Art Jubel über diese Tat. So ging er die ganze Reihe ab. Alles schaute ruhig zu, kein Mensch sagte ein Wort oder zeigte auch nur eine unwillige Gebärde. Mein Freund sagte: "Das ist in Italien die Freiheit." Durch unsere Freunde, die Maler, wurden wir in die österreichische Gesellschaft eingeführt, die hier im Herbst sehr stark vertreten war, reiche Leute und Aristokraten, die nachmittags draußen am Lido saßen und abends am Markusplatz, die ihre Liebe dieser schönsten Stadt bewahrt hatten, welche einstmals zu ihnen gehört hatte.
Am Lido wurde gebadet. Da standen die Italiener mit ihren Damen stundenlang ruhig im Wasser und machten Konversation wie im Salon, sie lachten und freuten sich wie die Kinder; sie erkälteten sich nicht, denn das Wasser war gut temperiert. Wir dachten an Flandern und die herrlichen erfrischenden Wellen der Nordsee.
Oder sie liegen den ganzen Tag am Strande in der prallen Sonne, ihre Rücken sind violett und abgestuft in verschiedene Häute, die sich abschälen und neu bilden, worauf sie sehr stolz sind. Die Österreicher waren liebenswürdige Leute, die Damen haben einen eigenen Reiz, sie plaudern gern und genießen ihr Leben.
Eine ältere Wienerin, die Spuren einstiger großer Schönheit zeigte, erzählte mir ganz unbefangen, daß sie Hanns Makart zu einer der entkleideten Schönheiten auf dem Einzug Karls V. in Antwerpen Modell gestanden hatte. "Er war a guter Mensch und sagte immer zu mir: Liebs Frauerl!"
Als es kalt und unfreundlich wurde, bekam sie trübselige Stimmungen. "Sogen's mir, lieber Herr, was soll ich tun. In Wean fangt die Saison erst zu Weihnachten an, jetzt haben wir Anfang November, und nirgends ist mehr was los. Was soll ich bis Weihnachten tun?" Mit dieser Frage kam sie täglich, ich konnte ihr wirklich nicht raten. Als mein Freund von Wien zurückkam, sagte er: "Gnädige Frau, ich soll Sie grüßen, raten Sie mal von wem?" "Vom Baron X.?" "Nein."
"Vom Herrn von N.?" "Nein."
"Vom Grafen X.?" "Nein."
So ging es eine Weile. "Nun", sagte mein Freund endlich, "ich sehe, Sie raten es doch nicht, da will ich es Ihnen sagen: von Ihrem Mann." Am Markusplatz saßen wir einmal in der Nähe des Großfürsten Wladimir von Rußland, der Großfürstin und einiger Kavaliere. Der Kellner brachte den "Simplizissimus", auf dessen erster Seite eine Karikatur auf den Kaiser von Rußland in bunten Farben auffiel. Er warf einen Blick darauf und legte das Blatt hin, ein Hofmann ließ es sofort verschwinden. Als ich dezent mein Skizzenbuch hervorzog und anfing, ihn versteckt zu zeichnen, bemerkte er es sofort; er wurde unruhig und blickte starr auf meine Hände; er hatte wohl Angst vor einer Bombe. Draußen auf dem Wege war er immer gefolgt von einem Beschützer, einem riesigen Russen, der in einiger Entfernung hinter ihm herlief wie ein Bluthund. Ich dachte mir: ein Vergnügen, in Rußland Großfürst zu sein.
Wir saßen manchmal beim Abendessen neben ihm in der Panada. Wirklich wurden wir etwas von seiner Angst angesteckt, man konnte ja nicht wissen. Hier saß auch ein Tisch französischer Schriftsteller, Catulle Mendès an der Spitze. Die Damen gingen, ehe sie sich setzten, zum Spiegel, langten das Malzeug heraus und malten sich mit einer reizenden Ungeniertheit das ganze Gesicht. Daneben saß ein Tisch vornehmer Engländer; die Ladys saßen wie angefroren da bei diesem fürchterlichen Anblick. Dieses Venedig im Herbst mit seiner interessanten internationalen Gesellschaft, von anderer Qualität als die in Monte Carlo, hatte einen fesselnden Reiz, und unser Freund van Haanen, der alles kannte und von allem anregend erzählen konnte, machte die Abende zu einem Genuß, an den wir noch heute dankbar zurückdenken. Jeden Winkel von Venedig kannte er, und oft streiften wir bis in die Nacht hinein über abgelegene Kanäle, durch dunkle Durchgänge und Höfe, an irgendein malerisches Stück, bis ihn oft die Erinnerung ein wenig verließ und wir kaum noch aus dem Labyrinth herausfanden.
Für unsern Sohn war Venedig Traumland, er konnte sich im Schauen und Entdecken immer neuer Wunder nicht genug tun. Nachts lagen wir oft in einer Gondel und ließen uns durch die Kanäle rudern, wir sprachen kein Wort und blickten in den Sternenhimmel.
Wir streiften durch Galerien und Paläste, wo wir die Bilder der großen Venezianer sahen, deren Kolorismus alle jungen Schulen der vergangenen und heutigen Epoche befruchtete; wenn auch vieles vom Pomp und Glanz vergeht, die Farbe bleibt ewig. Herrlich sind Tizian, Giorgione, Veronese und Tintoretto; namentlich letzterer, der an Kraft und Genialität alle übertrifft.
Viele Bilder sind leider von der fortwährenden Feuchtigkeit schwer im Ton geworden; diese gefährliche Luft konnte man deutlich erkennen an den schönen Whistler-Radierungen von Venedig, die der Meister dem Museum schenkte, — sie waren voller großer Stockflecken. Ich malte an der Zattere, wo vor einer großen Mühle malerische Schiffe liegen, die Getreide von den Ufern der Adria hierherbringen. Segel und Schiffskörper sind in naiver Weise von den Seeleuten mit bunten grotesken Ornamenten geschmückt, die fast chinesisch anmuten. Herrliche Stilleben sieht man überall in den Straßen und an den Kanälen, allerhand phantastische Seetiere mit zarten Farben, rosa, blaugrau, mattgelb und starkrot, vom Hummer bis zum Tintenfisch; sie sind oft abscheulich in der Form, grotesk-unheimlich, wie verkleinerte menschenfressende Ungeheuer, werden aber alle vom Venezianer gegessen. Jeder Gemüseladen strotzt von überraschenden Zusammenstellungen schöner Farben, aus denen herrliche große Früchte herausleuchten.
Das Volk von Venedig ist gutmütig, wenn es einen Maler stehen sieht, nur etwas schadenfroh. Wenn man ein Schiff malt und es fährt plötzlich davon, dann lacht es. In einem Restaurant passierte uns ein Unglück. Als wir eintraten, fanden wir keinen Platz, alle Tische waren besetzt. Da ersuchte ich den Kellner, das große Fenster zu öffnen, das bis zur Erde ging, und ein Tischchen für uns hinzustellen. Das Publikum, das im dumpfen Räume saß, sah uns mit neidischen Blicken an. Ein großer Glasflügel war dicht hinter meinem Stuhl. Ich setzte mich, und knacks! die Scheibe ist eingedrückt. Die Leute lachen und freuen sich. Ich tue, als wäre nichts passiert, meine Frau war etwas blaß geworden. Wir bestellen das Essen, es schmeckt uns nicht. Nun rufe ich den Kellner und verlange die Rechnung; er schreibt alles auf, dann zeigt er auf die Tür hinter mir und sagt: "und dann eine Scheibe, dreihundert Lire." Ich protestiere, sie wären doch versichert, und dann wäre es doch auch mit seine Schuld. Er läuft und sagt dann, ich solle zum Padrone gehen, der im untern Lokal am Büfett stehe. Ich gehe durch die schadenfrohe Menge; hinten ging eine Stufe hinab in das Hauptlokal. Da wußte man es auch schon, bei meinem Erscheinen lachte man. Der Wirt, ein Grobian, empfing mich sehr ungnädig. Ich stelle ihm vor, daß er rechtlich keinen Ersatz beanspruchen könne, das wäre ein Unfall, an welchem ich unschuldig sei. Er konnte nicht viel Französisch und rief in einem fort: "Gassé, payer!" Zerbrochen, zahlen!
Ich konnte nichts ausrichten; als ich ging, riefen einige Gäste hinter mir her: "Gassé, payer!"
Ich setzte mich wieder und erwartete den Kellner; alles um uns herum war in höchster Spannung. Der kam, nahm die Rechnung, strich die dreihundert Lire aus und schrieb zehn Lire dafür hin.
Van Haanen staunte nur so, als wir ihm das erzählten, so etwas wäre ihm die vierzig Jahre in Venedig nicht vorgekommen, er hätte ohne Protest gezahlt. Da sähe man, was man mit einem energischen Auftreten beim Italiener erreichte. —
Wir wohnten an der Kreuzung zweier Kanäle in der Nähe des Teatro Fenice bei einer alten, trunksüchtigen Slowenin, die van Haanen "Hille Bobbe" nannte; die Ähnlichkeit mit ihrem Urbild, dem berühmten Fischerweib des Frans Hals, war besonders stark, wenn sie etwas angeheitert war und zärtlich wurde.
Meine Nächte waren oft sehr unruhig, ich litt sehr an den Stichen der Zanzaren, wie man in Venedig die Moskitos nennt; ich schlief oft erst spät ein und dann träumte ich schwer. Meine Unruhe war einmal die Ursache eines komischen Erlebnisses. Ich war gerade eingeschlafen, da wurde ich durch Poltern und Schimpfen im Nebenzimmer aufgeweckt. Im Halbschlaf höre ich scharfen preußischen Dialekt: "Unerhört, nicht zum Aushalten, schändlich; ach Jott, ach Jott!" Ich dachte, das ist ein Neuangekommener, der an den Zanzarenstichen leidet wie ich und kein Mittel hat. Die Wand zu ihm hatte eine verschlossene Tür, man verstand jedes Wort. Ich biete ihm meine Räucherkerzchen an, die ausgezeichnet helfen. Da flog etwas Hartes gegen die Tür, und ein fürchterliches Geschimpfe folgte. Ich dachte mir, der Mann ist verrückt, und schlafe weiter.
Den nächsten Morgen war Hille Bobbe auffallend verlegen. Ich erzählte ihr von der vergangenen Nacht und fragte, wer der nervöse Nachbar sei.
"Ein Offizier aus Preißen. ,Ritter hoher Orden' steht auf seinem Brief. Hot sich beschwert, konn nit schlofen, hot Weh überoll, weil Signor Ermanno so schnaufen." Das war es also. Mein Schnarchen auf dem harten, holperigen Nachtlager hatte dem Unglücklichen die Nachtruhe geraubt und mein menschenfreundliches Anbieten der Räucherkerzchen hatte er für Spott gehalten. Hille Bobbe sagte noch: "Hot gefrogt nach Nomen von Signor Ermanno. Hot gesogt: kennt den Nomen; nit meglich, daß Signor Ermanno ist Signor Schlittgen." — Die venezianischen Nächte sind oft von Dichtern und Musikern verherrlicht worden; auch wir empfanden zuzeiten ihre Schönheit.
Man muß das Volkslied nachts in den einsamen Kanälen hören.
Einmal wurden wir von Musik geweckt; es war eine herrliche stille Nacht. Als wir das Fenster öffneten, kam uns schon die Morgenkühle entgegen. Am Abend vorher war das Fest "Il Redentore" gewesen, das die Venezianer am Lido feiern. Aus der Tiefe des Kanals tönte leiser Gesang, begleitet von Mandoline, Gitarre und Violine. Da tauchte im sammetschwarzen Kanal, aus den dunklen Kulissen der Häuser eine Gondel auf, hellgekleidete Frauen lagen verschlungen in den Armen dunkler Männer; alles war schattenhaft, unbestimmt. Andere Gondeln folgten. Mit leichtem Ruderschlag kamen sie in die Dämmerung heraus und zogen wie große schwarze Schwäne vorüber. Die Männer spielten, die Frauen sangen ein Volkslied. Es war berauschend. Lange noch hörten wir Gesang und Spiel, bis der letzte Ton in der Ferne verklang und Kanal und Häuserschatten in tiefer Ruhe weiterträumten. Eine andere venezianische Nacht.
Unser Sohn ist nicht da, oft streicht er bis um Mitternacht herum, wir wissen es schon, aber heute kommt er gar nicht. Meine Frau sitzt am Fenster, sie ist in Unruhe, sie wartet und wartet. Gegen Morgen überfällt sie die Müdigkeit, sie wirft sich auf das Bett und schläft ein. Ein Geräusch weckt sie, sie fühlt einen großen Strauß Blumen im Arm. Am Bett kniet unser Junge und gratuliert, es ist heute ihr Geburtstag. Er hatte sich die Nacht verirrt und erst gegen Morgen heimgefunden. Den Strauß Nelken hatte er morgens am Blumenmarkt gekauft. —
Wer hätte damals das Schreckliche geahnt, daß wir unsern Sohn nach drei Jahren verlieren mußten!

Der Fremdling  

Ende der neunziger Jahre besuchte mich in München der dänische Maler Oskar Matthießen, der durch sein großes Bild "Schwedische Offiziere" bekannt wurde, das eine Rundreise durch die großen Städte Deutschlands machte und ein gewisses Aufsehen erregte. Die Offiziere, welche zum Bad in die See reiten, saßen nackt auf ihren Pferden; in Schweden sieht man den menschlichen Körper harmloser an als bei uns; Feigenblätter und Lendenschurze sind, wie es scheint, dort nicht beliebt. Bei uns wurden Proteste laut, die aber, wie gewöhnlich, die Leute erst neugierig machten und in die Ausstellung trieben; jeder will sich selbst überzeugen, und der Künstler hat den Nutzen davon. Bei uns gab es unter den Malern auch Fanatiker der reinen Natur, die gegen die entstellenden Schurze auftraten, vor allem Max Klinger, der seinen Christus auf der großen "Kreuzigung" in reiner Nacktheit darstellte. Matthießen kam aus Italien, wo er die Freskotechnik der alten Meister studiert hatte und zur Überzeugung gelangt war, ihnen in ihrer Technik auf die Spur gekommen zu sein.
Er hätte sein Verfahren gern den Künstlern vor Augen geführt und suchte dazu ein Stückchen Außenwand an einem hervorragenden Bauwerk. Das gerade im Werden begriffene Nationalmuseum in München erschien ihm sehr geeignet für seine Demonstration. Hier von München aus hätte sich seine Entdeckung leicht in der Welt eingeführt. Ich machte ihn mit dem Erbauer, Gabriel Seidl, bekannt, der sich anfangs sehr dafür interessierte; später machten sich aber Gegenströmungen geltend, und die Sache ist wieder eingeschlafen. Mein Däne war schon kurz vor der Abreise, da sagte er: "Ich muß noch Seitz besuchen, den ich schon lange als Künstler hoch verehre." Rudolph Seitz war dekorativer Maler und Zeichner, einer der Miterwecker der Renaissance in München und Professor an der Kunstgewerbeschule.
Den andern Tag kommt Matthießen in äußerster Aufregung zu mir, wirft sich in einen Stuhl, lacht, schlägt sich an die Stirn, springt auf, läuft herum und jammert. "Srecklich, srecklich, was mir geschehen ist, oh, es ist bös, ich bin ein slechter Mensch."
Endlich beruhigte er sich so weit, daß er erzählen konnte. Er hatte sich in einem Kaffeehaus aus dem Adreßbuch die Wohnung von Seitz abgeschrieben und ging nachmittags zu ihm. Er kam in einer der stillen Straßen am Englischen Garten vor ein kleines Haus, das im Garten lag. An der Eingangstür klingelte er und sah durch das Gitter, wie an den offenen Fenstern der Villa festlich gekleidete Menschen hin und her huschten. Auch die Tür war wie zu einer Feier mit frischem Grün geschmückt.
Ein Dienstmädchen kam durch den Garten und fragte nach dem Belieben.
"Ich bin ein fremder Maler aus Dänemark und möchte dem Herrn Professor meine Verehrung bezeugen." "Ich will's gleich der Frau Professor sagen."
Es dauerte ziemlich lange, dann kam eine Dame. "Sie wünschen meinen Mann zu sprechen, es tut mir leid, wir haben große Gesellschaft." "Ach, wie schade, ich wollte dem Herrn nur meine Verehrung ausdrücken. Ich bin ein Maler aus Dänemark und muß bald wieder abreisen. Wenn es nur ein paar Worte wären, ich bitte darum."
Die Dame geht, und bald erscheint der Herr Professor selbst, ein alter liebenswürdiger Herr, der in festlicher Stimmung ist. Der Däne sagt ihm, was er für ihn fühlt. Der Professor ist gleich ganz Feuer und Flamme: "Ja, das ist eine Freude. Und gerade heute zu unserm Festtag kommen Sie! Nur herein, mein lieber junger Freund, herein, und feiern Sie mit, meine Frau und ich haben heute unsere goldene Hochzeit."
Der Däne zeigte auf seinen Straßenanzug, es half alles nichts, gerade das fand der Meister schön: ein junger begeisterter Künstler auf der Wanderung. Und so wurde Matthießen hineingeführt und der Gesellschaft vorgestellt. Und zum abendlichen Festmahl mußte er bleiben, und der alte Herr hielt eine Rede auf ihn und sagte, dieser Besuch wäre heute seine größte Freude.
Und Matthießen erwiderte in seinem weichen Deutsch; er feierte den Meister, den er schon so lange hochverehrt. Und dann wurde es lustig; es wurde gegessen und getrunken, und der Meister kam selbst und sorgte für seinen jungen Freund, daß ihm nichts abginge. Nach dem Essen führte er ihn in sein Atelier. Und nun begann das Drama. Der Däne erzählte: "Ich war schon beim Eintritt ein wenig überrascht, hatte ich mir doch die Werkstatt anders vorgestellt, mit dekorativen Entwürfen, Kartons, mehr zeichnerisch und im Renaissancestil, so wie ich den Meister kannte, und hier hingen lauter Genrebilder und Studien dazu an der Wand, und auf der Staffelei stand ein angefangenes Bauernbild. Ich wurde verlegen, mußte mich erst aufraffen und ein wenig besinnen, wo ich mich eigentlich befand, denn ich hatte etwas zu viel vom Festwein getrunken. Aber ich täuschte mich nicht: dies hier waren wirklich echte Genrebilder und keine Renaissancedekorationen. Je länger ich hinsah, desto deutlicher wurde es mir. Und es wurde immer peinlicher. Der liebenswürdige alte Herr sagte: ,Hier sehen Sie mein letztes Bild, wie gefällt es Ihnen?'
Im Kopfe drehte sich mir alles um und um, und ich konnte nur sagen: ,Sehr schön, sehr schön.' Und die Wahrheit kam mir mit einem Male fürchterlich zum Bewußtsein: ,Das ist er ja gar nicht.'
Und richtig, nachdem ich mich ein wenig von meinem Schrecken erholt hatte, stahl ich mich an ein größeres Bild, das in der Mitte der Wand hing, und suchte den Namen. Da stand es: Anton, und nicht Rudolph, wie mein verehrter Meister hieß."
"Und was haben Sie nun getan?" fragte ich Matthießen. "Ja, was habe ich getan! Sehen Sie, das ist ja das Schreckliche. Zuerst wollte ich gestehen und die Wahrheit sagen, aber dann tat mir der alte Herr leid. Hatte ich doch in seinem Hause gegessen und getrunken, und alle waren so lieb mit mir. Denken Sie doch, wie wäre das geworden, die ganze Festfreude wäre verschwunden. Das konnte ich doch meinem liebenswürdigen Wirt nicht antun. Und so fing ich nun an zu heucheln.
Ich war schon ein wenig berauscht und hoch in Feststimmung, und es wurde mir deshalb nicht schwer, mich den Verhältnissen entsprechend umzustellen. Ich fand die Genrebilder reizend, die Studien auch, und alles, was mir gezeigt wurde.
Als wir in die Gesellschaft zurückkehrten, war ich ruhig und gefaßt, und mein Rudolph, der andere, echte, war für heute vergessen. Hier war Anton, ein lieber, freundlicher Herr, der ja auch etwas konnte, er war bloß anders. Und ich habe sein Fest mitgefeiert bis zum Schluß ohne Hintergedanken, als junger Kollege, der einem alten Herrn seinen Respekt bezeugt. Mit den andern habe ich jubiliert, getanzt und genossen bis in die Nacht hinein. Dann bin ich zu Bett gegangen und habe geschlafen. Beim Erwachen erst kam mir die Besinnung. Was sagen Sie dazu, ist das nicht srecklich?"

Ein vornehmer Porträtist  

In der "Ecole Julian" in Paris hatten wir einen langen Berliner, der sich bei seiner Arbeit recht abquälte. Sein Können war mangelhaft, zeichnerisch und malerisch; aber er hatte einen starken Willen und fand seine Spezialität. Das ist nämlich die Hauptsache für einen, der schwach ist: etwas zu finden, worauf er sich konzentrieren kann, was er so lange und so oft macht, bis er es bis zu einem gewissen Grade lernt.
Lenbach sagte einmal: "Mach etwas, was ein andrer nicht kann." Nun ist ein kleines Feld, unablässig und ausschließlich mit großer Geduld bearbeitet, ein Gebiet, wo ein anderer mangels Übung nicht so leicht herankommen kann. Die Spezialität des Berliners war das vornehme Porträt, das Potentatenabbild.
Er zeigte mir einmal in früheren Jahren einige Bilder, ich war in Verlegenheit. Ich konnte ihm doch nicht sagen: "Das ist gut gemalt" oder: "Das ist hohe Kunst" oder etwas Ähnliches, das wäre unehrlich gewesen.
Da sagte ich: "Sie sind ein Psychologe". Wirklich war so etwas darin.
Wie freute er sich, etwas Schöneres hätte ich ihm nicht sagen können. Noch nach Jahren sagte er mir in meinem Atelier: "Sie sind moderner Porträtist, das ist sicher, aber ich, ich bin Psychologe. Sie haben es mir einmal gesagt, und danach habe ich mich eingerichtet." Er war Reserveoffizier in einem vornehmen preußischen Garderegiment und mit seiner Uniform und dem Malkasten reiste er in der Welt umher. Kam er in eine Hauptstadt, zog er seine Uniform an und machte dem Herrscher einen Besuch. Als deutscher Offizier fand er überall offene Türen. Dann wurde der Potentat gemalt, ob er wollte oder nicht, und wurde der Freund des Künstlers, der auch wirklich ein interessanter und gebildeter Mensch war. Seine Brust schmückten hohe und höchste Orden, sie war mit dicken, gleißenden Sternen und Kreuzen ganz bedeckt. War er zu Kaisers Geburtstag in München, besuchte er mich regelmäßig in Schwabing. Das war der einzige Tag im Jahr, an dem die Reserveoffiziere auf der Straße Uniform tragen durften. Ich zeichnete damals noch Offiziere, und er stand mir mit seinem "Blech", wie er seine Orden nannte, Modell. Dann gingen wir in das Kaffeehaus, und zwar von Schwabing aus die lange Ludwigstraße bis hinein in die innere Stadt.
Er war unheimlich lang und hatte außerdem noch einen Haarbusch auf dem Helm, der beim Gehen hin und her schwankte. Wir machten ein riesiges Aufsehen, ich habe in meinem Leben nicht solche ehrfurchtsvolle Blicke auf mir ruhen sehen. Das Publikum mußte ja den Offizier für einen Fürsten oder Prinzen halten, denn so viele Orden konnte kein gewöhnlicher Sterblicher tragen. Und ich ging rechts von ihm. Er bestand jedesmal darauf, weil ich ein halbes Jahr älter war.
Also, was war nun ich? So einfach und schlicht neben diesem Glanz, das ist doch die wahre Vornehmheit. Schade, daß mich mancher kannte, bei dem die Illusion dann bald verflog. Er bewirkte fast eine Verkehrsstockung; die Droschkenkutscher hielten an und sperrten ihre Mäuler auf, und die Passanten, die uns entgegenkamen, machten einen großen Bogen.
Wir sprachen leise, sonst hätte man es gemerkt. Ich sagte: "Das Blech wirkt." Er: "Reden Sie doch kein Blech, wir wirken." Ich: "Ich bekomme Angst, hoffentlich werden wir nicht arretiert." Er: "Das würde nicht lange dauern, denn ich male den König."
Richtig, so war es. Er lud mich ein, das Bild zu sehen. Da er nur vorübergehend in München war, hatte er kein Atelier. In einem Hotel in der Umgebung des Bahnhofs wohnte er, und oben im Speicher, zwischen zwei Dachbalken, hatte der Wirt ihm einen kleinen Raum zum Malen überlassen, der mit einem billigen Stoff ausgeschlagen war. In der Mitte des Raumes stand ein reichgeschnitzter Stuhl mit einem Wappen aus der Residenz, so eine Art Thron, und darüber lag ein Krönungsmantel.
Das Bild stand halb fertig unter einem kleinen Fenster im schiefen Dach. Der König Ludwig III. von Bayern war hier abgebildet mit allen seinen Herrscherattributen. Und in dieses Loch ist er täglich gekommen und hat Modell gestanden; man gelangte nur in gebückter Stellung hinein. Da sah man es, daß die bayerischen Herrscher doch volkstümlich waren. Man mag alle andern Fürsten Deutschlands im Geiste vorbeiziehen lassen, keiner hätte das getan.

Natur  

Vor vielen Jahren brachten die "Fliegenden Blätter" einen Scherz mit Zeichnungen: Aus dem Manöver. Das erste Bild zeigte auf einer Anhöhe einen Zug Soldaten auf einem Feldweg postiert, der durch ein Kartoffelfeld führt. Ein vorgesetzter Offizier kommt herangeritten: "Ja, Herr Leutnant, Sie stehen hier mit Ihrem Zug ungedeckt auf der Straße, können vom Feind gesehen und beschossen werden und nebenan haben Sie die schönste Deckung, das Kartoffelfeld." Leutnant: "Rin in die Kartoffeln!" Nicht lange dauert's, da kommt ein höherer Offizier. "Herr Leutnant, was ist das für ein Unsinn! Sie kauern mit Ihren Leuten in diesem Kartoffelfeld, das doch gar keine Deckung gibt. Das ist doch lächerlich. Schade um das Feld, das sie zertrampeln." Leutnant: "Raus aus den Kartoffeln!" Da kommt der Oberst und schimpft über die Unachtsamkeit, die herrliche Deckung am Weg übersehen zu haben. Leutnant: "Rin in die Kartoffeln!" Zum Schluß erscheint der Herr General selbst: "Was für ein jammervolles Bild, diese Soldaten in dem traurigen Kartoffelfeld! Herr Leutnant, Sie verderben mir das ganze Manöver mit dieser Blamage." Leutnant: "Raus aus den Kartoffeln!" — An diesen gelungenen Scherz mußte ich oft denken, wenn ich die Strömungen und Bewegungen der Malerei seit ungefähr hundert Jahren vorüberziehen sah. Was im Manöver das Kartoffelfeld war, bedeutet in der modernen Malerei die Natur.
"Raus aus der Natur! Rin in die Natur!" so geht es abwechselnd in einem fort.
Erst kommen die großen Maler von Barbizon: Millet, Rousseau, Diaz, Corot. Bei uns in Deutschland eine ähnliche Bewegung. "Rin in die Natur!"
Dann folgen die Akademiker und Romantiker, die ersten basieren auf der Form, die andern auf der Schwärmerei im Atelier, das Fenster dem Himmel zugewandt. Bei uns Cornelius und die Nazarener. "Raus aus der Natur!"
Nun erscheint Courbet, der Große, der wieder mit der Staffelei draußen in der Landschaft steht und an der Eingangstür zu seiner Ausstellung ein großes Plakat anbringt: La nature!
Bei uns Menzel und andere. "Rin in die Natur!" Dann kommt das Historienbild und das historische Genre namentlich der Belgier. Bei uns Piloty. "Raus aus der Natur!"
Aber schon stehen die Impressionisten da und lassen ihr Licht blitzen; sie steigern die Farbe bis zum äußersten, farbigen Glanz und bringen sie zur höchsten Vollendung, aber immer im direkten Zusammenhang mit der Natur. "Rin in die Natur!"
Nun kommen die Expressionisten und sagen: "Die Natur ist uns gleichgültig. Die Impressionisten gaben nur das Äußere, wir sind die Innerlichen, die Geistigen; jene waren oberflächlich, wir sind tief, wir geben uns selbst." "Raus aus der Natur!" Bis der andere Ruf wieder erschallt; ja, man hört ihn schon wieder.
Und so wird es weiter gehen bis in alle Ewigkeit. — Das Leben, das viele berühmte Maler führten, die es ganz draußen in der Natur verbrachten und an der Quelle ihre großen Werke schufen, erschien mir immer und namentlich in jungen Jahren als das wunderbarste für einen Künstler. Wie herrlich kam es mir vor, wie die Meister im Walde von Fontainebleau lebten, in edler Gemeinsamkeit, das höchste Ideal erstrebend, jenseits von Neid und Haß, sich gegenseitig stützend und erhebend und nur einen Gedanken im Herzen: die reine Kunst. Wie wunderbar romantisch war das Dasein Daubignys, der sich ein Flußschiff bauen ließ, mit dem er allein, nur von einem Koch begleitet, die schönen Landschaften der Seine, Oise und weiter bestrich, tags malend und abends die gute Küche seines Kochs genießend. Später hat mich mein Weg oft mit solchen Malereinsiedlern zusammengeführt.
In Belgien an der Nordseeküste saßen in den Fischernestern verschiedene Marinemaler, welche die Ehrlichkeit hinausgetrieben hatte aus dem Atelier in der großen Stadt, "in dem man nur schwindelt."
Da draußen in Wind und Wetter wurde gemalt, und die See wurde echt auf den Studien; die Maler sprachen vom Wasser wie alte Seekapitäne, kannten jede Bewegung, jede Farbe und Stimmung genau. Dann kamen sie oft durchnäßt und vom Wetter geschüttelt heim in ihr "Estaminet", das öde Wirtshaus in den Dünen. Beim "Schnick", dem landesüblichen "Genèvre", wärmten sie sich. Und es wurden immer mehr, und das alle Tage.
,,Uns schadet es nichts, wir brauchen das wie die Seeleute", sagten sie lachend.
Gefährlich für den Maler, der allein, ohne Frau oder Freund, irgendwo ganz für sich und seine Arbeit auf dem Lande lebt, ist der Alkohol. Das Abgeschiedensein von allen geistigen Anregungen macht den Maler, der eine rege Phantasie hat, melancholisch, und er ergibt sich leicht dem Gift. Da wird der Kamerad gesucht, und er wird zur Gewohnheit. Er ist ein Tröster in traurigen Stunden, und der Künstler ist so leicht in eine glückselige Stimmung gebracht. Der Alkohol ist die Krankheit des Einsamen.
Cézanne sagte einmal bei Tisch zu Bernard: "Der Wein ist etwas Gutes, aber man muß ihn mäßig genießen. Wie weit hätte es Daumier gebracht, der ein Genie war, wenn ihn der Wein nicht beherrscht hätte."
Und wir wissen, daß ein anderer Einsamer, Wilhelm Leibl, namentlich durch zu starken Biergenuß in jüngeren Jahren sein Herz geschwächt hat, so daß er dadurch im Verein mit der unsinnigen Krafthuberei vor der Zeit gebrochen wurde. Van Gogh war so arm, daß er sich kaum die nötige Nahrung kaufen konnte, dann saß er die halben Nächte in entsetzlichen Kaffeehäusern und betäubte sich durch Alkohol. Das hat sein ohnehin durch zu viel angestrengtes Malen ohne Kopfbedeckung in der Sonne angegriffenes Gehirn noch mehr geschwächt und ihn dem Wahnsinn zugeführt. Böcklin und manchen andern noch hat der Wein nichts geschadet, sie waren von Natur aus unverwüstlich. — Ich habe mein Leben hauptsächlich in Großstädten zugebracht, war aber doch, als ein auf dem Lande Geborener, keine richtige Großstadtpflanze wie viele Kollegen, welche die Großstadtluft nur ganz kurze Zeit entbehren konnten. Mag der Mensch sich noch so sehr ummodeln, immer bleibt doch etwas von seiner Herkunft an ihm haften. Die öde Landschaft um Roitzsch, in der ich geboren wurde, sah ich in der Erinnerung verklärt, wie es einem Künstler im Blute liegt. Alles verschönen wir, unsere Phantasie füllt das Fehlende aus. Auch das Nüchternste erhält bei uns Reiz, den sonnigen Reflex unseres Temperaments. Mein Onkel Rudolph, der nun schon lange tot ist, hat mich hart aufgezogen und doch lebt er in meiner Erinnerung als ein ganz interessanter Mensch. "Nicht wahr, Martha", sagte ich kürzlich zu meiner Frau, "mein Onkel Rudolph war doch ein ganz origineller Mann?" "Ei bewahre", entgegnete sie entschieden. Sie war einmal in Roitzsch, ich selbst habe es nicht mehr wiedergesehen seit jener letzten großen Szene nach meiner Flucht aus Leipzig. "Im Gegenteil, er war ein schrecklicher Mensch." Aber ich hänge mit ihm zusammen, ich komme nicht von ihm los. Und sein Haus und seine Felder, auf denen ich meine jungen Kräfte verausgabt habe, sie kleben an mir, sie sind mit mir auf Lebenszeit verwachsen. —
Der Krieg hat mich nun aus der Großstadt hinaus getrieben in eine kleine Stadt, Wasserburg, südöstlich von München am Inn gelegen. Hier lebe ich nun, um mich ganz der Malerei zu ergeben, draußen vor der Natur. Die Kindheitsträume werden wieder wach. Das Illustrieren habe ich ganz aufgegeben, die "Fliegenden Blätter" schon im Jahre 1920 freiwillig verlassen. Sie wollten sich der modernsten Richtung anschließen. Eines Tages erschien die erste Nummer im neuen Geiste; die Titelvignette, harmlose Biedermeierjugend darstellend, der ein Pierrot Seifenblasen vormacht, war durch eine Walkmühle gegangen, die lieblichen Figuren, die nun über ein halbes Jahrhundert das deutsche Gemüt vorstellten, waren ins Expressionistisch-dadaistisch-kubistische verzogen; sie sahen aus, als litten sie sehr in dieser ihnen gewaltsam aufgezwungenen neuen Mode. Das übrige, in schreiend bunten Farben, stimmte mit diesem Muster überein.
Ich sitze hier in Wasserburg weit ab von der Welt, mein altes Blatt sah ich dann lange nicht mehr. Da brachte mir einmal ein Freund aus München die neueste Nummer mit. Wie erstaunte ich! Die lieben Figuren am Titelkopf hatten ihre schwere Krankheit überstanden und erschienen wieder in ihrer alten natürlichen Gestalt. Innen im Blatt stand ein schönes Gedicht, wie es bei festlichen Gelegenheiten, bei den vielen Jubiläen, die ich mit erlebte, üblich war: dieses deutsche Blatt solle nun wieder artig werden und die neue Richtung verlassen.
Ich habe seitdem keine Nummer mehr gesehen. Die Wasserburger Kaffeehäuser führen die "Fliegenden Blätter" nicht mehr. Sie werden wohl eingeschlafen sein. Wahrlich, das untrügliche Zeichen einer neuen Zeit, wenn die alten, gemütlichen "Fliegenden" verschwinden. Der letzte Rest einer alten künstlerischen Kultur. Wie wird die neue werden?

Lori  

Ich war immer ein großer Tierfreund und hatte, seit ich vom Militär frei gekommen war, stets einen Hund. Mein erster war ein Proletarier, ein echter Münchner Schnauzl. Ich fand ihn bei einem kleinen Hundehändler in der Vorstadt Schwabing. Er hatte keinen Schwanz; an der Stelle, wo der sonst sitzt, war gar nichts. Sonst war er sehr rassig, sein Haar war strohgelb, zwei wunderschöne schwarze Augen schauten klug aus dem Haarbusch heraus. Der Händler wollte den großen Mangel verdecken und hielt mir immer nur den schönen Kopf hin, aber als er seinen Preis verlangte, zeigte ich hinten auf die Stelle, wo von Geburt kein Schwanz war, und sagte: "Aber hier?!" "Ja, den Schwanzl hab i vom Preis schon abgezogen, der Schnauzl wäre sonst zehn Mark theiriger." Ich wollte ihn nicht nehmen, der Fehler störte mich doch sehr. Ein Hund, der nicht wedeln kann, dachte ich, ist kein Hund.
Da schaute mich der Schnauzl so traurig an, als schäme er sich, und ich erbarmte mich seiner und nahm ihn. Seinen ersten Streich vollführte er gleich die erste Nacht. Kurze Zeit vorher besuchte mich in meinem Atelier ein Herr aus Koburg, ein kleiner Beamter, der mich um eine Zeichnung oder Skizze für seine "Sammlung" anbettelte. Geld könne er dafür nicht geben, aber er würde sich schon revanchieren.
Ich sagte ihm, daß ich leider nichts für ihn hätte, die Skizzen wanderten alle in den Kohlenkasten. "Kohlenkasten?" sagte er gierig und stand schon davor und zog alle die schmutzigen Papiere heraus, die mit Krikel-krakel bedeckt waren. Auf den meisten war kaum etwas zu erkennen, es waren die ersten Entwürfe für Zeichnungen. Er strich die Papiere glatt, so gut es ging und sagte: "Wundervoll! Darf ich die nehmen?"
"Natürlich, das Zeug hat aber doch keinen Wert." — "Für meine Skizzensammlung schon." Nun zog er damit ab. Nicht lange dauerte es, da schickte er mir eine Kritik aus der "Koburger Zeitung": "Unser Mitbürger X, der bekannte Kunstfreund, hat in der Xschen Buchhandlung seine wertvolle Sammlung von Handzeichnungen bedeutender moderner Meister, worin die ersten Künstlernamen vertreten sind, ausgestellt, man nehme die seltene Gelegenheit wahr usw." Kurze Zeit darauf kam eine Kiste aus Koburg, gefüllt mit Würsten, das Gegengeschenk. Es war gerade der Tag, an dem ich den Schnauzl erworben hatte. Abends ging ich aus und kam spät nach Hause, den Hund hatte ich im Atelier gelassen.
Ich machte Licht und sah die Bescherung. Ich hatte vergessen, die Wurstkiste zuzumachen, und er hatte sich die Zeit damit vertrieben, alle Würste zu kosten; sie lagen im Atelier herum, und er saß in der Ecke und war so komisch mit seinem Lausbubengesicht, wie er mich so pfiffig und schuldbewußt ansah, daß ich lachen mußte und ihm verzieh; es war ja auch meine Schuld. Er war ein Komiker mit Gemüt. Er konnte lachen. Da ihm das Wedeln versagt war, steigerte sich der Ausdruck seines Gesichts. Hinten bewegte er die Stelle seiner Schande hin und her und vorn lachte er wie ein Mensch. Er kniff die Augen halb zusammen, machte das Maul auf, zog die Maulwinkel in die Höhe und zeigte seine weißen Zähne. "Der Hund lacht!" hörte ich oft sagen, es war kein Wahn von mir. War er in hochgradiger Freude, dann tanzten die Hinterbeine hin und her, sie wippten leicht auf und nieder und vollführten einen hüpfenden Tanz. Wegen dieser merkwürdigen Bewegung wurde er von uns "Hipp" getauft. Als ich nach Paris übersiedelte, mußte ich ihn einem Freund übergeben, ich dachte mir: Es ist schade, aber nach Paris paßt Hipp nicht. Er fand bei Arthur Langhammer eine neue Heimat und starb hochbetagt und wohlgepflegt als große gelbe Kugel mit zwei glänzenden schwarzen Augen darin. In Paris saßen wir oft traurig und dachten an ihn. Meine Frau wünschte sich nun einen Pariser schwarzen Pudel, die waren aber zu teuer, namentlich die ganz schwarzen, die keinen weißen Flecken haben.
Wir gingen einmal über die Boulevards, da kam uns ein Mann, eine Art Camelot, entgegen, der einen schönen, schwarzglänzenden Pudel an der Leine führte. Er sah mich pfiffig an, wie: Wollen Sie ihn? Ich fragte, wieviel er kosten solle. "Hundert Franken". Das war billig. "Fünfzig", sagte ich. "Voilà!" ich hatte ihn.
Schnell in eine Droschke. Der Pudel will zum Fenster hinaus, meine Frau hält ihn fest. Sie hatte gerade ein schönes neues Kleid an, meergrün-uni. Da der Hund ganz rebellisch war, hielt sie ihn während der Fahrt fest in den Armen. Zu Hause angekommen, sahen wir die Bescherung, das ganze Kleid war vorn schwarz; der Hund war schwarz gefärbt, er war keine fünfzig Franken wert. Die Räude hatte er auch noch, lange haben wir ihn gepflegt und behandelt, es half alles nichts, nach einem Jahr mußten wir ihn aufgeben. Er war ein liebenswürdiger, etwas unzuverlässiger Franzose. Als wir wieder in München waren, kam Hipp II. Oft hatte ich mir wieder einen Schnauzl gewünscht. An einem Geburtstagmorgen wurde mir ein runder Korb an das Bett gebracht, darin lag in einem Kranz etwas Blondes, Haariges. Ein kleiner Hund, ganz die Farbe wie Hipp I. Er rührt sich nicht, zittert nur leicht und sieht mich traurig an. Meine Frau hatte ihn den Tag vorher gekauft, und über Nacht war er an der Staupe erkrankt. "Ganz wie unser Hipp, bloß, daß er einen Schwanz hat." "Ohne habe ich keinen gefunden", sagte meine Frau. Er entwickelte sich als Lump und Landstreicher. Wenn ich ihn von der Leine losließ, war er fort. Dann kam er in der Nacht, wenn wir im tiefsten Schlaf waren, wir hörten ihn unten auf der Straße bellen. Es war ausgemacht: wer ihn fortgelassen hatte, mußte aus dem warmen Bett heraus und hinunter.
Dann stand er zitternd vor der Tür, kniff die Augen zusammen und wedelte. Strafen durfte man ihn nicht wegen des Lärmes, das wußte er; und am ändern Tag hatte es keinen Zweck mehr. Einmal stand er schwarz wie ein Schornsteinfeger unten, es hatte ihn jemand in eine Rußtonne geworfen, ich erkannte ihn erst an seinen Bewegungen. Futter nahm er bei uns nicht, und wenn es das beste war. Da bemerkten wir einmal, wie er in unserer Straße einige Häuser weiter auf dem Fahrdamm schön macht, bellt und starr den Blick nach oben haftet. Da wird ein Fenster aufgemacht, und ein Paket in Papier fliegt vor ihm nieder. Er faßt schnell zu und zieht einen großen Knochen heraus, mit dem er davonläuft.
Nun war das Rätsel gelöst. Eine Köchin fütterte ihn, sie warf täglich zu einer bestimmten Zeit sein Futter hinunter. Kurz nach dieser Entdeckung heiratete sie, ich schickte Hipp und ein Mädchen hinauf mit einem Blumenstrauß, und sie möchte ihn doch ihrer Nachfolgerin empfehlen. Er endete an den Folgen seines unsoliden Lebenswandels. Der nächste Hund, ein russischer Barsoi, war hocharistokratisch. Eine Hündin von wunderschönem Bau, wie ich selten einen Rassehund sah, aus dem Zwinger des Fürsten Scheremetjew in Moskau. Ein "spitzeter" Hund, wie die Straßenbuben sagten. Die Bauern in Dachau hielten ihn von weitem für ein "mageres Kalbl". Er war von einer mageren Eleganz, von einer herrlichen Linie, wenn er stand oder lag, am schönsten, wenn er neben dem Wagen oder Schlitten herjagte. Sein Innenleben war, wie bei allen derartigen Erscheinungen, nicht sehr ausgeprägt, er war nur äußerlich schön. Er biß mich einmal in ein Ohr. Das erzählte ich einem Russen, der ihn sehr bewunderte. "Famos, großartig!" rief er. "Das ist Rasse! Diese Hunde müssen bissig sein. In Rußland werden sie daraufhin geprüft. Alles, was nicht beißt, kommt ins Ausland, das taugt nichts. Sie haben einen echten, ich gratuliere." Er wurde sieben Jahre alt, dann starb er an der Zuckerkrankheit.
Nun kam mein liebster Hund: Jocky, der Naturbursch. Ein schöner Kollie von hellbrauner Farbe, dunkelbraunem Kopf, weißen Pfoten und weißer Schwanzspitze; ein guter Kerl, er ging nicht von meiner Seite, der richtige Schäferhund ohne die salonmäßige Verfeinerung, die man leider dieser Rasse heute anzüchtet.
Wenn wir drei Familienmitglieder auseinandergingen, umkreiste er uns und biß uns in das Hinterbein wie den Schafen; er betrachtete uns als seine Schafherde, er wollte uns zusammentreiben. Er war musikalisch; wenn mein Sohn Klavier spielte, spitzte er die Ohren und hörte zu, er war nicht wegzubringen. Er war neugierig; kam jemand zu uns und die Wohnungsglocke erklang, lief er an den Eingang; wenn er die Zimmerglocke hörte, die einen Ton tiefer war, blieb er liegen.
Von meinem Federzeichnen wollte er nichts wissen, sowie er die ersten Kratztöne hörte, warf er sich laut stöhnend auf den Fußboden, schlief sofort ein und schnarchte, bis ich mit Zeichnen aufhörte. Malte ich im Freien, sah er sich die Sache eine Weile an, dann fing er an zu bellen: Wir wollen lieber spazieren gehen, das ist schöner. Seine Leidenschaft war das Wasser. Beim Baden umschwamm er mich fortwährend und behütete mich; wenn ich tauchte, faßte er mich beim Genick und wollte mich retten. Als er starb, trauerte ich sehr; ich nahm mir vor: keinen mehr, die Trennung ist zu hart. —
Als unser Sohn gestorben war und wir einsam und unglücklich geworden waren, kam unsere Hausnäherin zu uns und fragte, ob wir nicht ihren Papagei übernehmen wollten, der nicht zu bändigen sei, er wäre so bös, daß er alles beiße, was er erreichen könnte. Er wäre noch sehr jung, ein Schiffsarzt hätte ihn mitgebracht, er sei schon bei verschiedenen Leuten gewesen, jeder verschenkte ihn weiter, weil er gar so bissig sei.
Ich sagte erst: "Nein, ich will kein Tier mehr haben." Da ließ mich einmal meine Frau aus dem Atelier holen, es sei Besuch da. Unten in einem Zimmer stand ein Käfig, darauf saß der Papagei in wunderschönen Farben, grünes Gefieder, dunkelblaue Flügelränder, gelber Kopf und oben als Krönung ein prachtvoller türkisblauer Fleck.
Als mich der Papagei sieht, wird er ganz aufgeregt; ich dachte, er sei zahm und lustig, er klettert an mir hoch, setzt sich auf die Schulter und, happ!, beißt mich derartig ins Ohr, daß das Blut herausläuft.
Ich behielt ihn, er war zu schön. Es dauerte lange, bis er zahm wurde; nach ein paar Jahren erst, aber dann wurde er mein bester Freund. Er sang ganze Lieder mit einer hübschen Stimme, die klang wie von einer sympathischen Frau, vielleicht hatte eine ihn das alles gelehrt. Er konnte lachen, lief dabei mit gehobenen Flügeln auf dem Käfig hin und her und rief dazwischen immer: was haste denn? was haste denn? Aus seinen Liedern machte er manchmal Potpourris, alles durcheinander, dann lachte er, als hätte er sich über mich lustig machen wollen. Immer war er in meiner Nähe; wenn ich zeichnete, saß er auf meiner Schulter und nickte nur ein wenig ein. Er hatte Lieblingsbilder; wenn ich sie aufstellte, kletterte er an der Staffelei hinten hinauf, setzte sich auf den Rahmen und beäugte das Bild von oben. Er hatte sich so an mich gewöhnt, daß er den ganzen Tag schrie, wenn ich einmal verreist war; wenn ich einmal länger ausgeblieben wäre, wäre er sicher verhungert. Ich hätte nie gedacht, daß ein Tier eine solche Anhänglichkeit haben könnte; das übertraf noch die Hunde. Wir liebten ihn sehr und sagten oft: "Wenn wir ihn nur nicht verlieren." Ich hatte ihm eine Mundharmonika mitgebracht; im Winter, wenn er traurig war, spielte ich ihm darauf ein Stündchen vor, das war seine größte Freude. Abends, wenn ich seinen Käfig zudeckte, blies ich ihm sein Gutenachtlied. Besuch in meinem Atelier regte ihn immer auf, sofort zeigte er Freude oder Ärger darüber. Besondere Sympathie äußerte er für alte, häßliche Frauen, Waschweiber und Zugeherinnen in ihren Arbeitskleidern; wenn sie mit kosenden Worten an seinen Käfig traten, plusterte er sich auf, lief jauchzend im Kreise herum oder hängte sich an sie und scherzte mit ihnen. Vielleicht hatte er einmal ein solches altes Weib zur Herrin oder Freundin.
Bei gewissen Besuchern wurde er ganz wild vor Zorn, sie konnten ihm noch so schön tun. Einem eleganten weiblichen Modell, das zärtlich mit ihm sein wollte, hüpfte er auf den pompösen neuen Hut und fuhr in die prachtvolle Rosengarnitur, die er wütend zerpflückte. Gespräche hörte er gern und beteiligte sich daran; wurde gelacht, lachte er mit, dauerten sie aber länger und waren ernst, so fing er an, sich zu langweilen und äußerte sein Mißfallen durch einzelne Worte oder kurze Sätze, die ihm gerade einfielen, die aber einen solchen Ton hatten wie: Hört nun mal auf.
Ein bekannter Münchner Arzt erklärte mir einmal sein neues philosophisches System, über welches er ein Buch schreiben wollte. Lori horchte auf, dann fing er an: "Was hoste denn? — Was willste denn? — Na so was." Das ging so eine Weile fort, der Herr wurde schon nervös.
Dann, als der Redefluß weiter ging, rief Lori plötzlich laut: "Adje—eh! Adje—eh! Adje—eh!", so daß der Philosoph mit wütendem Blick auf ihn, tief gekränkt, wirklich davonging, ohne seinen Vortrag zu beenden. —
Wir nahmen ihn oft in seinem kleinen Käfig, in dem er aus einem Tropenland zu uns gekommen war, mit hinaus in die Natur. Da flog er in die Bäume und vergnügte sich, bis er müde war; dann kam er herab auf einen Zweig und setzte sich auf die Krücke meines Stockes. Wenn er sich verflog, blieb er ruhig sitzen, er wußte, ich holte ihn. An einem schönen Aprilsonntag nahm ihn meine Frau mit hinaus in die Innlandschaft.
Er war so glücklich an diesem ersten warmen Frühlingstage, er spielte auf der Erde mit Steinchen, zupfte Grashalme und stieß Freudenjauchzer aus. Als er müde wurde, nahm ihn meine Frau in den Reisekasten und trug ihn bis zum nächsten Ort. In der Wirtschaft wollte sie Kaffee trinken, da sie aber überfüllt war, ging sie bis zum nächsten Dorf. Dort scholl ihr Juhugeschrei entgegen, die jungen Leute tanzten nach der Mundharmonika.
Sie setzt sich an einen Tisch und wartet auf die Bedienung. Sie war ohne Hut und hatte eine scharlachrote Jacke unter dem Mantel an. Da kommt ein junger Bursch heran und fragt, ob der Papagei Antwort auf Fragen gibt. Meine Frau geht auf den Scherz ein: "Jawohl, wenn er ja sagt, ist es ja, wenn er nichts sagt, ist es nein."
Darauf ruft der Bursch die Mädchen heran, die nun allerhand Fragen stellen; Lori sagt: "Ja, ja", manchmal nichts. Dann fragt der Bursch: "Frau Madamm, zieht er keine Brieferl?" — "Ich habe keine bei mir." Nun machte er den Ausrufer: "Heran, meine Herrschaften, jede Frage kostet eine Mark." Da flogen die Markscheine nur so. Dann setzte meine Frau Lori auf die Ofenstange. Da war es gemütlich warm, und er fing an laut zu singen und zu lachen, namentlich als die Mundharmonika wieder gespielt wurde; auch wollte er das Geschrei der Bauern übertönen. Da gab es ein großes Gelächter. Der junge Bursch, ein Feldzugssoldat, kommt zu meiner Frau und fragt: "Frau Madamm, i hab' Sie doch schon gesehen, irgendwo, i mein' allweil in Rumänien."
"Kann schon sein, wir kommen überall herum." Große Freude des Bauernburschen. Nun lud er meine Frau ein, nächsten Mittwoch zu einer Bauernhochzeit in der Nähe zu kommen; er verspricht ihr, daß sie ein gutes Geschäft macht; er läßt sie auch mit dem Wagen abholen. Sie sagte: "Da bin ich schon weiter."
Als sie zahlen will, wehrt die Kellnerin ab: "Ja, dös zahlen doch die Burschen."
Meine Frau mußte nun die ihr aufgedrungene Rolle weiterspielen. Der Bursch kam und fragte, wo ihr Wagen stehe. "Bei St." — "Da fahre ich Sie hin, Frau Madamm." — "Nein, ich danke, ich muß noch herum und Geld verdienen." Das war Loris letzter Freudentag. Einige Tage darauf kam ein Witterungsumschlag, und er wurde krank; wir sahen, es war gefährlich. Er war unruhig und wollte immer auf meiner Schulter sitzen, er hielt das Köpfchen nach unten, daß ich ihn krauen sollte. Er bekam die rote Ruhr. Eine Nacht überstand er, am nächsten Abend war er schon so schwach, daß er sich kaum mehr aufrecht halten konnte.
Wir setzten ihn in den Käfig, den ich wie gewöhnlich zudeckte. Nach einigen Minuten hörten wir, wie er fiel. Wir nahmen ihn, er kauerte in den Armen meiner Frau, er wurde schon kalt. Ich pfiff ihm sein Lieblingslied vor, es wurde mir sehr schwer. Er gab noch, wie immer, dankbare Schnurrtöne von sich.
Ich wollte ihn zu mir nehmen. Er sah mich starr an, flatterte mit den Flügeln, ein Ruck ging durch seinen Körper, und er fiel leblos auf den Tisch.
Wir hatten ihn acht Jahre; als wir ihn bekamen, war er drei Jahre alt. Er war ein großer Trost für uns. Den nächsten Tag trug ich ihn in einer Zigarrenkiste hinaus in den Wald und begrub ihn. Es war ein kalter, trüber Apriltag. Als ich sein letztes Ruheplätzchen gegraben hatte, legte ich ihn noch einmal auf die vertrockneten Blätter. Seine Farben wirkten in dieser Umgebung so stark und so fremdartig; und er hatte einen so liebenswürdigen Ausdruck, als wenn er lächelte. Es war, als wollte er sagen: Gräm dich nicht so! daß ich stark ergriffen wurde.
Er lag da wie ein Prinz aus Märchenland, der in unsern grauen Norden verwünscht worden war und nun Abschied nahm.

Wasserburg am Inn  

So lebe ich nun hier in Wasserburg. Seit fünf Jahren bin ich nicht mehr Illustrator, an meinem einundsechzigsten Geburtstag wurde ich ausschließlich Maler.
Ein wenig spät, wird man meinen. Ich finde es nicht, denn mir ist zumute, als finge ich die Kunst erst an. Wird man darin jemals alt, wenn man noch frische Augen und ein fühlendes Herz hat? All diese langen Jahre, die schon im blauen Dunst der Vergangenheit liegen, waren sie nicht nur eine Vorbereitung und muß nicht nun die Vollendung kommen? Immer hofft der Künstler, deshalb wird er nicht alt, immer strebt er, deshalb nimmt es mit ihm kein Ende.
Und die Großen vor uns, die Größten von allen: Rembrandt, unser leuchtendster Stern, wurde er jemals alt, schuf er nicht am Ende seines Lebens seine schönsten Werke?
Tizian, der herrliche; mit einundachtzig Jahren malte er seine "Geißelung Christi", die man in der alten Pinakothek in München sehen kann; war er ein Greis, als er das malte? Und Frans Hals mit seinen achtzig Jahren, als er sein einziges "Altmännerhaus" schuf? Da vergeht die beliebte Theorie, daß der Meister sein Bestes in den Jugendjahren gebe. Delacroix sagte: "Als ich sechzig Jahre alt wurde und meine Zähne ausgefallen waren, fing ich an zu arbeiten." Darin liegt ein tiefer Sinn. —
Mein Atelier in München ist vergessen, ich habe es jetzt draußen in der Natur. Nur wenn das Wetter schlecht ist, male ich in einem großen Raum, den mir die liebenswürdige "Feuerschützen-Gesellschaft" zur Verfügung gestellt hat. Ihre Schießstätte liegt jenseits der Stadt am Inn im Grünen. An meinem offenen Fenster rauscht der Fluß vorbei; drüben, am ändern Ufer, sehe ich die alten gotischen Häuser, italienisch wie in Verona.
Dahinter liegt, einer Bruthenne gleich, die im Nest kauert, die Jakobskirche, der Dom der Stadt.
Links ragt die uralte Burg auf, drinnen ist es aber nicht still; von Zeit zu Zeit horche ich auf, da höre ich einen Kinderchor; hier ist eine Erziehungsanstalt des Staats untergebracht. Wie schön klingt das über dem Wasser, wenn ein ruhiger Sommertag auf die Stadt leuchtet. Dann kommen andere Töne. In einem alten Haus bläst am Fenster einer ein großes Waldhorn, das gelbe Glanzlicht darauf sehe ich blitzen; der Fluß trägt die melancholische alte Melodie langgezogen hinaus in das Weite. Rechts stößt eine alte, gotisch wirkende Holzbrücke in die Häuserfront, sie ist mit tiefem Rot gestrichen; das steht so schön gegen die verblichenen Farben der Häuser und das Gelb der Leiten im Hintergrunde, wo der Inn sich wendet und durch seine Schleife die alte Stadt zur Halbinsel macht. Diese sandigen Hochufer sind der malerische Glanzpunkt der Stadt. Die Leiten, wie man sie hier nennt, umrahmen den Ort und geben ihm etwas Phantastisches. Sie sind in der Regel, wenn sie trocken sind, hellgelb, wechseln aber ihre Farbe je nach Beleuchtung und Jahreszeit, dadurch entstehen immer neue Bilder. Sie sind es hauptsächlich, die mich bestimmten, hierherzuziehen, denn sie erinnern ein wenig an die Dünen in Flandern und unterbrechen so schön die grüne Landschaft.
Der breite Fluß, einem Strome gleich, der sich in einem großartigen Bogen durch diese zackigen Hügel seinen Weg bahnt, ist unbeschreiblich schön. Von den Höhen sieht man das Städtchen unten, eng eingebettet, die Häuser mit flachen Dächern, nur die dominierenden unter ihnen durften im Mittelalter mit einem Giebeldach versehen werden: das Rathaus, die Kirchen und der Pfarrhof; symbolisch deutet es die Macht an, welche damals herrschte.
Hier bin ich mit meiner Frau allein. Vieles haben wir gelassen, aber wir sind glücklich, denn ich arbeite. Bild reiht sich an Bild, und wenn einmal die Zeit besser wird, werden wir sie einrahmen und ausstellen.
Von der Kunst draußen sehe ich nichts mehr und höre auch nicht viel davon.
Früher besuchte mich noch manchmal ein Freund, aber das hörte fast ganz auf, denn die Reise hierher ist beschwerlich. Und wie wahr ist das Wort: Wer sich der Einsamkeit ergibt, ach, der ist bald allein.
In den vielen einsamen Stunden schrieb ich dieses Buch. Keine Offenbarungen über Kunst sind es, die soll der Maler mit dem Pinsel malen; es ist eine einfache Künstlergeschichte, wie sie oft erlebt wird.
Schwer ist oft im Anfang der Weg, leidenschaftliche Liebe zur Kunst und viel Kraft gehören dazu, nicht zu erlahmen. Viele müssen sich durchkämpfen, manche noch viel härter als ich. Auch für diese Echten und Starken schrieb ich meine Lebensgeschichte; möge sie dazu beitragen, Verständnis und Teilnahme für sie zu wecken.